akzent Magazin Juli '20 Bodensee-Oberschwaben
akzent – DAS GRÖSSTE LIFESTYLE- & VERANSTALTUNGSMAGAZIN VOM BODENSEE BIS OBERSCHWABEN www.akzent-magazin.com
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16 AKZENTE – GEWINNERREGION BODENSEE<br />
„Wir alle haben gelernt,<br />
dass leere Städte nicht<br />
lebenswert sind.“<br />
Weniger ist das neue Mehr<br />
Künstler, die ohnehin schon am Existenzminimum<br />
in meist sogar öffentlich-rechtlich<br />
geduldetem Prekariat<br />
aus sich herausschaffen, sind derzeit<br />
als Spezies sicher am meisten gefährdet.<br />
Auftritts- und damit Einnahmemöglichkeiten<br />
fehlen auf breiter Front.<br />
Rund um den See beherrschen bis<br />
heute im Wochenrhythmus geäußerte<br />
neue Vertröstungen das kulturelle<br />
Landschaftsbild. „Großveranstaltungen“<br />
etwa werden „frühestens im<br />
November“ wieder zugelassen. Bloß:<br />
Was Großveranstaltungen sind, bleibt<br />
unklar. Die Festival- und Open-Air-<br />
Szene ist in Deutschland, Österreich<br />
und der Schweiz in diesem Jahr<br />
schlicht am Ende, bevor sie überhaupt<br />
richtig anfangen konnte. Im Sog der<br />
Ungewissheit wirbelt eine Dienstleistungsinfrastruktur<br />
hinterher: Wo es<br />
auf der Bühne nichts gibt, gibt es dahinter<br />
umso weniger. Wo keine Stars<br />
strahlen können, braucht es keine Beleuchter.<br />
Wo kein Festival, da keine<br />
Bühne. Wenn kein Theater, dann auch<br />
keine Bühnenbildner. Einfach nichts<br />
und damit auch niemand. Ersatzlos<br />
gestrichen. Teils komplett vertröstet<br />
auf 2021.<br />
Veranstalter erleben zumindest ein<br />
wenig gelebte Solidarität, wenn ihre<br />
Besucher zum guten Teil Eintrittsgelder<br />
einfach „stehen lassen“ für das<br />
verschobene Event im nächsten Jahr.<br />
Als Einsatz einer optimistisch-aufmunternden<br />
Wette auf eine sicher<br />
bessere Zukunft. Oder als<br />
Spende. Doch das<br />
reicht nicht. Vor allem nicht bis in die<br />
Tiefen des veranstaltungstechnischen<br />
und künstlerischen Beziehungsgeflechts.<br />
Die spärlichen Gelder versickern<br />
in der ausgetrockneten Kulturlandschaft<br />
bereits an der Oberfläche.<br />
Staatliche Hilfen in allen drei Ländern<br />
retten dabei höchstens vor dem Verdursten.<br />
Wachsen und gedeihen kann<br />
dabei nichts, was nicht Ödnis verträgt.<br />
Wer dieses darwinistische Szenario<br />
überlebt, wird sich dafür nächstes Jahr<br />
in einem konsolidierten Markt wiederfinden.<br />
Und in einem sicher wertschätzenderen,<br />
zumindest vonseiten<br />
des Publikums. Allerdings im Umkehrschluss<br />
auch von einer durch drohende<br />
kommende Verteilungskämpfe in öffentlichen<br />
Haushalten nach unten priorisierten<br />
Bittstellerposition. Die Kunst<br />
geht bekanntlich nach dem Brote – Betonung<br />
auf „nach“.<br />
Das große gesamtgesellschaftliche<br />
Gedankenexperiment, das sich manch<br />
frustrierter Kunstschaffender situationsbedingt<br />
sicher mal wutschnaubend<br />
ausgemalt haben mag, ist schlagartig<br />
Realität: „Sollen sie doch alle mal sehen,<br />
was passiert, wenn wir plötzlich<br />
