ST:A:R_22
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Städteplanung / Architektur / Religion<br />
Buch XI-<br />
Wie es war und wie es gewesen sein wird<br />
Eine Fortschreibung von Geschichte und Literatur nach der Shoah<br />
von Doron Rabinovici<br />
Es war einmal. Märchen heben so Fachwerken zahlreiche Gelehrte wieder giert genannt, und das ist gar nicht nett<br />
an und machen Kinder lauschen. zu Kindern und spielen einander vor, gemeint. Der Streit, ob die Historiographie<br />
distanziert oder parteilich sein<br />
Es war einmal, so klingt das Signal,<br />
es gäbe eine Forschung ohne Forscher,<br />
das alle Kleinen aufhorchen läßt,<br />
so lautet die Parole, mit der Feen, Hexen<br />
und Zauberer aufgerufen, mit der<br />
Elfen, Riesen und Drachen zum Leben<br />
erweckt werden. Vor langer, langer<br />
Zeit, in einem fernen Land, jenseits aller<br />
Ortsangaben und Jahreszahlen wird<br />
das schlechthin Gute vom Bösen par<br />
excellence bedroht, aber nie besiegt.<br />
Es war einmal, bedeutet uns, die wir<br />
erwachsen sind, daß nun erzählt wird,<br />
was so nie geschah, aber gleichzeitig<br />
wird mit diesen Worten behauptet, daß,<br />
wenn, wovon die Fabel berichtet, auch<br />
nie war, die Mär dennoch ein für allemal<br />
wahrhaftig war und wahr bleibt,<br />
jenseits aller Wirklichkeit. Ihre Aussage<br />
scheint durch die Überlieferung abgesichert,<br />
wobei für jedes Sprichwort, für<br />
jede Volksweisheit und für jede Volksweise<br />
immer schon ein Gegenstück in<br />
der Tradition existiert. Die alten Redensarten<br />
widersprechen einander seit<br />
jeher, aber wirken dennoch fort; und<br />
wenn sie nicht gestorben sind, dann leben<br />
sie noch heute.<br />
Wenn Volljährige Legenden lesen, erwarten<br />
sie zumindest seit der Aufklärung<br />
keine historisch gesicherte Darstellung.<br />
Nicht wenige verlangen hingegen<br />
von der Geschichtswissenschaft,<br />
was sie in den Epen und Mythen nicht<br />
mehr finden können. Das historische<br />
Fach macht Mündige wieder hörig,<br />
macht selbst Gottlose wieder gläubig.<br />
Hier suchen sie die Offenbarung, wie<br />
es einmal war, wie es einmal wirklich<br />
war. Von der universitären Lehre wird<br />
Objektivität und rationale Distanz verlangt,<br />
wohingegen die Literatur dem<br />
Subjektiven und dem Gefühl zugeordnet<br />
bleibt. Weil die Geschichte über<br />
unumstößliche Fakten verfügt, sollen<br />
die Menschen aus ihr lernen, und zuweilen<br />
klingt diese Hoffnung, als wä-<br />
als verfügte der Akademiker nicht über<br />
einen Standpunkt und wäre frei von Interessen.<br />
Wissenschaftlicher Wandel spiegelt<br />
gesellschaftlichen wider. Nicht neue<br />
Fakten, denn die alten hätten allemal gereicht,<br />
um dem Glauben an eine arische<br />
Herrenrasse abzuschwören, sondern<br />
die militärischen und politischen Siege<br />
über den Nationalsozialismus änderten<br />
die Weltsicht, etwa den Sprachgebrauch<br />
der Erblehre - oder in moderner Terminologie,<br />
der Humangenetik; änderten<br />
nicht bloß das Vokabular, sondern<br />
ebenso einige Thesen und Praktiken<br />
