Leseprobe: Klippen der Diebe
Leseprobe zu Walter Thorwartl: Klippen der Diebe
Leseprobe zu Walter Thorwartl: Klippen der Diebe
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Endlich am Meer!<br />
„Ich bin mir sicher, dass wir diese Straße nehmen<br />
müssen!“<br />
„Ganz wie du glaubst. Aber das letzte Mal hast du dich<br />
auch gründlich verfahren, mein lieber Herbert. Kannst<br />
du dich erinnern, damals in Salzburg. Mir ist so heiß.<br />
Ich will an den Strand und das bitte möglichst bald!“<br />
Nicht schon wie<strong>der</strong>! Nicolas streckte die Zunge<br />
heraus und starrte aus dem Autofenster. Der „liebe<br />
Herbert“, das war sein Vater. Und neben ihm saß seine<br />
Freundin Isabella und meckerte – wie immer.<br />
Die Eltern von Nicolas waren geschieden, er wohnte<br />
bei seiner Mutter.<br />
In diesem Sommer hatte ihn sein Vater für eine<br />
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Woche Urlaub nach Kroatien eingeladen.<br />
Jetzt versuchte Papa den kürzesten Weg zu ihrem<br />
Quartier in Rovinj zu finden. Er hatte in einer Privatpension<br />
in <strong>der</strong> Centenerstraße gebucht. Doch die<br />
Straßen von Rovinj besaßen ihre Tücken. Sie schlugen<br />
Bögen, krümmten sich um 180 Grad und führten<br />
wie<strong>der</strong> zum Ausgangspunkt zurück o<strong>der</strong> hörten einfach<br />
in einer Sackgasse auf.<br />
Endlich hatte es Papa durch das Labyrinth von<br />
Rovinj geschafft. „Da, siehst du, Centener! Gleich<br />
sind wir da.“<br />
Isabella maulte: „Na endlich! Das wurde auch Zeit! Ich<br />
sitze schon fünf Stunden lang in diesem heißen Kübel!“<br />
Nicolas dachte ärgerlich: „Und wir vielleicht<br />
nicht?“ Er hatte die Freundin seines Vaters erst vor<br />
kurzem kennen gelernt und sie nervte ihn voll.<br />
Eine halbe Stunde später saß Nicolas im Garten <strong>der</strong><br />
kleinen Pension in einer Laube. Über ihm wucherte<br />
üppig das Weinlaub. Im Gemüsebeet wuchs in großen<br />
Blättern ein ihm unbekanntes Gemüse aus <strong>der</strong> roten<br />
Erde, daneben gab es grüne Paprika und Tomaten auf<br />
hohen Stauden.<br />
Ganz schön üppig, dieser Gemüseurwald.<br />
In Kroatien schienen sie alle voll auf Grünzeug<br />
abzufahren. O<strong>der</strong> war das alles nur für die Touristen<br />
gedacht? Schöne Aussichten! Aber immer noch besser<br />
als Fisch!<br />
Sein Vater und Isabella ließen sich Zeit. Das war<br />
öd. Er wollte so schnell wie möglich zum Meer.<br />
Davon hatte er schon lange geträumt.<br />
„Nicolas!“<br />
Isabella kam in einem grellroten Bikini die Außenstiege<br />
herunter. Sie schwenkte ihr Beautycase. Dahinter<br />
Papa schnaufend mit zwei Badetaschen.<br />
„Wir haben nur umgepackt“, bemerkte er entschuldigend<br />
und öffnete den Kofferraum.<br />
„Nicolas, nimm du dein Liegebett und eine Badetasche.<br />
Es ist nicht weit zum Strand. Wir müssen nur<br />
durch das alte Feriendorf, dann über eine Wiese und<br />
schon sind wir am Meer.“<br />
Papa schloss das Auto ab, nahm die beiden an<strong>der</strong>en<br />
Liegen und stellte die zweite Badetasche vor Isabella<br />
