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ST:A:R_22

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50 <strong>ST</strong>/A/R<br />

BEITRAG ZUM<br />

LITERARISCHEN DISKURS<br />

ÜBER DEN FEHLENDEN<br />

DISKURS<br />

(aus ganzheitlicher Sicht) v. Manfred Stangl<br />

Über den Begriff der Moderne rümpft<br />

Helmut A. Gansterer anlässlich<br />

deren hundertjährigen Bestehens<br />

im Profil 6 vom 4. Februar vergangenen<br />

Jahres die Nase. Am besten schenke man<br />

der Moderne zum runden Geburtstag<br />

die Vernichtung ihres Namens, meint er.<br />

Attraktiv klingt seine Idee, den Zeitpunkt<br />

für das Geburtsjahr deswegen zu wählen,<br />

weil nur 19o8 der Anteil der Frauen an der<br />

„Werdung der klassischen Moderne“ gleich<br />

hoch wie der Männeranteil gewesen sei.<br />

Weniger schön finde ich seinen Vorschlag,<br />

nicht den Künstlern weiterhin überholte<br />

Einteilungen wie Moderne, Postmoderne<br />

usw. zuzumuten. Alle paar Monate bezauberten<br />

uns neue KünstlerInnen mit neuer<br />

Kunst, daher solle man diese jeweils mit<br />

der Bezeichnung Avantgarde plus entsprechender<br />

Jahreszahl erfassen. Etwa für die<br />

(voriges Jahr) aktuelle Kunstproduktion<br />

Avantgarde 2oo8 usf. Die Zeit der Ismen<br />

sei vorüber. Die Moderne, gerade weil - in<br />

ihren klassischen Erscheinungsformen wie<br />

Fauvismus, Expressionismus, Futurismus -<br />

leicht abgrenzbar, sei ein alter Hut. Die heutige<br />

Kunst solle endlich dahingehend erlöst<br />

sein, wo sie hingehöre: in die Einzigartigkeit<br />

der KünstlerInnen, die ihren eigenen Weg<br />

gingen.<br />

Bestechend wohlig hört sich der Vorschlag<br />

an - wer möchte nicht einstimmen, alle<br />

Einordnungen, Beschränkungen und<br />

Schubladisierungen abzuschütteln, ob<br />

Künstler oder keiner.<br />

Nichtsdestoweniger steckt hinter dem verführerischen<br />

Angebot ein korrumpierender<br />

Ansatz. Auch wenn positiv gemeint:<br />

die Inkraftsetzung jener Anti-Diktion<br />

würde zu weiteren Relativierungen bestehender<br />

Begrifflichkeiten - ob für die Kunst,<br />

die Philosophie oder die Politik - führen.<br />

Die Verschwammung der Begriffe ermöglicht<br />

denen, die Begriffe zum Zwecke<br />

der Irreführung benutzen, erfolgreicher<br />

Menschen hinters Licht zu führen, was<br />

heißt, ihnen unter Vorspiegelung falscher<br />

Realitäten zu verkaufen, was verkauft<br />

werden soll. Entweder das Image des sozial<br />

engagierten Politikers oder das eines<br />

Künstlers, der stets Allerneuestes erschaffend,<br />

als Künstler hoch im Kurs stehend<br />

erkannt werden muss.<br />

Bezüglich politischer Begriffsverwirrung<br />

argumentierte Andreas Mölzer, man dürfe<br />

das alte Links/Rechts-Schema nicht zu<br />

ernst nehmen: sozialpolitisch etwa stünde<br />

die FPÖ links – ich meine, laut Mölzers<br />

Definitionsverwischungsversuch wäre sozialpolitisch<br />

Hitler ebenfalls links zu verorten,<br />

weil er in Wien nach der Besatzung<br />

Österreichs Gulasch für die hungernden<br />

Arbeiterfamilien verteilen ließ und<br />

Arbeitsplätze in der Rüstung schuf.<br />

Ein Künstler sollte deswegen nicht<br />

Avantgardist 2oo8, 2oo7 oder o9 genannt<br />

werden, weil der Avantgardebegriff zwar<br />

die Schaffung von „Neuem“ annonciert,<br />

das „Neue“ aber als Hauptkriterium für<br />

Kunst zu setzen, einer Idee aus der Zeit der<br />

