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Leseprobe Miriam im Sternschnuppenjahr

Leseprobe Miriam im Sternschnuppenjahr Autorin Christine Auer

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1.<br />

Das Erste, das Miri an Max auffiel, waren seine Cowboystiefel.<br />

Nämlich exakt drei Sekunden, nachdem sie gestolpert<br />

war, und zwei Sekunden, bevor sie sie vollkotzte. Was<br />

nicht an den Stiefeln lag, sondern am Wodka Lemon.<br />

Miri fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund<br />

und zog sich langsam an dem fremden Hosenbein hoch.<br />

Irgendetwas sollte sie jetzt wohl sagen.<br />

Eine Entschuldigung? Einen witzigen Spruch?<br />

So gut es ging, straffte sie ihre Schultern und nuschelte:<br />

„Ups.“<br />

Er starrte sie an. Dann wanderte sein Blick langsam zu<br />

seinen Stiefeln.<br />

Miri fiel nichts ein, was sie noch hätte sagen können.<br />

Sie drehte sich um, wischte sich die Haarsträhnen aus<br />

den Augen und schwankte in Richtung Toilette.<br />

„He!“, rief er ihr nach.<br />

Mist! Gleich würde der Typ ihr nachlaufen.<br />

In einem atemberaubenden Zick-Zack-Kurs stolperte<br />

Miri über den Holzboden auf die Toilettentür zu und<br />

schmiss sich mit voller Wucht dagegen. Als die Tür hinter<br />

ihr zufiel, hörte sie ihn draußen sch<strong>im</strong>pfen. „Das darf<br />

doch nicht wahr sein! Wie bist du denn drauf?“<br />

Miri ging zum Waschbecken und hielt ihre Hände unter<br />

das kalte Wasser. Sie spritzte sich das Gesicht nass und<br />

spülte den Mund aus. Das dumpfe Pochen in ihren Ohren<br />

wurde leiser, und der Fußboden hörte endlich auf, Wellen<br />

5


zu schlagen. Den Kopf an die kühlen Fliesen gelehnt,<br />

rutschte sie die Wand hinunter zu Boden.<br />

Das hast du wieder einmal super hingekriegt, Miri!<br />

Warum hatte sie sich nur von Amelie überreden lassen<br />

mitzukommen?<br />

<strong>Miriam</strong> Klein auf einer Vernissage! Das war von Anfang<br />

an eine Schnapsidee gewesen.<br />

Sie umklammerte ihre angewinkelten Knie und schloss<br />

die Augen. Wie in Stroboskoplicht getaucht blitzten die<br />

Erinnerungen an die letzten Stunden vor ihr auf.<br />

Amelie, die ihre langen graumelierten Haare vor dem<br />

großen Spiegel <strong>im</strong> Vorz<strong>im</strong>mer zu einem Knoten steckt.<br />

Miri, die widerwillig die ausgetretenen Sportschuhe ausund<br />

die eleganten schwarzen Ballerinas anzieht. Amelie<br />

und Miri auf dem Kiesweg durch den kleinen Park. Der<br />

filigrane Schatten, den die Holzschnitzereien des kleinen<br />

Pavillons auf den Weg zaubern. Die Burgruine, die dunkel<br />

und bedrohlich vom Felsen herunterblickt. Die dicken<br />

Mauern des alten Klosters, in dem sich nun das Kulturzentrum<br />

befindet. Der helle Lichtschein, der sie be<strong>im</strong> Betreten<br />

des Saales blendet, so dass sie ihre Augen zukneift.<br />

Helga, die Obfrau des Kulturvereins, in einem grellbunten<br />

Kleid und mit einer durch Haarspray fest an den Kopf<br />

betonierten Hochsteckfrisur. Verzweifelt auf der Suche<br />

nach den Gemüseröllchen.<br />

Amelie, die sagt, sie sei gleich wieder da und mit Helga<br />

weggeht. Miri, alleine zwischen den Einwohnern von<br />

Schachenstein, die sie alle zu mustern scheinen. Getuschel<br />

hinter vorgehaltenen Händen.<br />

Das riesige Foto einer Melone, die einen kleinen<br />

schwarzen Hut und eine Fliegerbrille trägt. Eine Melone<br />

mit einer Melone. Dahinter ein roter H<strong>im</strong>mel, auf dem<br />

sich ein Gewitter zusammenbraut.<br />

Das hellgraue Sofa, das in einer Ecke steht und Miri<br />

durch den ganzen Raum hinweg wie eine Rettungsinsel<br />

in stürmischer See entgegenleuchtet. Sie selber in den<br />

weichen Sofakissen mit einem Wodka Lemon in der<br />

Hand. Der Kellner, der <strong>im</strong>mer wieder mit einem freundlichen<br />

