September 2007 - Gossauer Info
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Tiergeschichten<br />
An der Unteren Zäune,<br />
mitten in der Zürcher<br />
Altstadt, steht das Haus<br />
«Zur Meerjungfrau», in dem ich<br />
aufwuchs. Die elterliche Helmhaus-Apotheke,<br />
in der ich<br />
meine Lehre absolvierte, befand<br />
sich an der Schifflände, gegenüber<br />
dem damaligen Café Select<br />
und dem Haus Zum Raben.<br />
Unser Beo-Vogel<br />
Viele Jahre leistete meiner Familie<br />
ein Beo-Vogel Gesellschaft.<br />
Sein Rufname war Beo.<br />
Er gehörte einfach dazu. Er war<br />
sehr zahm und genoss viele<br />
Freiheiten. Da meine Mutter<br />
nachmittags in die Apotheke arbeiten<br />
kam, nahm sie ihren<br />
Liebling in einem Körbchen jeden<br />
Tag mit. Manchmal wunderten<br />
sich die Passanten in der<br />
Kirchgasse, wenn der Beo ein<br />
Lied pfiff, denn er genoss das<br />
Herumgetragenwerden sichtlich.<br />
In der Apotheke erfreute er, in<br />
einer grosszügigen Volière sitzend,<br />
unsere Kunden. Beim<br />
Läuten der Glocke begrüsste er<br />
sie mit einem Lied: Er konnte<br />
perfekt die Melodie vom «Annelisi»<br />
pfeifen. Wenig später<br />
fragte er: «Häsch zahlt?» Und<br />
beim erneuten Läuten der Glocke<br />
sagte er «tschau, tschau».<br />
Meine Eltern waren sehr gastfreundlich,<br />
und wir hatten viele<br />
Familienfreunde. Ein Freund<br />
namens Rolf, ein Bildhauer,<br />
wurde wegen seiner tiefen<br />
Stimme vom Beo speziell geliebt<br />
und angehimmelt. Der Vogel<br />
konnte die ganze Besuchs-<br />
<strong>Gossauer</strong> <strong>Info</strong> 90/SEPT. <strong>2007</strong><br />
zeit vor ihm sitzen und ihm zujubeln.<br />
Ein anderer Freund namens<br />
Werner, ein Physiker,<br />
hatte vom vielen Denken Migräne<br />
und machte, wenn er auf<br />
Besuch kam, meist erst einen<br />
Kopfstand. Zur grossen Freude<br />
von Beo, der ihn flugs als Baum<br />
benutzte und sich auf seinen<br />
nach oben gerichteten Füssen<br />
niederliess. Ein anderer Freund<br />
hatte rabenschwarzes Haar, was<br />
unser Beo nicht leiden mochte<br />
und was ihn veranlasste, Angriffssturzflüge<br />
zu veranstalten.<br />
Bevor unser Besuch die Wohnung<br />
betrat, rüsteten wir ihn<br />
deshalb mit einem breitkrempigen<br />
Regenhut aus, der sein<br />
Haar verdeckte, und die Gefahr,<br />
dass er für einen Raben gehalten<br />
wurde, war gebannt. Ausserdem<br />
klaute unser Beo wie<br />
eine diebische Elster, und alle<br />
glänzenden Gegenstände, wie<br />
THEMA<br />
Vera Pauli erinnert sich an lustige Tiergeschichten, die sich während ihrer<br />
Kindheit in Zürich zugetragen haben. Heute wohnt sie mit ihrem Mann<br />
im Grüt.<br />
Beos sind sehr intelligente Vögel, die schnell lernen.<br />
Schmuck oder Münzen, mussten<br />
vor ihm in Sicherheit gebracht<br />
werden.<br />
Ein Herz für Tiere<br />
Meine Mutter hatte ein Herz für<br />
Menschen und Tiere. Auf dem<br />
Nachhauseweg fand sie auf dem<br />
Dach der Grossmünster-Kapelle<br />
eine Jungdole, die mehrere<br />
Tage hilflos dort hockte. Sie<br />
nahm sie kurzerhand mit und<br />
zog sie von Hand auf. Der Vogel<br />
entwickelte sich prächtig und<br />
tyrannisierte nach kurzer Zeit<br />
unseren armen Beo gehörig.<br />
Ein weiterer Familienfreund<br />
namens Roberto, Engadiner<br />
und Kupferschmied-Künstler,<br />
adoptierte die Dole und ging<br />
mit dem Vogel auf der Schulter<br />
an der Schipfe spazieren. Zum<br />
Schrecken seiner Nachbarin<br />
kam die Dole durchs Fenster geflogen<br />
und nahm in ihrer Salat-<br />
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