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ST:A:R_22

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88 <strong>ST</strong>/A/R<br />

Neue Miniaturen<br />

Neue Miniaturen von Günther Kaip<br />

Nr. <strong>22</strong>/2009<br />

Wie selbstverständlich<br />

Wie selbstverständlich erschüttert das häufige<br />

Auftauchen der Gegenstände das Ergebnis.<br />

Ein Drittel unsere Zuversicht verschwindet<br />

im Messbecher, die anderen Teile werden in<br />

den Cocktail-Gläsern mit Eiswürfeln verrührt.<br />

Manchmal kommt noch ein Schuss einer<br />

Maßnahme dazu, mit Schlagobers aufgeschäumt,<br />

eine Brise Salz.<br />

Erfolgt dann mittels tiefer Einsicht der Befehl<br />

zur Zeitverkürzung, trinken wir folgsam unseren<br />

Cocktail, wischen uns die weißen Schnurbärte ab<br />

und schwängern unsere geschürzten Lippen mit<br />

Worten, die wir in obszönen Übersetzungen an<br />

die Toreinfahrten nageln.<br />

Ihr Schläfer<br />

Ihr Schläfer, zündet die Kerze an. Offen ist das<br />

Grab. Die Engel lungern am kalten Boden und<br />

heben bei jedem Gebet, das sie hören, den Kopf.<br />

Reichen sich die Hände. Zeigen die Zunge.<br />

Wie sie es gelernt haben. Schaut jemand in das<br />

Grab, und sei es ein Hund, erröten die Engel<br />

und schmücken sich schnell mit Nachbildungen<br />

ihrer Heiligenscheine. Natürlich vergessen sie<br />

nicht den Atem anzuhalten und ihre Hände zu<br />

falten, wie sie es in den Leichenhallen gelernt<br />

haben. Hier aber, in diesem einsamen Grab,<br />

fürchten sie sich, wissen nicht wohin, bis der Tote<br />

kommt. Schlagen sich ängstlich die Stunden um<br />

die Ohren, erzählen sich Geschichten, die bis zu<br />

seiner Ankunft ablenken sollen.<br />

Also kommt ihr Schläfer, steht den Engeln bei,<br />

denn der Tote möchte endlich in sein Grab.<br />

Die Beine und Arme<br />

Die Beine und Arme werden sorgfältig<br />

zusammengelegt, bis sie faustgroß sind,<br />

mit Zellophan verschweißt und in die dafür<br />

vorgesehenen Regale gelegt. Nichts deutet<br />

auf Verfolgung hin, auf Brandschatzung und<br />

Verleumdung. Kommt jemand vorüber, grüßt<br />

er anständig und tastet automatisch nach seinen<br />

eigenen Beinen und Armen. So ist es uns auch<br />

einmal ergangen, wir erinnern uns an die Lust,<br />

über die Schenkel zu streichen, über die Arme,<br />

es war ein Augenblick der Unterwerfung, und<br />

doch, in unserem Größenwahn setzten wir diese<br />

Bewegung mit dem Ursprung der Welt gleich.<br />

Heute aber sitzen wir vorne an der Kassa, schieben<br />

die faustgroßen Zellophanbällchen über den<br />

Scanner und halten die Hand auf. Manchmal sind<br />

wir deprimiert darüber, dass in einem Jahr sich<br />

nur zwei drei Kunden zu uns verirren, die, haben<br />

sie erstmal erkannt, was sie kaufen und wo sie sich<br />

befinden, mit aller Gewalt dazu überredet werden<br />

müssen, ihre Handlung zu Ende zu bringen.<br />

Unterdessen<br />

Unterdessen hatte das Pferd sein Rosshaar im<br />

Schweißtrog neben der Scheune gewaschen.<br />

Acht Uhr Abend war es, und die Sonne ging erst<br />

jetzt im Westen auf, blass vom Schlaf, an den<br />

Rändern zerknittert. Um der Scheune trieben sich<br />

Kleintiere herum, stets darauf bedacht dem Pferd<br />

nicht zu nahe zu kommen. Übrigens saß auch<br />

ein Reiter im Sattel und fönte das lange Rosshaar,<br />

funkelnde Fäden zwischen den Fingern, die nur<br />

drei an der Zahl waren. Auf dem Kopf hatte er<br />

einen alten Schlapphut<br />

auf, den Schmetterlinge<br />

und Gelsen in edler<br />

Eintracht umkreisten.<br />

Im nahe gelegenen Teich<br />

veranstaltete ein Fuchs<br />

Tauchübungen, schnorchelte<br />

elegant zwischen den Seerosen.<br />

Einige Bäume kamen aus dem<br />

Wald, um besser zu sehen. Ein<br />

Habicht stieß vom Himmel,<br />

verlor die Kontrolle über seinen<br />

Sturz und landete im Misthaufen.<br />

Dieser dumpfe Aufprall ließ alle<br />

Anwesenden zusammenfahren - das<br />