Lächeln ihr leeres Glas gegen ein volles tauscht.<br />

Ihre Hand, die sich mühsam an der Sofalehne anhält, um<br />

sich hochzuziehen. Eine wacklige Miri auf der Suche nach<br />

Amelie. Und schließlich diese unheilvollen Cowboystiefel<br />

in Großaufnahme.<br />

Miri schrumpfte noch mehr zusammen und legte die<br />

Stirn auf die Knie.<br />

Plötzlich wurde die Toilettentür mit Schwung aufgerissen.<br />

Miri zuckte zusammen. Das war best<strong>im</strong>mt dieser<br />

Stiefeltyp! Sie wollte sich hochrappeln, um in eine der<br />

Kabinen zu flüchten, als sie Amelies St<strong>im</strong>me erkannte.<br />

„Hier bist du also. Ich hab dich schon gesucht.“ Als<br />

sie Miri sah, verzog sie missbilligend den Mund. Über<br />

Miris blasse Wangen zogen sich schwarze W<strong>im</strong>perntuscheschlieren,<br />

die braunen Stirnfransen klebten an ihrem<br />

Kopf und ihr T-Shirt war mit Wasserspritzern überzogen.<br />

„<strong>Miriam</strong> Klein! Wie siehst du denn aus? Was ist passiert?“<br />

„Wodka Lemon.“<br />

6<br />

7


„Das ist nicht dein Ernst! Steh auf. Wir gehen nach<br />

Hause.“<br />

Miri murmelte: „Das geht nicht. Ich kann hier erst<br />

wieder raus, wenn alle weg sind.“<br />

Amelie hielt ihr ein feuchtes Papiertuch hin und legte<br />

tröstend die Hand auf Miris Knie. „Mach dir keine Sorgen.<br />

So schl<strong>im</strong>m siehst du nicht aus. Niemand wird etwas<br />

merken.“<br />

Miri betrachtete die faltige Hand mit den dunklen<br />

Pigmentflecken. Wie kleine Sandinseln in einem weißen<br />

Meer, dachte sie.<br />

„Direkt vor der Tür steht der junge Mann, der ein paar<br />

von den Fotos hier gemacht hat.“ Amelie zog Miri langsam<br />

hoch. „Der hat nur rote Socken an und trägt seine<br />

Stiefel in einer Plastiktüte herum. Du musst dir also keine<br />

Sorgen machen, dass DU auffällst.“<br />

„Cowboystiefel?“<br />

„Schon möglich.“<br />

„Direkt vor der Tür?“<br />

„Ja.“<br />

Miri legte sich das feuchte Papiertuch über die Augen<br />

und seufzte.<br />

Mist! Er war einer der Künstler.<br />

In roten Socken – auf seiner eigenen Vernissage!<br />

Und sie war schuld. Und alles, was sie zu ihm gesagt<br />

hatte, war ups.<br />

„Oma, ich muss dir was erzählen“, murmelte Miri.<br />

Normalerweise nannte sie ihre Großmutter be<strong>im</strong> Vornamen,<br />

weil die sich sonst „alt und runzlig“ fühlte. Doch in<br />

dieser verzwickten Situation konnte es nicht schaden, an<br />

die gütigen Gefühle einer Oma zu appellieren.<br />

Als Miri mit ihrer Geschichte fertig war, legte sich Stille<br />

über den Waschraum. Nur fernes Gläserklirren und leises<br />

St<strong>im</strong>mengewirr waren von draußen zu hören.<br />

Und dann prustete Amelie los.<br />

„Das ist überhaupt nicht lustig!“, nuschelte Miri beleidigt.<br />

„Doch, Süße, das ist unglaublich lustig!“ Amelie<br />

fächelte sich Luft zu. Dann wurde sie wieder ernst. „Du<br />

musst dich bei ihm entschuldigen.“<br />

Miri schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht.“<br />