hin. „Bitte, Schatz. Die ist für dich.“<br />
Isabella verzog das Gesicht, sagte aber nichts.<br />
Alle drei schwitzten, als sie den sandigen Weg entlang<br />
Richtung Liegewiesen stapften.<br />
„Die Piratenkapitäne mussten ihr Zeug sicher nicht<br />
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selber zum Strand schleppen, die hatten ihre Schiffsjungen“,<br />
dachte Nicolas mürrisch. Es war nicht so<br />
einfach, die Küste zu erobern, mit Liegebett, einer<br />
Badetasche und einer Tasche mit Zeichensachen<br />
unterm Arm.<br />
Sein Zeichenblock und seine Stifte und Farben<br />
waren Nicolas das Wichtigste. Er freute sich schon<br />
darauf, Skizzen von Piratenschiffen zu zeichnen, von<br />
untergegangen Wracks und Inseln, auf denen die Skelette<br />
ermordeter Piraten verstreut lagen.<br />
Auf <strong>der</strong> Liegewiese stellten sie Liegen und Taschen<br />
im Schatten eines Baumes ab.<br />
„Gehen wir zur Strandbar etwas trinken. Ich bin<br />
völlig ausgetrocknet“, stöhnte Papa.<br />
„Können wir unser ganzes Zeug wirklich hier stehen<br />
lassen? Kommt da nichts weg?“, fragte Isabella<br />
besorgt und sah sich vorsichtig um.<br />
„Typisch für die feine Dame“, dachte Nicolas<br />
ärgerlich. „Den will ich kennen lernen, <strong>der</strong> dir deine<br />
Schönheitscremes und Duftwässerchen mopst.“<br />
Der Vater schüttelte nur den Kopf. „Komm schon,<br />
Schatz, ich bin durstig.“<br />
Sie gingen den Steinplattenweg entlang auf das<br />
Kiefernwäldchen zu.<br />
„Das soll eine Bar sein?“, fragte Nicolas verwun<strong>der</strong>t.<br />
Das schäbige Häuschen, von dessen Holzwänden<br />
die weiße Farbe abblätterte, sah auf den ersten Blick<br />
nicht gerade einladend aus. Auf einer Tafel stand<br />
FRESH CORNER.<br />
Der dicke braun gebrannte Mann vor <strong>der</strong> Bar begrüßte<br />
sie freundlich mit „Dober dan!“ und zeigte auf<br />
die Bänke und Tische dahinter. Er trug ein Namensschildchen<br />
mit ANTON auf seinem weißen Hemd.<br />
Sie hatten einen gemütlichen Platz im Schatten <strong>der</strong><br />
Kiefern gefunden. Nicolas trank sein Mineralwasser<br />
und blickte sehnsüchtig auf das Meer. „Ich komme<br />
gleich, ihr Haie, Kraken und Riesenrochen!“, dachte er.<br />
„Ich hol uns Pljeskavica. Was sagt ihr dazu?“,<br />
‚fragte Papa, stand auf und ging zur Bar.<br />
Nicolas blieb mit Isabella zurück. Sie starrte in ihr<br />
„Misch Masch“, ein Gebräu aus Rotwein, Limonade<br />
und Mineralwasser. Keiner sagte etwas. Eine ungemütliche<br />
Stille breitete sich aus. Die Gespräche <strong>der</strong><br />
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an<strong>der</strong>en Gäste umgaben sie wie das Summen von<br />
Insekten.<br />
Nicolas fühlte sich unbehaglich: „Ich fang jetzt<br />
nicht zu reden an. Was soll ich auch mit ihr reden?<br />
Vielleicht über Klei<strong>der</strong>fetzen und Mode?“<br />
Schließlich seufzte Isabella tief auf und sagte:<br />
„Schön ist es hier, nicht?“<br />
„Mhm“, machte Nicolas. Dann sah er nach Papa,<br />
<strong>der</strong> sich bei <strong>der</strong> Bar hinter drei an<strong>der</strong>en Touristen<br />