Aufklärung entstammt. Damit erweist sich<br />

diese Kunstdefinition selbst als Produkt<br />

der Moderne, deren Anfänge durch die<br />

Abschaffung des Begriffs „Moderne“ ins<br />

Dunkel zu stoßen, zur Mythologisierung<br />

von Kunst beitrüge.<br />

Außerdem bewirkte die Abschaffung aller<br />

Begriffe die endgültige Verunmöglichung<br />

des Kunst/Literaturdiskurses. Der Künstler/<br />

Literat, aber nicht nur dieser - ihm sei’s<br />

verzieh’n -sondern alle, die einen verbindlichen<br />

Diskurs, aus welchen Gründen auch<br />

immer, verweigern, würden bei jeder grif-<br />

Buch VII - Häupl & Wittgenstein Nr. <strong>22</strong>/2009<br />

figeren Beschreibung eines Kunstobjektes/<br />

Textes sofort mit Phrasen wie: „jede<br />

Bezeichnung ist eine unzulässige Reduktion<br />

und damit Herabsetzung“ und „da beschneidet<br />

wer die Freiheit der Kunst“, oder:<br />

„da will wer begnadetes Schaffen repressiv<br />

eindämmen“, auch: „man darf niemanden<br />

verurteilen“, zur Stelle sein.<br />

Die Übereinkunft betreffs der hochgradigen<br />

Individualisierung gerade am Kunstsektor<br />

führt heute bereits zu beinahe militanter<br />

Ablehnung von Kritik, weil (folgere ich)<br />

das geniale Programm des Kults um das<br />

Individuelle gefährdend.<br />

Jegliche Steigerung obiger Haltung erstickte<br />

freilich eine Diskussion über Kunst<br />

schon im Keim. (Und ich weiß aus eigener<br />

leidvoller Erfahrung, wie schnell Diskurse<br />

abgewürgt werden können). Wolfgang<br />

Ullrich stellte in „Tiefer Hängen“ längst<br />

den Trend in jene Richtung fest, dass Kritik<br />

an einem Kunstwerk sofort als unfreundlicher<br />

bis aggressiver Akt gedeutet wird. Mir<br />

widerfuhr die Auslegung meiner sachlichen<br />

Kritik an moderner Literatur als Verächtlich-<br />

Machung der AutorInnen : nichts liegt mir<br />

ferner – natürlich breche ich ein Tabu<br />

(wenn ich das heilige Ich der Moderne zerpflücke)<br />

und wird deshalb meine Analyse<br />

als besonders abgefeimt eingestuft, aber<br />

ich achte alle die zeitgenössischen oder verstorbenen<br />

Ikonen der Moderne und sogar<br />

der Aufklärung als Personen, selbst wenn<br />

ich dem Großteil ihrer Weltanschauungen<br />

harsch entgegenarbeite.<br />

Beschäftigung mit Kunst heißt übrigens<br />

immer Kritik. Einmal fällt sie bezüglich<br />

eines Objekts positiver, einmal negativer,<br />

meist von beiden etwas aufweisend, aus.<br />

Dennoch heißt’s zu Recht „Kunstkritik“<br />

nicht „Kunstvergottung“. Da diejenigen<br />

Ströme in der Kunstkritik derzeit vorherrschen,<br />

die Aussagen über Kunstobjekte<br />

ohnehin nur in Bezug auf innere<br />

Mechanismen und Stimmigkeiten zulassen,<br />

führte die gänzliche Aufhebung umreißender<br />

Grenzen endgültig ins Begriffs-<br />

Nirwana. Franz West – wie es scheint ein<br />

hochtalentierter Künstler – formulierte<br />

seine Abneigung begrenzender Begriffe<br />

mit der Aussage: „Eigentlich kann der<br />

Betrachter stets nur sein persönliches Urteil<br />

treffen. Ein Kunstwerk gefällt einem eben,<br />

oder es gefällt einem nicht.“ Mit diesem<br />

„Kritikansatz“ würde Kunstkritik auf ein<br />

höchstpersönliches Geschmacksurteil<br />

herunter gebrochen und damit jeglicher<br />

objektivierenden Anstrengung enthoben.<br />

Nun sei selbstredend jedem sein persönliches<br />

Geschmacksempfinden und damit<br />

Geschmacksurteil zugestanden. Aber<br />