dieses Faches.<br />
Mit diesen Worten soll nicht ein weiterer<br />
der zahlreichen Nachrufe auf die<br />
Aufklärung angestimmt werden. Ebenso<br />
will ich nicht behaupten, es gäbe gar<br />
keine Geschichte, weil es derer so viele<br />
gibt. Gewiß; die Historie kennt keine<br />
sprachliche Pluralform, eben weil sie<br />
bloß in der Mehrzahl existiert, und es<br />
läßt sich kein roter Faden, kein einziger<br />
unbeschadeter unter den vielen Garnen<br />
finden, an dem die eine große Erzählung<br />
aller Menschen geknüpft ist. Was<br />
da von uns zusammengebunden wird,<br />
hängt nicht an einem Zwirn, sondern<br />
ist Flickwerk, das in seinem Ganzen<br />
wahrgenommen werden kann oder als<br />
Bruchstück. Aber was gesponnen wird,<br />
ist nicht schiere Willkür, ist nicht bloß<br />
Spiegelbild unserer Vorlieben. Was die<br />
Wahrheit ist, darüber mag diskutiert<br />
werden, nicht geleugnet werden kann<br />
jedoch die Existenz der Halbwahrheit<br />
und der blanken Lüge.<br />
Zurecht wurde nach dem Sieg über<br />
den Nationalsozialismus die scheinbare<br />
Objektivität der Wissenschaft kritisiert.<br />
Jaques Presser, Schriftsteller und Historiker,<br />
Autor des zweibändigen Standardwerkes<br />
„The Destruction of the Dutch<br />
müsse, wurde polemisch geführt. Eine<br />
Wissenschaft, die einen Standpunkt<br />
einnehme, werde von persönlichen Ansichten<br />
beherrscht, hieß es, und in der<br />
Tat, abschreckende Beispiele gab es genug;<br />
Akademiker, die sich den Dogmen<br />
der Macht und der Macht der Dogmen<br />
unterwarfen. Für sie ist Geschichte bloß<br />
ein Vorspiel. Neue Erkenntnisse mögen<br />
daran nichts mehr rütteln. Die Zukunft<br />
ist gewiß, bloß die Vergangenheit ändert<br />
sich laufend.<br />
Jaques Presser bezog Stellung, um<br />
seine Position offenzulegen. Ein solches<br />
Vorgehen bedeutet ein mehr an Fairneß<br />
und Redlichkeit als das Verlangen nach<br />
Gelassenheit. Was aber ist redlich, und<br />
wem gegenüber sollte die historische<br />
Forschung es sein? Die Forderung, die<br />
Opfer gerecht zu behandeln, scheint banal,<br />
doch unklar bleibt, was das bedeutet.<br />
Während die Täter kein Anrecht auf<br />
Anonymität haben und nicht aus ihrer<br />
Verantwortung entlassen werden können,<br />
den Mördern in der historischen<br />
Darstellung keine Diskretion gewährt<br />
werden darf, sollen die Opfer in ihrem<br />
Leid nicht sensationslüstern zur Schau<br />
gestellt werden. Noch darf dem Opfer<br />
ein zweites Mal seine Existenzberechtigung<br />
als Individuum, sein Platz in der<br />
Geschichte verweigert werden.<br />
Wenn von der Geschichtsschreibung<br />
Redlichkeit verlangt ist, was hieße das<br />
gegenüber den Tätern? Etwa, daß sie<br />
sich in der Darstellung wiedererkennen<br />
sollten? Fast alle der im Nürnberger<br />
Prozeß angeklagten Spitzenfunktionäre<br />
des „Dritten Reiches“ präsentierten sich,<br />
wenn es um die Vernichtung der Juden<br />
ging als schiere Befehlsempfänger. Einer<br />
der Untergebenen Eichmanns,<br />
Franz Novak, sagte etwa aus:<br />
„Ich selbst war kein ausgesprochener<br />
Judenhasser. Man muss sich aber die<br />