anstellen musste. Das konnte dauern.<br />
Die Sekunden und Minuten verrannen zäh.<br />
Isabella unternahm einen neuen Versuch: „Zeichnest<br />
du gern?“<br />
Eine intelligente Frage. Sehr scharfsinnig. Ha, ha,<br />
ha. Sie hatte ja gesehen, wie er seine Zeichensachen<br />
mitschleppte.<br />
Noch einmal mit „Mhm“ antworten? Nein, das<br />
war zu unhöflich. Nicolas zog die Schultern hoch und<br />
brummte. „Ja, eigentlich schon.“<br />
Isabella lächelte: „Ich hab früher auch gerne gezeichnet.<br />
Aber nicht das, was euch Jungs interessiert.<br />
Ich habe Elfen gezeichnet.“<br />
„Elfen? Geflügelte Dinger auf Blumen? Solche,<br />
die auf einer Lichtung im Mondlicht tanzen?“<br />
Nicolas blickte sie unschuldig an. Na, was sagte sie<br />
jetzt darauf?<br />
Isabella schlug Nicolas leicht auf den Rücken und<br />
grinste. “Ich glaub, du willst mich verarschen. Nein,<br />
Elfen, wie Arwen und Legolas aus dem ‚Herrn <strong>der</strong><br />
Ringe’. Kämpfer, coole, spitzohrige Typen mit<br />
lässigem Outfit. War ganz schön schwer. Ich wollte<br />
nämlich Modezeichnerin werden. Hast du den Film<br />
gesehen? War ziemlich wild, was?“<br />
Nicolas nickte: „Ja. Ziemlich.“<br />
Sollte er zugeben, dass er sich damals vor den<br />
Orks und den Werwölfen und den an<strong>der</strong>en Monstern<br />
gefürchtet hatte? Vor Kankra, <strong>der</strong> Riesenspinne, die<br />
Frodo gebissen und eingewickelt hatte, als lebenden<br />
Proviant für später?<br />
Isabella nahm einen Schluck, sah in den Buschwald<br />
und lachte leise. „Erinnerst du dich an Kankra?<br />
Vor dieser grässlichen Spinne hat mir ganz schön<br />
gegraust. Gibt hier sicher eine Menge Spinnen im<br />
Busch, glaubst du nicht?“<br />
„Da bin ich mir hun<strong>der</strong>t pro sicher, es gibt massenhaft<br />
Spinnen in Kroatien.“<br />
Eine boshafte Idee tauchte in seinem Hirnkasten<br />
auf: Sollte er welche fangen und ihr unter die Bett-<br />
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decke schmuggeln, als krabbelndes Souvenir aus dem<br />
Buschwald?<br />
Isabella runzelte die Stirn, dann grinste sie. „Denk<br />
ja nicht, dass du mich mit den Viechern schrecken<br />
kannst. Du brauchst keine nach Hause mitnehmen.<br />
Ich bring sie alle um. Eigenhändig. Ohne Gnade.“<br />
Isabella hatte ihn durchschaut. Ganz so übel war<br />
die Dame also doch nicht.<br />
Nicolas fragte: „Hast du ‚Fluch <strong>der</strong> Karibik’ gesehen?“<br />
Papas Freundin neigte sich zu ihm und flüsterte:<br />
„Ganz sicher. Das bleibt aber unter uns. Ich weiß<br />
nicht, ob dein Papa solche Filme mag. Legolas als<br />
Seeräuber. Und am gruseligsten war‘s, wenn <strong>der</strong><br />
Mondschein die Piraten in Skelette verwandelte.“<br />
Nicolas nahm sich vor, ein halb verwestes Skelett<br />
in zerfetzten Klamotten zu zeichnen, das im Mastkorb<br />
hockte und übers Meer blickte. Sollte er so ein Bild<br />
Isabella schenken? Na ja, warum nicht?<br />
„Darf ich eure Unterhaltung stören? Bitte sehr:<br />
Frische Pljeskavica!“<br />
Papa servierte ihnen das würzige Faschierte auf<br />