„<strong>Miriam</strong> Klein!“, sagte Amelie streng.<br />

„Kannst du nicht vielleicht? Bitte!“ Miri setzte ihren<br />

„Ich-hab-dich-so-lieb-und-werde-dir-ewig-dankbar-sein-<br />

Blick“ auf. Sie wusste, dass ihre Großmutter diesem Blick<br />

nicht widerstehen konnte.<br />

Mit einem Seufzer erhob sich Amelie und ging nach<br />

draußen. Miri hörte dumpfe St<strong>im</strong>men und dann lautes<br />

Gelächter.<br />

Macht euch nur über mich lustig, dachte sie.<br />

Kurze Zeit später kam ihre Großmutter wieder zurück.<br />

„Na los, du Schnapsdrossel.“<br />

Miri kaute nervös an ihrer Unterlippe.<br />

„Keine Sorge, du wirst ihm nicht begegnen. Er ist weg.“<br />

Am nächsten Morgen schreckte ein lautes Klingeln Miri<br />

aus dem Schlaf. Sie fuhr hoch, nur um sich gleich wieder<br />

mit einem Stöhnen aufs Kissen fallen zu lassen. Ein<br />

8<br />

9


grelles Feuerwerk explodierte in ihrem Kopf. Vorsichtig<br />

öffnete sie die Augen.<br />

Das große, bemalte und mit Büchern vollgestopfte<br />

Regal, die noch nicht ausgepackten Umzugskisten, der<br />

mit Zetteln bedeckte Schreibtisch, die leeren weißen<br />

Wände und das Teleskop, das unter Omas rosafarbenen<br />

Rüschenvorhängen hervorblitzte, zogen in langsamen<br />

Schaukelbewegungen an ihr vorbei.<br />

Dort! Auf dem Nachtkästchen stand ein Wecker.<br />

Der war doch gestern noch nicht da gewesen?!<br />

Miri warf ein Kissen nach ihm, woraufhin er mit einem<br />

Ping auf den Boden fiel und verstummte. Ein kleiner<br />

Zettel segelte ebenfalls durch die Luft. Sie beugte sich<br />

vor, um ihn aufzuheben. In Amelies sorgfältiger Schrift<br />

stand darauf geschrieben:<br />

Guten Morgen, du Schlafmütze!<br />

Wer trinken kann, kann auch aufstehen! Ich fahre jetzt<br />

zu der Vorbesprechung für das Herbstfest. In der Küche<br />

stehen frische Muffins. Freue mich schon auf unser<br />

Gespräch …<br />

Kuss, A.<br />

Na toll!<br />

Miri wickelte sich wieder in die Decke, steckte den<br />

Kopf unter das Kissen und schwebte zurück in einen<br />

ruhelosen Traum.<br />

Gemeinsam mit dem süßen Sänger der Band, die sie<br />

neulich <strong>im</strong> Fernsehen gesehen hatte, betrachtete sie ein<br />

riesiges Foto von einem Kürbis, auf dem ein einzelner<br />

Cowboystiefel stand. Gerade als sich der Sängertyp zu<br />

ihr hinüberbeugen wollte, kam der junge Fotograf von<br />

gestern in den Raum gestolpert. Er trug Boxershorts und<br />

einen roten Socken. Den anderen schwenkte er mit einem<br />

lauten Yee-haw über seinem Kopf. Er kam geradewegs auf<br />

sie zugestürmt und lallte: „Wodka Lemon!“ Miri versuchte<br />

in den nächsten Raum zu gehen, aber ihre Füße klebten<br />

am Parkettboden fest. Bei jedem Versuch, die Füße<br />

hochzuheben, bogen sich die Holzbretter wie Gummischnüre<br />

in die Höhe. Der Fotograf kam <strong>im</strong>mer näher.<br />

Dann zeigte er mit der rotbesockten Hand auf Miri und<br />

rief mit schriller St<strong>im</strong>me: „Miri! Miiiiri! Miriiii! Schläfst<br />