Forschung, die einst vom Verbrechen<br />
dienstbar gemacht werden konnten.<br />
Ebenso abzulehnen ist eine Sicht, die<br />
zur Dämonisierung neigt, und damit<br />
gleichsam sakral überhöht, was unterschiedliche<br />
Menschen unterschiedlichen<br />
Menschen zufügten. Damit ist<br />
nicht gemeint, es ginge einfach darum,<br />
die Banalität zu zelebrieren, der Mörder<br />
sei ein Mensch gewesen wie alle anderen<br />
auch, der Hunde gestreichelt, Kinder<br />
getätschelt und unter Flatulenzen<br />
gelitten habe. Wer nicht wegschauen<br />
will, kann erkennen, daß sich seit einiger<br />
Zeit ein Blickwinkel durchsetzt,<br />
der von den Opfern der Vernichtung<br />
absieht, um das Augenmerk den Mitläufern<br />
und Tätern zuzuwenden. Wir<br />
werden dunkle Kinosäle geladen,<br />
um uns den Führerbunker, ja, Hitler persönlich zu versetzen, zumindest<br />
aber jene, die ihm dienten, ihm<br />
nahe waren und ihn vergötterten. Wo<br />
nichts als Verblendung war, soll Aufklärung<br />
erwachsen. Vom so genannten<br />
ren die Opfer nichts als pädagogische<br />
Ge-Rabin<br />
ei-Rabin<br />
Jews“ , der Geschichte der Verfolgung<br />
damalige Zeit vergegenwärtigen, mit<br />
Untergang, dem Millionen ihre Rettung<br />
Anschauungsobjekte aus einer Lehr-<br />
der Juden den Niederlanden, und des<br />
der ungeheuren von oben geleiteteten<br />
verdanken, wird erzählt, von jenem Un-<br />
mittelsammlung. Ist aber so eindeutig,<br />
einzigartigen Romans „Die Nacht der<br />
Propaganda gegen die Juden. Sicher<br />
tergang, der bereits damals als Götter-<br />
was uns die Geschichte beibringt? Vor<br />
Girondisten“ versuchte nie zu verheh-<br />
war ich kein Judenfreund. Mit diesen<br />
dämmerung inszeniert worden war. Ein<br />
einiger Zeit versammelte sich etwa der<br />
len, von welcher Position aus er schrieb,<br />
harten Maßnahmen war ich aber nicht<br />
Drama im übelsten Sinne des Wortes.<br />
Generalstab der israelischen Armee ja schreiben mußte. Der jüdische Über-<br />
einverstanden. Ich kann nicht einmal<br />
Selbst die Darstellung seines Suizids<br />
Yad va Shem. Die Medien waren nicht<br />
lebende, der untergetaucht dem Mas-<br />
sagen, ob Eichmann ein ausgesproche-<br />
folgt den Regieanweisungen des Mas-<br />
geladen. Die Veranstaltung war nicht<br />
senmord entrann, war um Sachlichkeit<br />
ner Judenhasser war.“<br />
senmörders. Das Drehbuch hält sich an<br />
eines der öffentlichen Rituale des bemüht, und dennoch, oder vielmehr<br />
Gewiß; alles ist relativ. Was bedeu-<br />
die Mythen der Mitläufer. Damals wie<br />
denkens. Intern sollte die Bedeutung<br />
eben deshalb, ließ er keinen Zweifel<br />
tete es genau, unter den SS-Männern<br />
heute können die Zuschauer angesichts<br />
der Shoah diskutiert werden. An darüber, daß er nicht bloß über die Op-<br />
der Wiener „Zentralstelle für jüdische<br />
des Führers einen wohligen Schauer<br />
nem Punkt brach heftiger Streit aus. Es<br />
fer berichtete, sondern ihrem Namen<br />
Auswanderung“ und im Vergleich zu<br />
verspüren, denn der Diktator war immer<br />
ging um die Frage, ob die Erinnerung<br />