Pferd machte einen Satz, warf dabei<br />

den Reiter in hohem Bogen aufs<br />

Scheunendach, das unter dieser Last<br />

einbrach, und der Reiter knallte mit<br />

voller Wucht in den Fresstrog des<br />

Schweins, das gerade Abendtoilette<br />

machte und empört das Weite suchte,<br />

während die Schmetterlinge und<br />

Gelsen irritiert in der Luft standen<br />

und schließlich zum Weiher flogen,<br />

wo der Fuchs sich mit letzter Kraft<br />

ans Teichufer retten konnte, denn<br />

er hatte wieder einmal seine Kräfte<br />

überschätzt, während die Bäume<br />

enttäuscht im Wald verschwanden, und einzig<br />

der Mistkäfer blieb gelassen, bettete den Kopf des<br />

Habichts auf seinen Schoß, bog seinen Schnabel<br />

wieder gerade und untersuchte ihn nach anderen<br />

Verletzungen.<br />

Da es gerade neun Uhr wurde, packte die Sonne<br />

ihren Korb mit den Essensresten voll und rollte<br />

hinter den Horizont. Morgen würde sie zu Hause<br />

bleiben, denn niemand hatte sie beachtet. Das war<br />

nicht fair.<br />

Ein viel versprechender<br />

Anfang<br />

Ein viel versprechender Anfang waren die<br />

feuchten Spuren auf dem himmelblauen Flanell.<br />

Weiters ein vorbeifahrender Lastkraftwagen, der<br />

die Glasscheiben zum Vibrieren brachte, ein<br />

vergessener steif gefrorener Mantel im Schneefeld<br />

vor dem Haus, die durchgestrichenen Summen<br />

im Kassabuch, das in der weiß gekachelten Küche<br />

auf dem Tisch lag. Doch es half nichts. Das<br />

Handlungsregister hing im Vorraum aus, durch<br />

den sich ein breiter Strom von Schneematsch<br />

wälzte, sich an den Zimmertüren aufstaute und<br />

in Kürze bis an die Decke reichte. Dazu kam die<br />

unerwartete Mondfinsternis, die vom Geschehen<br />

ablenkte. Irgendwo hustete ein Mensch, was<br />

natürlich zu keinem Ergebnis führte. Die Dünung<br />

der Landschaft zeigte kleine Auffälligkeiten<br />

und erklärte sich bereit, neue Instruktionen zu<br />

empfangen. Inzwischen trockneten die feuchten<br />

Spuren auf dem himmelblauen Flanell. Der Mond<br />

bleibt verschwunden, und jetzt erhebt sich der<br />

steif gefrorene Mantel aus dem Schnee und geht<br />

übers Feld. Irgendwo hustet wieder ein Mensch.<br />

Hiermit können wir die Beweisführung<br />

abschließen und zu den Akten legen.<br />

Hast du schon<br />

Hast du schon den liebenden Blick des Todes<br />

gesehen, wenn er sich entschieden hat.<br />

Gleichgültig, wo er sich gerade befindet - sein Leib<br />

leuchtet in dieser diamantenen Nacht, errichtet<br />

Pyramiden, ist das Rauschen des Mississippi, das<br />

erste Dämmern des Tages, das Licht der Sonne<br />

und die Farben des Regenbogens, die heiße Zunge<br />

im Mund, der Speichel, das Herz und die Lunge,<br />

der Schatten auf der Haut, der Schweiß in den<br />

Achselhöhlen - die Erde dreht sich mit ihm ins<br />

Universum, während er dir geduldig den Staub<br />

von den Schultern bläst.<br />

Klettere weiter<br />

Klettere weiter, nimm die Hände aus den<br />

Hosentaschen, denn sonst wird es nichts mit<br />

deinem Gebet an die untergehende Sonne. Noch<br />

zerrst du den Glauben an gestern hinter dir her,<br />

sein Blut erstickt die Wasseradern, wird Kruste.<br />

Über dir der lautlos schwingende Adler, im<br />

Aug’ seine Kapelle mit all ihren Turbinen und<br />

Dynamos, dazwischen ihre zerbrochene Achse<br />

und die heilende Quelle. Die musst du erreichen,<br />

… Fortsetzung folgt (vielleicht)<br />

Günther Kaip, geboren 1960 in Linz, nach diversen Jobs 1980 Übersiedlung nach<br />

Wien, wo er seit 1991 als freier Autor lebt. Er schreibt lyrische Prosa für Erwachsene<br />

(häufig in Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern) und poetische Geschichten<br />

für Kinder (etwa – gemeinsam mit der Illustratorin Angelika Kaufmann – über die<br />

Riesenschlange „Kurt“). Publikationen (u.a.): „Trash“ (2004). „Nacht und Tag“<br />

(2005)

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