du etwa noch?“<br />

Miris Herz begann wie wild zu hämmern. Ihre Wange<br />

fühlte sich kalt und nass an. Mit der Hand wischte sie<br />

etwas Spucke weg, die aus ihrem offenen Mund auf das<br />

Kissen getropft war.<br />

„Guten Morgen, Schlafmütze. Hat mein Wecker überlebt?“<br />

Miri öffnete ein Auge und sah Amelie lächelnd in der<br />

offenen Z<strong>im</strong>mertür stehen.<br />

Zur Begrüßung grunzte Miri etwas, das mit ein bisschen<br />

Fantasie nach „von wegen guter Morgen“ klang.<br />

Es hätte aber genauso gut „verlegen, ohne Sorgen“ oder<br />

„trun Segen schnuter borgen“ heißen können.<br />

Vorsichtig setzte sie sich auf.<br />

Amelie warf ihrer Enkelin einen amüsierten Blick zu<br />

und sagte: „Jaja, der Kater am Tag danach ist wirklich<br />

nicht schön. Trotzdem solltest du aufstehen und etwas<br />

trinken und essen.“<br />

10<br />

11


In Zeitlupentempo streckte Miri die Füße aus dem Bett<br />

und schaute ihrer Oma nach, die mit wehendem Rock<br />

wieder <strong>im</strong> Flur verschwand. Langsam schlurfte Miri ins<br />

Badez<strong>im</strong>mer. Sie drehte das kalte Wasser auf und hielt<br />

das Gesicht unter den Strahl. Wasserfontänen spritzten<br />

in alle Richtungen. In den Fliesenfugen des Fußbodens<br />

bildeten sich kleine Wasserstraßen und versickerten <strong>im</strong><br />

flauschigen Teppich. Ihrem Körper war noch nicht nach<br />

Bücken und Aufwischen, also tapste sie quer durch die<br />

Wasserpfützen.<br />

Miri meisterte die enge Holztreppe ins Erdgeschoss<br />

und folgte den Klavierklängen, die aus der Küchentür<br />

strömten.<br />

Amelie stand an der Kücheninsel. Vor sich ein wildes<br />

Durcheinander von Schüsseln, Töpfen, Ölflaschen und<br />

frischen Kräutern. Als sie Miri bemerkte, lächelte sie.<br />

„Tschaikowski, das erste Klavierkonzert. Wunderschön,<br />

nicht wahr?“<br />

Mit einem Seufzen griff sich Miri an die Stirn. Jede<br />

neu angeschlagene Klaviertaste ließ einen <strong>im</strong>aginären<br />

Hammer auf ihren Kopf niedersausen.<br />

Zwinkernd wischte sich Amelie die Hände trocken und<br />

drehte den CD-Player leiser. „Ich habe ganz vergessen,<br />

dass dein Körper noch damit beschäftigt ist, den Restalkohol<br />

von gestern abzubauen.“<br />

Miri runzelte die Stirn. Machte sich Oma gerade über<br />

sie lustig? Doch sie hatte keine Gelegenheit, darüber<br />

nachzudenken, denn Amelie hielt ihr einen Löffel unter<br />

die Nase, auf dem eine dunkle Flüssigkeit hin und her<br />

waberte. „Diese Sauce musst du probieren! Ich nenne sie<br />

‚Sauce Surprise’.“<br />

Miri starrte auf den Löffel und spürte, wie sich ihr<br />

Magen zusammenkrampfte. Sie murmelte: „Nein, danke“<br />

und ließ sich auf einen Küchensessel plumpsen.<br />

Amelie stellte ein großes Glas vor ihrer Enkelin auf den<br />

Tisch. „Probier mal. Das ist mein Spezial-Kater-Getränk.“<br />

Miri nippte vorsichtig daran. Das Gebräu war gar nicht<br />

so schlecht! Verlegen starrte sie auf die Tischplatte. „Es<br />

tut mir leid.“<br />

„Ach, Miri“, Amelie schlang die Arme um ihre Enkelin<br />

und drückte sie fest an sich. Miris Gesicht verschwand<br />

wie in einem großen Daunendeckenberg in ihrer wogenden<br />

Oberweite.<br />

„Ich … bekomme … keine … Luft …, Oma“, flüsterte sie.<br />

Ihre Großmutter drückte ihr einen Kuss aufs Haar und<br />

lockerte die Umarmung.<br />

In diesem Moment klingelte das Telefon und Amelie<br />

eilte ins Vorz<strong>im</strong>mer.<br />

Als sie zurückkam, sagte sie: „Das war Helga! Wir sind<br />

gestern so schnell von der Vernissage aufgebrochen, dass<br />

ich meine Tabletts und Schüsseln vergessen habe. Ich<br />

