ST:A:R_36
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Nr. <strong>36</strong>/2013<br />
5<br />
Andreas F. Lindermayr Aus Anlass von 10 Jahre <strong>ST</strong>/A/R<br />
Es spricht sich herum, dass<br />
besonders Architekten einen<br />
Narren an den Theorien von<br />
Giles Deleuze gefressen haben.<br />
Liegt wohl daran, dass Deleuze,<br />
wie kein anderer Philosoph, der<br />
Immanenzebene, als der reinen<br />
Oberfläche des Daseins, – der<br />
Objektität, wie Schopenhauer<br />
sich ausdrückt – eine Lanze gebrochen<br />
hat. Dass er dabei die<br />
Transzendenz völlig verwarf,<br />
war nicht gerade zielführend,<br />
erlaube ich mir hervorzuheben.<br />
Unter den zahlreichen Architekten<br />
in meinem Freundeskreis<br />
trifft eine solche Sichtung der<br />
Dinge, wie sie für Deleuze charakteristisch ist, auf keinen so<br />
zu, wie auf Heidulf Gerngross. Aber da spielen auch moderne<br />
Ideen eine Rolle, wie die eines Schadewald, die aber gar nicht<br />
so modern sind, da schon der Kirchenvater Augustinus etwas<br />
Vergleichbares gesagt hat. Und der Bauhaus–Mitbegründer<br />
Mies van der Rohe beruft sich<br />
sogar explizit auf Augustinus, auf dessen Ausspruch: Schönheit<br />
ist das Leuchten der Wahrheit.<br />
Fassen wir den Stier bei den Hörnern! Um zu umschreiben,<br />
worauf ich hinaus will, wäre es angeraten, sich auf Kierkegaard<br />
zu besinnen, dessen 200. Geburtstag wir heuer feierten bzw. zu<br />
feiern verabsäumten. – Man hört ja nichts und sieht ja nichts!<br />
Radio– und Fernsehanstalten hierzulande hüllen sich über den<br />
großen Dänen in Schweigen. Was nun Deleuze mit Kierkegaard<br />
für mich persönlich verbindet, das ist das Paradox.<br />
Deleuze entwirft in der Logik des Sinns eine ganze Serie von<br />
Paradoxa und schießt sich zur Erklärung dessen, was er damit<br />
meint, auf Lewis Carrols „Alice in Wonderland“ ein, auf ein<br />
beunruhigendes Kuscheltier, wie die Cashire Katze.<br />
Auch in den Koans des Zen–Buddhismus spielt das Paradox<br />
eine zentrale Rolle, aber nicht, um Sinn aus Unsinn zu<br />
produzieren, wie Deleuze uns in der Logik des Sinns vorführt,<br />
sondern, um mit dem Höchsten eins zu werden, um Buddha<br />
zu werden, – was einer völligen Umwandlung der Charakterstruktur<br />
entspräche und dem Ansatz von Deleuze einigermaßen<br />
zuwider läuft. – Von einer derart radikalen Umwandlung, Transformation<br />
des ganzen Menschen, ist ja doch in keiner seiner<br />
bedeutenderen Schriften die Rede. Wenn auch Vieles von<br />
Deleuze sich dieser Sache gefährlich nähert. Ganz anders<br />
Kierkegaard, den ich heuer zum ersten Mal, und zwar mit<br />
großem Vergnügen, las.<br />
In „Furcht und Zittern“ beispielsweise, ist explizit von einem<br />
Paradox des Glaubens die Rede, und zwar in Anbetracht von<br />
Abrahams erschütternder Tat auf dem Berg Morija. So viel mir<br />
bekannt ist, dürfte genau daran, der Entwurf eines Weltethos<br />
von Hans Küng, anknüpfen. Auf Abraham als Ur–Vater des<br />
Glaubens berufen sich nicht nur Juden, sondern auch Christen<br />
und Moslems.<br />
Aber, der Glaube den Kierkegaard damit umreisst, ist etwas<br />
ganz Anderes als man gemeinhin darunter versteht. Dieser<br />
Glaube hat so gut wie nichts mit einer Ausrichtung auf ein besseres<br />
Jenseits, aber alles mit einem unerschütterlichen Urvertrauen<br />
in eine gedeihliche Entwicklung der Dinge zu tun. – Trotz<br />
all des Fatalen und Fürchterlichen, das dazwischen kommen<br />
kann.<br />
Vielleicht besteht nun genau darin das Bindeglied, zwischen so<br />
unterschiedlichen Positionen wie der eines Giles Deleuze/<br />
Heidulf Gerngross (Immanenzebene, Wunsch–Produktion,<br />
freies Fliessen der Kreativität) und Kierkegaard?<br />
Was mir an Heidulf Gerngross imponiert, ist seine unverhohlene<br />
Direktheit. Ich erinnere mich noch gut, als er eines Tages,<br />
ich glaube es war 2005 im Futuregarden, auf mich zu ging und<br />