nicht mehr da sind!“ Wir sehen es!<br />
Rund um den See waren die roten<br />
Leuchtfeuer der „Night of Light“-Aktion<br />
jüngst Mahnmal für den Kampf<br />
der Veranstalterszene. Und gleichzeitig<br />
Hoffnungszeichen. Viele, jedenfalls<br />
im Vergleich zu anderen Regionen.<br />
Bislang hat man rundherum mehr an<br />
Kultur getragen als andernorts: Im internationalen<br />
Vergleich winzige Städtchen<br />
haben eine unfassbare Flut an<br />
Kultur und Events losgetreten. Jedes<br />
Jahr mehr. Das heißt allerdings auch:<br />
Selbst, wenn es von dem Vielen in<br />
Zukunft weniger geben kann, wird es<br />
hier insgesamt dann immer noch mehr<br />
sein als anderswo. Und wenn weniger<br />
ein Mehr sein soll, dann braucht es<br />
mehr Qualität, mehr Verständnis und<br />
mehr Unterstützung. Gilt übrigens<br />
nicht nur für die Kultur, für die aber<br />
besonders …<br />
Auf die Zukunft bauen<br />
Die Krise erzeugt Nachdenken über<br />
paradoxe Situationen: Hat man sich vor<br />
Kurzem noch über die vielen Baustellen<br />
geärgert, über das teils langsame<br />
Fort- und Ankommen, freut man sich<br />
heute umso mehr, dass es wenigstens<br />
einer Branche insgesamt gut geht. Wer<br />
baut, baut immer auf die Zukunft.<br />
Und wie: Im schweizerisch-österreichischen<br />
Grenzgebiet wird mit einer<br />
beidseitig getragenen Milliardeninvestition<br />
(nein, ich habe mich nicht verzählt!)<br />
mal wieder als Mammutaufgabe<br />
der ganze Rhein umgegraben. Sowas<br />
ist eine Generationen-Investition. Und<br />
egal, ob auf deutscher Seite jahrzehntelange<br />
Straßenbauprojekte langsam,<br />
gaaanz laaangsam, ihrer teils vor fast<br />
hundert Jahren geplanten Vollendung<br />
entgegensehen, oder die ebenso jahrzehnteverschleppte<br />
Elektrifizierung<br />
der Schienen am See endlich angegangen<br />
wird: Die Investitionen sind<br />
eben – Achtung, zweideutig! – in der<br />
Tat langfristig angelegt. Doch während<br />
Berlin noch immer auf die Vollendung<br />
eines Flughafens wartet, beruhigt auch<br />
hier ein Blick in die Region ungemein:<br />
Immerhin drei Flughäfen existieren<br />
hier schon seit Jahrzehnten.<br />
Selbstverständlichkeiten dürfen<br />
gerne ab und an wieder ins Bewusstsein<br />
gerückt werden – nur schade,<br />
dass es dazu immer gleich solcher Krisen<br />
bedarf.<br />
Rundherum erfinden sich zudem<br />
ganze Städte neu: Bregenz baut eine<br />
komplette neue „Stadt am See“, genau<br />
daneben gräbt Lindau mal eben die<br />
halbe Insel um. Konstanz hat das fast<br />
schon hinter sich, trotzdem stehen die<br />
Baukräne rechtsrheinisch immer noch<br />
dicht an dicht. Auch in Singen wird seit<br />
Jahren drauflosgebaut. Und selbst wenn<br />
manches Städtchen wie Radolfzell, das<br />
gerade aus dem „feuchten Traum“ des<br />
Seeanschlusses aufgeschreckt wurde,<br />
nicht jedes Jahrhundertprojekt im<br />
großen Stil umzusetzen in der Lage<br />
sind (und zunehmend in der Lage sein<br />
werden): Hier in der internationalen<br />
<strong>Bodensee</strong>region wird insgesamt immer<br />
noch mehr gebaut werden als anderswo.<br />
Auch in Zukunft!