fahre schnell noch einmal rüber.“ Seufzend löste sie die<br />

Bänder ihrer Schürze.<br />

Miri rutschte auf ihrem Sessel hin und her. „Soll ich<br />

für dich hinfahren?“<br />

Amelie hielt inne und lächelte sie an. „Wenn du das tun<br />

würdest, wäre das großartig. Dann könnte ich weiter an<br />

dem neuen Rezept für die Feier der Rubensteins herum-<br />

12<br />

13


tüfteln. Danke, Miri. Du musst aber gleich fahren. Helga<br />

wartet noch auf ihren Sohn, der sie abholt, und fährt dann<br />

auch nach Hause.“<br />

Miri knabberte an ihrem Zeigefinger. „Oma, da ist<br />

noch etwas … bitte erzähle Mama und Papa nichts vom<br />

gestrigen Abend …“<br />

„Also ich weiß nicht, Miri. Ich soll sie anlügen?“<br />

„Nein, du sollst nur einfach den Wodka Lemon und alles<br />

andere nicht erwähnen. Bitte! Ich verspreche, so etwas<br />

kommt nicht wieder vor.“<br />

Amelies Stirn überzog sich mit einem Netz aus Falten.<br />

Schließlich nickte sie: „Na gut. Aber wenn dieses Jahr mit<br />

uns beiden funktionieren soll, dann muss ich mich auf<br />

dich verlassen können. Solange deine Eltern in Amerika<br />

sind, habe ich die Verantwortung für dich und dafür, dass<br />

du einen ordentlichen Schulabschluss schaffst.“<br />

Miri verdrehte die Augen. „Was hat denn die Schule<br />

damit zu tun?“<br />

Amelie drückte ihr noch einen Kuss auf die Stirn. „Deswegen<br />

bist du doch hiergeblieben, oder?“<br />

Miri seufzte. „Also? Bleibt der Abend gestern unter<br />

uns?“<br />

Die kühle Hand ihrer Oma strich über ihre Wange.<br />

„Gut, aber nur unter einer Bedingung. Du musst dich<br />

bei dem Jungen entschuldigen. Das ist ja wirklich dumm<br />

gelaufen! Ausgerechnet bei seiner ersten Ausstellung<br />

muss so etwas passieren!“<br />

Miri schluckte: „Okay, ich werde mich entschuldigen.“<br />

„Moment, ich bin noch nicht fertig. Ich werde ihn bitten,<br />

für meinen Party-Service ein paar Fotos zu machen.<br />

Er hat wirklich Talent und best<strong>im</strong>mt einige gute Ideen.<br />

Ich muss mich anpassen und endlich eine Homepage<br />

machen. Sogar Annelies hat schon eine Seite <strong>im</strong> Internet<br />

für ihr Handarbeitsgeschäft.“<br />

Amelie strich sich eine Haarsträhne aus den Augen.<br />

„Du brauchst gar nicht so mit den Augen zu rollen,<br />

<strong>Miriam</strong> Klein! Ich möchte nämlich, dass du ihm dabei<br />

hilfst.“<br />

Miris Wangen begannen rot zu glühen wie Sanddünen<br />

<strong>im</strong> Sonnenuntergang. „Das ist nicht dein Ernst, Oma?!“<br />

„Das ist mein voller Ernst! Du schreibst wunderschöne<br />

Texte und ich bin sicher, ihr bekommt das gemeinsam<br />

toll hin. Außerdem möchte ich, dass du selber diese peinliche<br />

Sache wieder gut machst. Wenn du möchtest, dass<br />

ich dich wie eine Erwachsene behandle, musst du auch<br />

für deine Handlungen die Konsequenzen übernehmen.“<br />

„Oma, bitte! Ich kann doch nicht mit diesem Typen<br />

zusammenarbeiten. Ich habe ihm auf die Stiefel gekotzt!“<br />

„Eben deswegen! Also, abgemacht?“<br />

Miri kaute an ihrem Zeigefinger. Nach einer Weile<br />

murmelte sie: „Von mir aus.“<br />

„Na gut, dann also Schwamm drüber!“ Amelie band<br />

sich die Schürze wieder fest um den Bauch und kicherte<br />

leise vor sich hin: „Das ist fast wie damals auf dem Stones-<br />

Konzert.“<br />

Oma auf einem Konzert der Rolling Stones? Den<br />

Blick erwartungsvoll auf Amelie gerichtet, ließ sich Miri<br />

zurück auf den Sessel plumpsen. Doch ihre Großmutter<br />

14<br />

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scheuchte sie sofort wieder hoch. „Vergiss es gleich wieder.<br />