Papptellern. Das erste Essen in Kroatien! Und es war<br />
wirklich gut.<br />
„Herbert, danke! Das ist nett von dir!“, hauchte<br />
Isabella, streichelte Papas Arm und sah ihn mit klimpernden<br />
Wimpern an. Wenn sie so bescheuert tat, war<br />
sie bei Nicolas gleich wie<strong>der</strong> unten durch.<br />
Nicolas hatte seine Liege etwas abseits aufgestellt.<br />
Der Platz unter den Bäumen nahe <strong>der</strong> Süßwasserdusche<br />
war ideal. Von dort konnte man gleich zu den<br />
<strong>Klippen</strong> hinuntersteigen. Daneben erstreckte sich<br />
ein Strand aus groben Kieseln, aber <strong>der</strong> interessierte<br />
Nicolas nicht.<br />
Schnell zwängte er sich in die unbequemen Badeschuhe.<br />
Mit bloßen Füßen in den scharfen <strong>Klippen</strong> zu<br />
klettern wäre einfach blöd.<br />
„Pass auf!“, war <strong>der</strong> unnötige Kommentar von<br />
Papa gewesen, als er Richtung Meer davontrabte.<br />
Hinter <strong>der</strong> Dusche konnte man bequem ins Wasser<br />
hinuntersteigen. Nicolas wollte aber seinen eigenen<br />
Zugang zum Meer suchen.<br />
Schließlich hatte er einen Weg über die <strong>Klippen</strong><br />
gefunden, <strong>der</strong> ihn gleich ans tiefe Wasser heranführte.<br />
Vielleicht warteten dort giftige Muränen und glotzäugige<br />
Kraken auf ihn?<br />
Das Meer hatte hier eine blaugrüne Färbung.<br />
Er konnte bis auf den Grund sehen. Einige große<br />
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schwarze Flecken lauerten auf dem hellen Grund wie<br />
riesige flache Fische.<br />
Vorsichtig stieg er ins Wasser. Das war <strong>der</strong> volle<br />
Hammer! Er nahm einen kräftigen Schluck von <strong>der</strong><br />
salzigen Herrlichkeit und spuckte ihn gleich wie<strong>der</strong><br />
aus. Nach ein paar Schwimmzügen tauchte er unter.<br />
Er ließ die Augen offen und sah die kleinen Fische<br />
unter sich als unscharfe Schatten davonflitzen.<br />
Mit den Händen strich er über die dunklen Flecken<br />
Seegras und versuchte den graugrünen Schatten einer<br />
Krabbe zu erwischen.<br />
Als er wie<strong>der</strong> auftauchte und nach Luft schnappte,<br />
erblickte er ein riesengroßes Schiff am Horizont. Es<br />
musste ein Kreuzfahrtschiff sein, ein Ozeanriese, ganz<br />
nahe, vor <strong>der</strong> Bucht! Das sollte auch Papa sehen!<br />
Er schwamm zurück, kletterte auf die <strong>Klippen</strong> und<br />
lief über den scharfkantigen, unregelmäßigen Weg zu<br />
den Liegen.<br />
„Papa, Isabella, da draußen fährt ein Riesenschiff!“<br />
„So, wo denn?“ Papa hatte sich träge umgedreht.<br />
Nicolas starrte aufs Meer. Das Schiff war verschwunden!<br />
Gerade hatte er noch einen Teil von dem<br />
Schiffsrumpf gesehen, wie er langsam hinter <strong>der</strong><br />
Bucht verschwand!<br />
Papa lächelte nachsichtig „Unser Märchenerzähler!“<br />
und nickte entschuldigend zu Isabella: „Nikki<br />
hat eine blühende Fantasie.“<br />
Nicolas verteidigte sich ärgerlich: „Aber es war<br />
gerade noch…“<br />
Er sah Papas mitleidige Miene und ging weg.<br />
Trotzig kletterte er über die <strong>Klippen</strong> und stieg<br />