das Ergebnis muss nicht, wie implizit erträumt,<br />

die Verfeinerung und Ausprägung<br />

des individuellen Geschmacks bedeuten:<br />

meiner Meinung nach geschieht eher<br />

die Nivellierung des Individuellen, das<br />

mangels verbindlicher Kriterien neben<br />

dem „gefällt mir, gefällt mir nicht“ auf<br />

vorgegebene Codes zurückgreifen wird,<br />

und diese beleuchte ich ja in meiner<br />

„Ästhetik der Ganzheit“ kritisch, wobei,<br />

was die Auflistung solcher Codes betrifft,<br />

C. Saehrendt und S. T. Kittl in ihrem Buch<br />

„Gebrauchsanweisung für Moderne Kunst“<br />

hervorragende Arbeit leisten.<br />

Die Disziplin des Diskurses geriet allein<br />

deshalb in Misskredit, weil eine<br />

Inszenierungs- und Medienkultur wie die<br />

unsere überhaupt zu keinem Thema längere<br />

Debatten zulässt. (Außer zum Thema<br />

Islam/Islamismus vielleicht, wo in übergreifender<br />

Islamophopie sich gar Falter-<br />

Journalisten mit BZÖ- Politikern beinaheverbrüdern<br />

– gesehen im Talk of Town<br />

anlässlich der Religionslehrerpolemiken).<br />

Ansonsten finden zu diversen jeweils aktuellen<br />

Gelegenheiten Club 2 Diskussionen<br />

statt, oder werden Stehgesprächsrunden<br />

zusammengetrommelt, doch die Reduktion<br />

von Information zur Ware, der zu<br />

Folge selbst (insbesondere) emotionale<br />

Betroffenheit rasch in bare Münze (bzw.<br />

Verkaufs- und Zuseherzahlen) umgesetzt<br />

wird, verunstaltet die Ideale der globalen<br />

Dauerinformation zum Medienrummel.<br />

Geschehnisse scheinen nur an einem Tag<br />

interessant, längstens solange nicht zu<br />

viele andere Fernsehstationen darüber<br />

berichteten. Zusammenhänge zwischen<br />

den Begebenheiten sind irrelevant,<br />

werden weder gesucht noch wenigstens<br />

anerkannt und das grausigste Ereignis<br />

ist einige Tage nach dessen medialer zu<br />

Tode Aktualisierung in der Flut der nachfolgenden<br />

„Informationen“ vergessen.<br />

Deshalb fordert das Volk kaum politische<br />

Verantwortung ein bei Krisen. Deswegen<br />

nimmt es sich selbst als außerhalb der<br />

Ereignisse stehend wahr. Darum sind die<br />

Informationsofferten der Massenmedien<br />

nur Unterhaltungsprogramm, bei dem<br />

Wichtiges erst wieder in den Fokus rückt,<br />

wenn die nächste unglaubliche Nachricht<br />

die Erde erschüttert – bis zum allernächsten<br />

Tag. So wächst indessen unbeachtet<br />

die alltägliche Gewalt, so verkommen<br />

unsere Kinder zu psychischen und emotionalen<br />

Krüppeln, so verdrängen wir die<br />

Probleme der Pflege in einer überalterten<br />

Gesellschaft, so auch ignorieren wir die<br />

erbarmungslose Ausbeutung Afrikas und<br />

schlittern starrenden Auges in die nächste<br />

Weltkrise (Klima und/oder Finanzen) - und<br />

blicken uns dann erstaunt um, weil keiner<br />

warnte.<br />

Alexander Schießling stellte im letzten<br />

(dem Winter-)st/a/r fest, dass desgleichen<br />

keine Literaturdiskurse (oder Kunstdiskurse<br />

generell) stattfinden. Saehrendt und Kittl<br />

bemerken eine Mutation der Kunstkritik<br />

(durch Kuratoren und Kritiker) hin zum<br />

elaborierten Werbeslogan, der Mega-<br />

Ausstellungen gewinnbringend einem<br />

Massenpublikum anpreisen soll. Diesen<br />

Überhang zu Vermarktungskriterien<br />

und vor allem zu einer allgegenwärtigen<br />

Oberflächenkunst konstatiert ebenfalls<br />