Da gibt es nichts zu erzählen. Du musst los, Helga<br />

wartet.“<br />

Miri stand auf und schnappte sich ihre Jacke.<br />

„Na gut, bis später!“<br />

„Miri, warte! Du hast noch deinen Pyjama an!“, rief<br />

Amelie ihr nach, doch Miri hatte die Tür bereits zugeschlagen.<br />

Miri atmete tief durch. Sie spürte, wie sich ihre Lunge<br />

mit Sauerstoff füllte und das Dröhnen <strong>im</strong> Kopf leiser<br />

wurde.<br />

Nie wieder Wodka Lemon!<br />

Sie holte das schwere Lastenfahrrad aus dem Schuppen,<br />

schob es zur Straße und schwang sich mit einem<br />

Seufzer auf den Sattel. Schwerfällig setzte sich das Rad in<br />

Bewegung. Die große hellgrüne Box vor dem Lenker mit<br />

der Aufschrift Augenschmaus & Gaumenfreude begann<br />

leicht zu schwanken. Seitlich war noch vermerkt: Essen<br />

ist ein Bedürfnis, Genießen eine Kunst.<br />

Langsam fuhr Miri die leicht abfallende Straße entlang.<br />

Vorbei an einer Reihe pastellfarbener Häuser<br />

mit geschnitzten Holzbalkonen. Wie die Glieder einer<br />

Zuckerlkette schmiegten sie sich aneinander. Die Hecken<br />

waren ordentlich geschnitten und in den Vorgärten wuchsen<br />

Blumen in kunstvoll arrangierten Beeten.<br />

Schachenstein. Ein verschlafener, freundlicher Ort, der<br />

einen mit der Zeit vermutlich auch erdrücken konnte.<br />

Wie würde es sein, hier zu leben? Die Leute aus dem Ort<br />

tuschelten jetzt schon darüber, dass ihre Eltern einfach<br />

nach Amerika gegangen waren. Für ein Jahr! Und das<br />

arme kleine Kind – also Miri – hatten sie alleine bei der<br />

Oma zurückgelassen. Wenn die wüssten, dachte Miri<br />

bitter. Es war ganz allein meine Entscheidung. ICH wollte<br />

nicht mit. Wenn es nach Mama gegangen wäre, säße ich<br />

jetzt in Kalifornien, mit meinen streitenden Eltern, und<br />

dürfte mich als Vermittlerin betätigen, so wie die letzten<br />

Wochen vor ihrer Abreise. Nein danke!<br />

Eine Windböe blies ihr kalt ins Gesicht. Trotzdem, ein<br />

Jahr ist eine verdammt lange Zeit.<br />

Kleine Steine spritzten in alle Richtungen, als sie in<br />

den Kiesweg bog, der zum Kulturzentrum führte. Ihre<br />

Gedanken wanderten zum gestrigen Abend zurück.<br />

Von den Fotos hatte sie nicht viel gesehen. Vielleicht<br />

konnte sie noch eine schnelle Runde durch die Ausstellung<br />

machen. Welche Bilder dieser Typ wohl gemacht<br />

hatte?<br />

Miri bremste ab.<br />

Was ist, wenn er dort ist?<br />

Sie atmete tief durch.<br />

Warum sollte er heute schon wieder da sein? Best<strong>im</strong>mt<br />

saß er gemütlich zu Hause und erzählte allen, die es<br />

hören wollen, die Geschichte von der Verrückten auf<br />

seiner Ausstellung.<br />

Seufzend trat sie wieder in die Pedale.<br />

Die Türen des Kulturzentrums standen weit offen und<br />

Helga lief geschäftig hin und her. Als sie Miri sah, rückte<br />

sie die Brille zurecht und musterte sie von oben bis<br />

16<br />

17


unten. „Die Sachen für deine Oma stehen drüben bei<br />

der Küche.“<br />

Langsam schlenderte Miri durch den Raum und<br />

betrachtete die Fotos an den Wänden.<br />

„Brauchst du Hilfe?“, rief Helga und klapperte mit dem<br />

Schlüsselbund.<br />

Miri hörte, wie sich Schritte näherten. Auf Smalltalk<br />

hatte sie nun wirklich keine Lust!<br />