wie<strong>der</strong> ins Wasser.<br />
„Ich bleib hier unten bei den Fischen und Krabben“,<br />
dachte er, „da hält mich keiner für einen Märchenerzähler,<br />
einen Spinner.“<br />
Er suchte in den kleinen Nischen im braunschwarzen<br />
Stein nach Krabben. Manchmal scheuchte er eine<br />
auf. Sie lief rasch aus ihrem unsicheren Versteck in<br />
eine tiefere Höhle. Die Krebse waren ungefähr so<br />
groß wie Zweieuromünzen.<br />
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Alfredo, die Schmalzlocke<br />
Als Nicolas zum Ruheplatz zurückkam, stand Isabella<br />
auf und zog unter ihrer Liege einen Kescher hervor.<br />
„Schau, das hätte ich fast vergessen. Das hab ich dir<br />
mitgebracht.“<br />
He, was sollte das wie<strong>der</strong>? Er war kein Sechsjähriger,<br />
<strong>der</strong> mit einem bunten Netz auf winzige Fischchen<br />
Jagd macht und dann schreiend daher gerannt kommt:<br />
„Papa, Mama, ich hab was gefangen!“<br />
Gut, dass ihn seine Kumpels zu Hause jetzt nicht<br />
sehen konnen! Die hätten sich zerkugelt vor Lachen.<br />
Er nahm den Kescher an und murmelte „Danke.“<br />
Isabella schüttelte den Kopf, dass ihre blonden<br />
Haare flogen. „Ich weiß, dass du kein kleines Kind<br />
mehr bist, aber vielleicht hilft dir <strong>der</strong> Kescher bei<br />
deinen Entdeckungen im Meer. Wer weiß?“<br />
„So unpraktisch ist das Ding nicht. Die Isabella ist<br />
gar nicht blöd“, dachte Nicolas. Er brachte ein<br />
Lächeln zustande und sagte noch einmal „Danke.“<br />
Papa stand umständlich auf. „Wir gehen ein bisschen<br />
spazieren. Halt du die Stellung.“<br />
Nicolas sah den beiden nach, wie sie Richtung<br />
Feriendorf davonschlen<strong>der</strong>ten.<br />
Er warf sich auf seine Liege, wirbelte den Kescher<br />
ein paar Mal durch die Luft und blickte dann gedankenverloren<br />
aufs Meer hinaus. Wie es wohl vor Jahrhun<strong>der</strong>ten<br />
hier gewesen war? Da hatte es sicher noch<br />
am Rand <strong>der</strong> zerklüfteten Bucht Piratenschlupflöcher<br />
gegeben, wo die Seeräuber in ihren flinken Booten<br />
nur darauf warteten, ein wehrloses Schiff zu überfallen<br />
und reiche Beute an die Küste in ihr Versteck<br />
zu schleppen.<br />
Er drehte sich seufzend weg – <strong>der</strong> Wirklichkeit zu.<br />
Auf <strong>der</strong> Wiese bis hin zu den <strong>Klippen</strong> lagerten die<br />
Touristen. Er schielte auf zwei Erwachsene, die auf<br />
ihren Strandliegen dösten. Zwei Fleisch- und Muskelhaufen,<br />
die sich unter Schnarchen hoben und senkten.<br />
Super, das waren ja schöne Aussichten auf das Alter:<br />
fett und regungslos wie ein toter Käfer in <strong>der</strong> Sonne<br />
braten.<br />
Nicolas legte sich zurück und starrte in den<br />
Himmel. Der erste Urlaub ohne Mama …<br />
Ein Jahr nach <strong>der</strong> Trennung seiner Eltern hatte Papa<br />
angerufen: „Wir fahren im Sommer für eine Woche<br />
nach Rovinj. Ans Meer. Kommst du mit, Nicolas?“<br />
Mit „wir“ waren Papa und Isabella gemeint, seine<br />
Freundin.<br />
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Ans Meer! Das klang verlockend: wilde Küsten,<br />
