November 2020 - coolibri
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INTERVIEW<br />
Die Kraft, Dinge zu bewegen<br />
Campino ist Deutschlandsbekanntester Punkrocker.Jetzt istseine Autobiografie „Hope Street“ erschienen. Darin erzähltder Düsseldorfervon<br />
seiner Liebe zu England undzum Liverpool FC,von seiner Familieund denToten Hosen,mit denenerden Soundtrack<br />
zumBuchaufgenommen hat. Im Interviewmit Olaf Neumann gibtder 58-Jährigeeinen kleinenVorgeschmack.<br />
Campino, können Sienachvollziehen, dassesFansgibt, diesichjedes<br />
einzelne Konzertder TotenHosen anschauen?<br />
Das kann ichsehrwohlnachvollziehen,weilich selber Bandswie den<br />
Clash, denAdictsund denVibrators ständighinterhergefahren bin, auch in<br />
andere Länder.Bei dieser Artvon Fantumgehtesgar nichtmehrnur um<br />
dieKonzerte, sondernumeineAbenteuerreisemit Gleichgesinnten. Das<br />
isteineInsider-Geschichte. So istesauch beim Fußball.Man kann schon<br />
im Zugauf demWeg insStadion großen Spaß haben.Dabei können<br />
Freundschaftenentstehen,die unterUmständen jahrelang halten.<br />
Wasfasziniert SieamLiverpool FC so sehr,dassSie sich möglichst alle<br />
Spiele live anschauenwollen?<br />
Mankann sich da hineinsteigern. Es istwie beieinem Sammler.Jebesser<br />
du einenVereinkennst, destomehrzieht es dich rein,sodassduein regelrechtschlechtesGewissenhast,<br />
wenn du malnicht im Stadionbist. Du redest<br />
direin,dassduals treuerFan mitdeinerEnergie eine Rollespielen<br />
könntest,was denSpielausgang betrifft.Dunimmstdie Glücksgefühle<br />
undNiederlagen zu 100Prozent wahr.<br />
HatIhreFaszination fürden Liverpool FC auch etwasdamit<br />
zu tun, dassLiverpool eine ausgesprocheneMusikstadtist?<br />
Ganz klar ja.Als Neunjährigerkonnteich nichtahnen,<br />
wasLiverpool wirklich füreineStadt war.Ich<br />
wusste nicht, ob siehübschoderrau,arm oder<br />
reichwar.Aberjebesser ichsie undihre Menschen kennenlernte, umso<br />
näherwar mir dieser Verein.Humor spielt dorteinegroße Rolle. DieTatsache,<br />
dass dieBeatles ausLiverpoolkamen,hat mich noch mehr begeistert.Diese<br />
vier Jungsstammen aus schlichtenVerhältnissenund haben<br />
in denzehnJahrenihrer Existenz vielezeitlose, lebensklugeLiederherausgehauen.<br />
EineinmaligesZusammenkommenvon Talent,Glückund positiverLebenseinstellung.<br />
Punk warder Sound derUnzufriedenen.Womit warenSie 1977 nichteinverstanden?<br />
Mitüberhauptnichts. Fürmichwar Punk lebensbejahend miteiner total<br />
positivenEnergie.Natürlich haben dieBands mitihren Texten provoziert,<br />
vonZerstörunggeredet und„No Future“ zurParoleerhoben,abereswar<br />
allesandereals das. Wirhattenunheimlich viel Spaß an derProvokation<br />
undDestruktion. Wirwollten unsnicht nurvon unsererElterngeneration<br />
absetzen,sondern auch vonden Hippies. Punk entwickeltesichaber<br />
schnell in eine konstruktiveRichtung. Bandswie TheClashbenutztendie<br />
eigeneKraft,umDinge zu bewegen, siehe„Rock Against Racism“. Diese<br />
Ideologiegefielmir sehr.Das Klassenbewusstsein in Englandwar viel<br />