sprach. Was an Presser unter anderem<br />
all diesen anderen nazistischen Mas-<br />
schon ein mediales Ereignis, das erst im<br />
an den Massenmord den israelischen<br />
besticht, ist die Redlichkeit, mit der er<br />
senmördern kein „ausgesprochener Ju-<br />
Zwielicht ganz zur Geltung kam. Das<br />
Soldaten, im Kampf gegen die zweite<br />
seiner Arbeit nachging. Er spiegelte<br />
denhasser“ gewesen zu sein? Und wer<br />
Janusgesicht aus Zucht und Willkür,<br />
Intifada nütze oder schade. Offiziere,<br />
niemandem vor, seine Untersuchung<br />
wollte schon nach 1945 erzählen, wel-<br />
aus Unrecht als Ordnung und Ordnung<br />
die dem Friedenslager zugerechnet mit ebensolcher Geisteskälte angehen che antijüdischen Töne er noch wenige im Unrecht, aus Disziplin und Pogrom,<br />
werden können, und das sind in Israel<br />
nicht wenige, diese linkeren Offiziere<br />
also meinten, Auschwitz sollte gedacht<br />
zu können, wie manch Entomologe<br />
der Erforschung von Ungeziefern, und<br />
das war ehrlicher als die Bekundungen,<br />
Jahre vorher gespuckt hatte?<br />
Redlichkeit gegenüber den Tätern<br />
heißt nicht, sich dem Plädoyer der Mör-<br />
war das Erfolgsrezept des Nazismus.<br />
Der Untergang war kein geschichtlicher<br />
Zufall, sondern Konsequenz der apoka-<br />
werden, um einen zügelnden Einfluß<br />
auf die Rekruten auszuüben und um an<br />
humanistische Traditionen anzuschließen.<br />
Die Falken im Militär vertraten<br />
hingegen die Ansicht, das Gedenken an<br />
die Ermordung der europäischen Juden<br />
sollte eher der Stärkung des israelischen<br />
Verteidigungswillens dienen.<br />
Die politische Anschauung bestimmt<br />
die historische Sichtweise, doch trotz<br />
dieser banalen Erkenntnis werden vor<br />
es ließe sich die Vernichtung kühl betrachten,<br />
ohne durch dieses Paradigma<br />
bereits Stellung bezogen zu haben. Wer<br />
der eigenen Voreingenommenheit begegnen<br />
will, muß die Suche nach ihr<br />
aufnehmen. Auf diese Weise kann erkannt<br />
werden, welche unserer inneren<br />
Projektionen einleuchtender scheinen<br />
als alle Aufklärung.<br />
Die Art der Geschichtsschreibung, die<br />
Presser repräsentiert, wird gerne enga-<br />
der anzuschließen, sondern eher, ihr<br />
Wesen und ihr menschliches Dasein<br />
den Lesern begreifbar zu machen, ohne<br />
deshalb einer Apologie zu verfallen, die<br />
aus dem Verstehen ein Verständnis für<br />
die Untat macht? Wie das Verbrechen<br />
nicht so schildern, daß alles im Nachhinein<br />
unvermeidbar und beinah notwendig<br />
erscheint? Wer nichts als Objektivität<br />
und den kühlen Blick sucht,<br />
wiederholt die Fehler jener Art von<br />
lyptischen Sehnsucht, denn fest stand,<br />
daß die Entscheidung eine totale, eine<br />
endgültige sein sollte. Pech bloß, aus<br />
der Perspektive der Nazis ein Mißgeschick<br />
sozusagen, daß sie die Unterlegenen<br />
waren, daß es sie letztlich selbst<br />
traf. In seinem Buch „Kitsch und Tod“<br />
deckte Saul Friedländer diese Ideologie<br />
der Vernichtung auf und schilderte die<br />
Faszination, die von ihr auch Jahrzehnte<br />
danach noch ausgeht.