Schießling. Er meint allerdings, dass dieser<br />

Konsumkunst jene Talente gegenübergestellt<br />

gehörten, die im Schattendasein darbend<br />

im Leid ihrer Existenz die Initiation<br />

des Künstlers/Dichters erfahren. Meiner<br />

Einschätzung nach ist gegenwärtig (im<br />

Gegensatz zur klassischen Moderne)<br />

nicht Leid der Nährboden, aus dem Kunst<br />

quillt, sowenig ich freilich die augenblickliche<br />

Überhöhung des Erfolgreichen,<br />

Bekannten und Teuren (was alles meist<br />

im Originalitätsspektakel zusammenfließt)<br />

als Kunstkriterium anerkennen möchte.<br />

Der Zorn einiger gegenwärtig bedeutender<br />

AutorInnen/KünstlerInnen (gerade in<br />

Österreich – siehe Streeruwitz oder Jelinek,<br />

welcher im Speziellen für ihr unermüdliches<br />

politisches Engagement Anerkennung<br />

zu zollen ist) richtet sich gegen die<br />

Scheinschönheit der Glitzerwelt, wie sie<br />

Werbeindustrie und Hochglanzmagazine<br />

feilbieten. Doch funkeln die beiden - scheinbar<br />

sich ausschließenden - Welten als die<br />

zwei Seiten derselben Medaille. Auf der künstlich<br />

schillernden prostituieren sich junge<br />

Frauen, die gerne Top-Models wären durch<br />

den Seelenstriptease (bis von den Seelchen<br />

nichts mehr eigenes bleibt - Model im<br />

wahrsten Sinne des Wortes, hineingegossen<br />

die Erwartungen der schönen neuen<br />

Bilderwelt: wobei am katastrophalsten sich<br />

bei allen Super-Star-Shows die - nicht allzu<br />

- unterschwellige Botschaft auswirkt, es<br />

zählten nur die Besten, die Fittesten, die<br />

Konkurrenzbereitesten, Ehrgeizbesessenst<br />

en,Wettbewerbsgierigsten, Erfolgsgeilsten:<br />

trägt dann die Masse der „Verlierer“ nicht<br />

zu größerer Hoffnungslosigkeit in der<br />

Gesellschaft, zu Selbsthass und Projektion<br />

der verzweifelten Wut auf Randgruppen<br />

bei?) und über die Fernsehkanäle flimmern<br />

die Storys der Reichen, Schönen und<br />

Berühmten, doch auf der anderen Seite - im<br />

„Schatten“ - tummeln sich ebenfalls einige<br />

eitle GesellInnen, die ihren Schmerz zur<br />

Schau stellen, ihn zu vermarkten gemäß der<br />

Regel: der groß Leidende müsse zugleich<br />

der große Künstler sein. Solch Auffassung<br />

brachte nach meinem Verständnis eine<br />

Kunstideologie hervor, die Kunst seit der<br />

Aufklärung als Ersatzreligion begreift, die<br />

einerseits als eigenständige Religion (mit<br />

den entsprechenden Merkmalen, wie völlige<br />

Autonomie etc.) sich selbst verheißt,<br />

sowie andrerseits eine gewichtige Säule<br />

des Überbau der Moderne-Kultur mit<br />

deren Zentrierung ums Ich darstellt. Dazu<br />

müssen, wie in jeder richtigen Religion,<br />

Märtyrer die Übermenschlichkeit der<br />

Ideologie beglaubigen, die sich ja als weitaus<br />

wertvoller präsentieren will, als ein<br />

einzelner Mensch – sei es ein Genie –<br />

je sein kann. Optimal ist natürlich die<br />

Verquickung von beidem: Das Genie ist<br />

zugleich der jung versterbende und als<br />

Held der Moderne(-n Kunst) im Gedächtnis<br />

bleibende Einzelne. Das Genietum wird<br />

damit gewürdigt, der Einzelne unter die<br />

Idee vom Geniesein untergeordnet, doch<br />

verweist der Genialitätskult wieder auf<br />

Vergottung des Einzelnen, des Besonderen,<br />

des Individuellen zurück.<br />

Dass der im Schatten Wuchernde in seiner<br />

Vereinzelung leidet, dass er kein halbwegs<br />