krasserals in derBundesrepublik.Die Working-Class-Attitude sprach mir<br />
aus demHerzen.<br />
30<br />
„Ursprünglich wollte ichnur<br />
darüber schreiben,wie ich<br />
alsFan eine Saisonlang<br />
meinenVereinbegleite“<br />
DiedeutscheNationalelfsangdamalsSchlager wie„Fußballist unser Leben“.<br />
In Deutschlandhatte derFußball in den1970ern nichts mitPopmusik zu<br />
tun. Speziell in Liverpool war dasanders. Dort wurde schon Anfang der<br />
1960er Jahre dieTop TenimStadion gespielt,umdie Leutezuunterhalten.<br />
EnglischeFußballstars wurden immer schon wiePophelden gefeiert.<br />
EinLiedwie „Football Is ComingHome“ schüttelndie Engländermal eben<br />
aus demÄrmel.<br />
IhreenglischeMutterschämte sich anfangsfür Ihre punkigeHaltung und<br />
Ihr Aussehen,weshalb Siejahrelangnicht mehr mitIhnen gemeinsam<br />
frühstückte. HabenSie versucht,ihr zu erklären,was Punk Ihnenbedeutet?<br />
Das Problemwar,dassich dasnicht groß erklärenmusste, weil siedie Texte<br />
ja verstand.Wennman als 14-jähriger„If It Ain’tStiff,ItAin’t WorthA<br />
Fuck“auf derJacke stehen hat, dann istklar, dass eine Mutter dieses Kleidungsstücknicht<br />
gernewäscht. Auch „God Save TheQueen /Her Fascist<br />
Regime“war einAngriffauf dieWertvorstellungenmeinerMutter. Siehat<br />
denSchalk unddie Ironie dahinternicht verstanden, sondernmachtesich<br />
Sorgen,dassunsereenglischeFamiliemit mir<br />
plötzlich einschwarzes Schafhatte unddie Nase<br />
rümpfen könnte. Ende der1970erbekam meine<br />
Schwestervon meiner Mutter sogarverboten,<br />
mein Zimmer aufzusuchen. Ichhatte ihr immer<br />
Plattenvorgespielt undsie mussteraten,welche<br />
Band gerade zu hörenwar.Meine Mutter hatversucht,<br />
zu retten,was zu rettenwar.Esbrauchte eine gewisse Zeit,bis sie<br />
verstanden hatte, dass Punk nichtnur destruktiv ist. Nachdemesbei meinenElterneinmal<br />
klick gemacht hatte, war es auch gut.<br />
SiesindanerkannterKriegsdienstverweigerer,stelltenden Antrag aber<br />
ersteinen Tagnachdem Grundwehrdienst.Waren SieinIhrer Kompanie<br />
dereinzige,der beim Marschierenanstelleeines Gewehres einenBesen<br />
trug?<br />
Innerhalb derKaserne habeich vonkeinemanderen Verweigerer gehört.<br />
Ichhatte verschlafen,michrechtzeitigummeine Verweigerungzukümmern.Breitiwar<br />
Pazifist undhatte sogardie UnterstützungseinerMutter,<br />
Andi istnachWestberlin geflüchtet undich hatteAngst voreinem Gesprächmit<br />
meinem Vater. Es istsehrschwer, dasjemandemzuerklären,<br />
derden ZweitenWeltkrieg vomerstenbis zumletzten Tagmiterlebt hat. Er<br />
wollte,dasssoetwas niewiedergeschieht.InseinenAugen bräuchtenwir<br />
eine demokratisierteArmee,die nahamBürgertum ist. Er war derMeinung,dassjeder<br />
seinen Teil dazu beitragensollte. Meinälterer Bruder<br />
Johnwar wegenseinerRückenprobleme untauglich,darüber war mein Vatersoerzürnt,dasserihm<br />
monatelang dieGelder entzog.<br />
WiegingIhr Vaterdamit um,dassSie denKriegsdienst verweigernwollten?<br />
MitseinemLebensentwurfzubrechen,empfand mein Vaterzunächstals