September 2007 - Gossauer Info

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Lina sei die ganze Nacht über kniehoch im Bachbett gestanden und schlottere vor Kälte. Ob es in Ordnung sei, dass die Rega das Tier aus dem unwegsamen Gelände zurück auf die Alp transportiere, wo es dann der Tierarzt untersuchen wolle. Als mein Mann Stef zwei Wochen später einen weiteren Telefonanruf des Alphirten erhält, ist der Bescheid negativ. Lina hat sich schlecht vom Sturz erholt und hinkt weiterhin stark. Das Rind kann sich nicht unter dem Alpvieh einordnen und entfernt sich unentwegt von der Gruppe. Zuhause in Gossau bemerkt Stef, dass sich die äusserst zahme Lina nur auf drei Beinen fortbewegen kann. Deshalb muss Lina die ersten Tage angebunden im Stall verbringen, und erst als sie besser an Ort hin und her gehen kann, darf sie mit den anderen Rindern mit auf die Weide. THEMA TIERGESCHICHTEN Lina und Ulma – blind geboren Die Suche nach dem eineinhalbjährigen Rind Lina habe lange gedauert und er sei erst am Morgen fündig geworden, berichtete der Alphirt am Telefon. Das Rind habe sich beim Absturz offenbar starke Prellungen zugezogen, zum Glück könne es auf allen vieren stehen. Die 5-jährige Noemi führt die blinde Kuh Ulma. Das Rind ist blind Mein Mann bemerkt, dass Lina draussen in die Badewanne hineinstolpert, als er sie zum Tränken führen will. Der erfahrene Landwirt ahnt nun, was Linas Schicksal ist: Das Rind ist blind! Lina stammt direkt von der vier Generationen älteren, ebenfalls blinden Kuh Ulma ab. Wie sich Lina entwickelt, wird sich zeigen. Ulma jedenfalls war eine der besten Kühe im Stall… Auch Ulmas grossen, sanften Augen sah man die Blindheit nicht an. Nachdem das schöne 20 Gossauer Info 90/SEPT. 2007
Kalb seine erste Zeit im Kälberiglu gelebt hatte, kam es mit seinen Artgenossen auf die Weide. Ulma verhielt sich seltsam, sie stolperte bergauf oder rannte durch den Weidezaun. Wie versteinert stand sie danach kurzatmig muhend da. Ulma fiel Stef anfänglich nicht auf, denn alle Kälber mussten das Leben auf der eingezäunten Weide zuerst erlernen. Aber nach wenigen Kontakten mit dem Strom unterliess es jedes Kalb, zu nahe am Draht zu sein. Ulma reagierte anders. Sie schien ihre Lektion nicht zu verstehen. Nun wusste mein Mann, Ulma war blind! Das inzwischen stattliche Kalb erhielt eine Hilfe. Ein zwanzig Kilo schwerer Betonstein an einer zehn Meter langen Kette war von nun an Ulmas Begleiter beim Weiden. Stef änderte den Standort des Klotzes regelmässig, damit Ulma immer gutes Gras fressen konnte. Erneut verblüffte Ulma durch ihr ungewöhnliches Verhalten. Sie umrundete ihren Sockel, bis die Kette so kurz war, dass sie den Betonklotz heben und wegziehen konnte. Und da stand sie dann mitten im frischen Gras! Blindenführer gefunden Als die Zeit der Alp-Sömme- Generalagentur Wetzikon-Pfäffikon Gossauer Info 90/SEPT. 2007 THEMA TIERGESCHICHTEN rung kam, war klar, dass Ulma in Gossau bleiben musste. Das Rind erhielt eine Weidekumpanin. Diese trug eine Glocke um den Hals gebunden. So konnte Ulma leicht dem Rind zur Tränke hin folgen. Ulmas Weidebegleiterin musste zahm sein und durfte nie auf sie losgehen. Diese Begebenheit machte den natürlichen Kampf um eine Rangordnung unter dem Vieh überflüssig. Verhaltensweisen jedoch wie das gegenseitige Lecken des Felles an Stellen, die das Rind schlecht erreicht, waren bei Ulma und ihrer Herdengenossin ausgeprägt. Zudem konnten die beiden Tiere stundenlang wiederkäuend daliegen, um sich dann zuerst mit den Hinter- und dann den Vorderbeinen zu erheben und zufrieden davonzutrotten. Im Sommer verbrachte Ulma ihr Leben abgesondert von der Herde auf einer Weide, um dem manchmal heftigen Hörnerkampf der Kühe nicht ausgeliefert zu sein. Ein Prachtsexemplar Ulma kalbte mit 3 Jahren das erste Mal, und ihr Kalb Nelli war nicht blind. Die Milchkuh Ulma war ein Prachtsexemplar! Nicht nur besass sie eine sehr gute Ab- Ueli Baumann Tel. 044 934 31 42 Bahnhofstrasse 31 Fax 044 934 31 31 8620 Wetzikon ZH E-Mail ulrich.baumann@mobi.ch stammung, sondern auch ihre Milchleistung, ihr Körperformat, ihr Fundament (Beine) und ihre Euterform waren ausgezeichnet. Deshalb behielt mein Mann die blinde Ulma. Sie bekam einen Strick um ihre schön geschwungenen Hörner gebunden, damit sogar jedes Kind die zahme Kuh zum Melken in den Stall oder zum Grasen auf die Weide führen konnte. Übrigens war Ulmas Weidezaun nie unter Strom, denn beim geringsten Kontakt zur Einzäumung wich sie zurück. Da reichte sogar eine Schnur aus! Im stattlichen Alter von elf Jahren, nach der Geburt von sechs Stier- und zwei Kuhkälbern, waren Ulmas Tage gezählt. Gesunde Nachkommen Heute fällt eine Kuh in der Herde besonders auf. Wenn Luzia mit ihrem massigen, gleichmässig hin und her wiegenden Körper gemächlich dahintrottet oder erhobenen Schwanzes und mit gesenkten Hörnern über die Weide galoppiert, dann schlägt Stefs Herz höher. Die fünfjährige Luzia ist Ulmas jüngste Nachfolgerin, vollumfänglich sehend, versteht sich. Andrea Kehrli 21
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