Fischerboote, Piratenbuchten …<br />
Nicolas hatte zaghaft gefragt: „Darf ich?“ Und<br />
Mama hatte genickt und ihrem Buben aufmunternd<br />
zugezwinkert.<br />
Und jetzt war er hier in Rovinj.<br />
Nicolas holte seinen Zeichenblock hervor. Die erste<br />
Zeichnung musste ein Pirat werden. Das war für ihn<br />
eine Kleinigkeit: Käpt’n Blackbeard, wie er seine<br />
Hakenhand hob, den Dreispitz in die Stirn geschoben,<br />
eine schwarze Klappe über <strong>der</strong> Augenhöhle.<br />
„Eine tolle Zeichnung!“, schnarrte eine tiefe<br />
Stimme hinter ihm.<br />
Nicolas fuhr auf und blickte sich um.<br />
Der Mann hinter ihm hob abwehrend die Hände<br />
und lächelte.<br />
„Entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken.<br />
Ich heiße Alfredo.“ Er sprach mit einem leichten<br />
Akzent und streckte dem Jungen die Hand hin.<br />
„Nicolas“, antwortete <strong>der</strong> steif und griff zaghaft<br />
nach <strong>der</strong> braunen Pranke.<br />
Alfredo trug eine schwarze kurze Hose und<br />
ein schwarzes T-Shirt. In seine braune Stirn fiel<br />
eine glänzendschwarze Haarlocke.<br />
„Gefällt dir hier, was?“ Alfredo nahm seine<br />
Sonnenbrille ab, setzte sich neben Nicolas in die dürre<br />
Wiese und blickte aufs Meer. „Ist auch ein schöner<br />
Platz. Mich wun<strong>der</strong>t, dass so wenige Leute da sind.<br />
Na ja, hat auch was Gutes. Da verstellt einem<br />
niemand die Aussicht. Dir entgeht wohl kein Schiff,<br />
das da draußen vorbeifährt, und auch sonst nichts,<br />
o<strong>der</strong>?“<br />
Alfredo lächelte und spielte mit einem Grashalm.<br />
„Was will er von mir?“, überlegte Niko misstrauisch.<br />
Der Mann strich sich seine ölige schwarze Locke<br />
aus <strong>der</strong> Stirn und setzte sich die Brille auf den Scheitel.<br />
„Schmalzlocke“, dachte Nico abfällig.<br />
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Alfredo stand auf.<br />
„Na ja, ich muss wie<strong>der</strong> gehen.“ Er grinste.<br />
„Viel Spaß beim Zeichnen, du hast ein gutes Auge<br />
für Einzelheiten. Bist du noch länger da? Vielleicht<br />
komm ich wie<strong>der</strong> vorbei und schau mir deine nächste<br />
Zeichnung an. Ich hab sowieso in <strong>der</strong> Gegend zu tun.<br />
Ciao.“<br />
„Ciao.“<br />
Nicolas blickte dem Mann nach. Komischer Vogel.<br />
Er war fast sicher: Schmalzlocke hatte ihn etwas ganz<br />
Bestimmtes fragen wollen.<br />
Ein ungutes Gefühl beschlich Nico. Irgendetwas<br />
war seltsam an diesem Alfredo.<br />
Sie genossen ihr erstes Abendessen in Kroatien. Papa<br />
hatte das Restaurant Maslina in <strong>der</strong> Nähe ihrer Pension<br />
ausgesucht. Während Nicolas seine Salamipizza<br />
verspeiste, erzählte er von dem Mann am Strand, von<br />
„Schmalzlocke“.<br />
„Der Typ hat meine Zeichnung gelobt und gesagt,<br />
dass ich sicher alles sehe, was am Strand vorgeht.<br />
Dann hat er gefragt, ob ich noch länger da bin. Er will<br />
wie<strong>der</strong> kommen und sich meine nächste Zeichnung<br />
ansehen.“<br />
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