„Nein, nein. Alles okay. Ich bin gleich weg.“<br />

Miri stapelte die Plastikschüsseln und Tabletts ihrer<br />

Großmutter zu einem hohen, wackligen Turm und richtete<br />

sich vorsichtig auf. Mitten in der Bewegung hielt sie<br />

inne. „Das gibt’s doch nicht.“<br />

Sie starrte auf die Fotografie an der Wand. Vor ihren<br />

Augen thronte ein einsamer Cowboystiefel auf einem<br />

riesigen Kürbis. Das Foto sah genauso aus wie das Bild<br />

in ihrem Alptraum. Hektisch drehte sie sich um und<br />

rannte geradewegs in den jungen Fotografen, der hinter<br />

ihr stand.<br />

„Mist!“ Mit einem lauten Scheppern krachte der<br />

Geschirrturm in Miris Händen in sich zusammen und<br />

die Schüsseln rollten über den Fußboden.<br />

Verzweifelt wünschte sie sich, unsichtbar zu werden.<br />

Ihre Arme und Beine würden durchsichtig werden und<br />

nach und nach verschwinden, bis kein einziger Miri-<br />

Pixel mehr übrig war. Dann müsste sie nicht mit dem<br />

Stiefeltypen reden. Er würde alleine dastehen, mit der<br />

unglaublichen Geschichte über ein sich auflösendes<br />

Mädchen. Und niemand würde ihm glauben.<br />

„Du schon wieder!“<br />

Er ging einen Schritt zurück und musterte sie. „Hast<br />

du noch deinen Pyjama an?“<br />

Langsam wanderte Miris Blick zu ihren Beinen, auf<br />

denen Charly Brown und Snoopy herumturnten.<br />

Oh nein! Warum hatte sie ausgerechnet dieses alte,<br />

ausgewaschene Ding angezogen? Aber gestern Abend<br />

war ihr alles egal gewesen. Sie wollte einfach nur ins Bett!<br />

Die viel zu kurze Hose reichte gerade bis zu ihren<br />

Waden und die zu engen Ärmel schnitten in ihre Oberarme<br />

ein. Mit zitternden Händen versuchte sie vergeblich,<br />

das Oberteil über ihren Nabel zu ziehen.<br />

„Du bist Miri, oder?“<br />

Sie nickte und spürte, wie sich heiße Flecken auf ihren<br />

Wangen bildeten.<br />

„Du schuldest mir eine Stiefelreinigung.“<br />

Mit aufeinandergepressten Lippen flüsterte Miri „Tut<br />

mir leid!“ und begann verlegen die verstreuten Schüsseln<br />

aufzuheben.<br />

Wieso war er hier? Egal, sie hatte Amelies Bedingung<br />

erfüllt und sich bei ihm entschuldigt. Also nichts wie weg!<br />

„Mädchen, du solltest die Finger vom Alkohol lassen.<br />

Du verträgst einfach nichts.“ Was redete er da?<br />

„Oder liegt es einfach nur an der Menge? Trinkst du<br />

<strong>im</strong>mer so viel?“<br />

So ein unverschämter Idiot!<br />

Wütend richtete sie sich auf und funkelte ihn an. „Hey,<br />

du … du … arroganter … du … Stiefeltyp.“ Ihr Gesicht<br />

nahm die Farbe eines Granatapfels an.<br />

18<br />

19


Und dann zeigte sie ihm die Zunge.<br />

Oh! Mein Gott!<br />

Sie benahm sich wie ein kleines Mädchen!<br />

Miri schnappte Amelies Geschirr und lief, so schnell<br />

sie konnte, zum Ausgang. Mit Schwung warf sie alles in<br />

den Lastenkorb des Fahrrads.<br />

Dumpf hörte sie seine St<strong>im</strong>me aus dem Gebäude. „Du<br />

bist ja eine echte Drama-Queen. Da kann sich Schachenstein<br />

ja noch auf einiges gefasst machen. Mein Name ist<br />

übrigens nicht Stiefeltyp, sondern Max.“<br />

Pffhh. Dann heißt du eben Max. Mir doch egal, dachte<br />

Miri.<br />

Hastig trat sie in die Pedale. Nichts wie weg!<br />

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