normales, angenehmes Leben führt, tut der<br />

Idee des Großartigen keinen Abbruch. Im<br />

Gegenteil: dieses Unglücklich-Sein, dieses<br />

Leid garantiert ja erst die Wichtigkeit der<br />

von solch Verzweifelten hervorgebrachten<br />

Kunst. Hier muss ich Schießling widersprechen:<br />

ein gewaltiges Stück Narzissmus<br />

gehört zu einem Leben, das auf jegliche<br />

„normale“ Lebensqualität verzichtet, um<br />

vor sich selbst als Außerordentlicher, als<br />

Originaler, als Genie gelten zu können.<br />

Meiner Erfahrung nach quälen gerade die<br />

Talentierten unter den Künstlern/Dichtern<br />

sich leicht ein Leben lang mit dieser<br />

Märtyrerrolle herum, vor allem dann, wenn<br />

sie mehr oder weniger Erfolg haben und<br />

deshalb die Moderne-Masche durchzuziehen<br />

sich berufen fühlen, anstatt Wege aus<br />

dem Schlamassel persönlich zu suchen und<br />

künstlerisch aufzuzeigen.<br />

Aus ganzheitlicher Sicht liegt die<br />

Lösung weder im schönen Schein<br />

der Luxuskunst sich selbst vermarktender<br />

Künstler-Manager, noch in den<br />

Entbehrungen der Schattenexistenz oder<br />

der (oftmals) larmoyanten Konfrontation<br />

der „Durchschnittsbürger“ mit dieser<br />

Gräuel-Welt. Nicht soll den Leuten die<br />

Auseinandersetzung mit den verdrängten,<br />

mit den persönlichen und kulturellen<br />

Schatten erspart bleiben, nicht sollen<br />

die Schandflecken einer Kultur übertüncht<br />

werden, die - wie Schießling spannend hervorhebt<br />

- bereits heute Züge eines szientistischen<br />

Faschismus zeigt. „Der Fritzl steckt<br />

in jedem von uns“, spricht Hubsi Kramer<br />

mutig aus und wird dafür angefeindet, wie<br />

einst Urs Allemann, als er im „Babyficker“<br />

die Sichtweise des Kleinkinderschänders<br />

einnahm, den Leser mit verdrängten<br />

Schemen zu konfrontieren. Entrüstet brüllen<br />

gerade diejenigen auf, welche sich den<br />

eigenen Schatten nicht stellen: Kramer<br />

nutzt den öffentlichen Diskurs, um Kunst/<br />

Theater dorthin zu führen, wo sie/es auch<br />

Wolf Guenter Thiel gerne hätte: in den<br />

Fokus gesellschaftlicher Relevanz, den<br />

Kunst umfassender wieder erhalten könnte,<br />

sobald sie ethisch orientiert (alleine deshalb<br />

schon in einer gleichgültigen, auf Ignoranz<br />

und Profit ausgerichteten Welt) provoziert,<br />

und ihre diversen Stilmittel verstärkend zu<br />

diesem Zwecke nützt.<br />

Natürlich wird der Künstler/Autor den<br />

Einsatz der ästhetischen Mittel genau<br />

abwägen müssen. Provokation als beliebtes<br />

modernes Mittel allein erscheint zu<br />

wenig: sie dürfte nur Mittel zum Zweck<br />

sein – eben, wie es Kramer gelingt, um<br />

Aufmerksamkeit für Inhalte zu schaffen, sodass<br />

er den Zusehern bei „Talk of Town“ zu<br />

vermitteln vermag, dass die allgegenwärtige<br />

Sexualisierung und Pornographisierung<br />

der Gesellschaft zu vermehrtem sexuellen<br />

Missbrauch in den Familien führt.<br />

(Inwieweit ein Künstler dabei wieder bloß<br />

den Medienmarkt bedient wäre gesondert<br />

zu diskutieren, allzu großer Pessimismus<br />

erwiese sich als Hemmnis. Provokation<br />

als Selbstzweck allerdings dient nur der<br />

Eigenwerbung der Super-Markt-Künstler<br />

und der Profilierung sich aufplusternder<br />

Medienkonservativer).<br />

In einem Essay (erschienen in der wienzeile

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