mich gerade heraus gefragt hat: „Du bist doch „der Philosoph“,<br />
willst nicht einmal für meine Zeitung was schreiben?“<br />
Ich habe prompt zugesagt und bin bald darauf in die Capistrangasse<br />
gegangen, um Heidulf Gerngross, der gerade im Bett lag<br />
und genüsslich seine Zeitung studierte, einen Tagebuchauszug<br />
vorzulesen. Nach jedem Absatz, merkte er ergriffen an, „Des is<br />
guat, des kau ma so lossn!“<br />
Der Auszug wurde nun, wenn auch unter dem heftigsten Protest<br />
des damaligen „Chefredakteurs“ im <strong>ST</strong>/A/R gedruckt und meine<br />
„Karriere“ als Kolumnist nahm ihren Lauf. Konstitutiv für diese<br />
Zusammenarbeit wurde eine charakteristische Zufälligkeit.<br />
– Ich schrieb über seltsame Zusammentreffen, über Dinge, die<br />
mir zustießen. So zum Beispiel über Wetterkapriolen und Begegnungen,<br />
auch mit Tieren, mitten in der Stadt. Dann über ein<br />
geplantes Treffen mit dem Erforscher sozialer Randgruppen,<br />
Roland Girtler, im Cafe Landtmann. Dann über Nietzsche in Sils<br />
Maria, Naumburg, Weimar, über eine Reise nach Unbekannt,<br />
über meinen autoritären Vater. Die Besprechung meiner<br />
Zeitungsartikel erfolgte fast ausschließlich bei Nacht in bestimmten<br />
Lokalen des sechsten Wiener Gemeindebezirks.<br />
Wir trafen uns etwa im Eissalon oder im Einhorn und trotzdem<br />
immer genau dann, wenn es in einem gewissen Sinne notwendig<br />
wurde. Signifikant war ein Treffen im Einhorn, als Heidulf<br />
Gerngross auf einen Zug wartete, der ihn in der Früh vom<br />
Südbahnhof weg über Kärnten nach Italien bringen sollte. Da<br />
hatte ich bereits „Die Krankheit zum Tode“ von Kierkegaard gelesen<br />
und es kamen mir allerhand seltsame Einfälle. Ich dachte,<br />
ich wüsste über Kierkegaard schon bescheid, weil ich seinen<br />
Stellenwert in der Geistesgeschichte einigermaßen einschätzen<br />
konnte. Aber als ich die Einleitung zur Krankheit des Todes las,<br />
wurde mir mit einem Schlag bewusst, dass mein Wissen über<br />
Kierkegaard im Allgemeinen, samt den Kommentaren von Jaspers,<br />
Heidegger, Sartre usw den Kierkegaard im Original keinesfalls<br />
ersetzen können. – Man sollte die großen Philosophen<br />
alle im Original lesen. Es stellte sich sofort heraus, dass hier<br />
ein mit allen Wassern gewaschener Hegelianer auf seine Kunstfertigkeit<br />
pfeift, zugunsten eines ganz Anderen. (Die Leiter, die<br />
Wittgenstein meint, die man, nachdem man auf ihr hinaufgestiegen<br />
ist, einfach wegwirft.)<br />
Urplötzlich sah ich mich veranlasst, Kierkegaard mit Tertullian<br />
zu vergleichen, der für C. G. Jung in seiner Typenlehre das<br />
Sacrificium Intellectualis verkörperte und damit den Modell–Fall<br />
eines introvertierten Typen.<br />
– Der Intellekt wird zu einer Gefahr, wenn man nicht bereit ist,<br />
von ihm zu lassen. Man wird zum Sonderling und Sophisten, im<br />
schlimmsten Fall zu einem Eristiker, dessen ganze Kunst darauf<br />
hinausläuft, sich heraus zu reden.<br />
Der Gegenpol zum Intellekt, ist dasjenige was Schopenhauer<br />
den Willen nannte, woran Jung ganz offensichtlich anknüpft.<br />
Und das extravertierte Pentent zu Tertullian bildet, zumindest<br />
in Jungs Typenlehre, Origenes, der ein glänzender Redner war<br />
und gewiss Glück bei Frauen hatte, der sich aber durch seine<br />
Entmannung, die vielleicht eh nur eine rein symbolische Handlung<br />
war, dem Sacrificium Phalli unterworfen hat. – Um seine<br />
Macht, seine Unwiderstehlichkeit fühlen zu lassen, muss man<br />
auf sie jederzeit verzichten können, weil sie im Grunde niemandem<br />
gehört. – Sola fide, dass Gott ist, genügt.<br />
Entspricht das nicht irgendwie dem Schicksal Nietzsches, der<br />
von der Vision des Übermenschen in Bann gehalten, einen<br />
unbeugsamen Willen zur Macht ausrief und dafür in geistige<br />
Umnachtung fiel?<br />
Ich sass, wie gesagt im Einhorn Heidulf Gerngross gegenüber,<br />
der mit Kugelschreiber eine Skizze zeichnete, um mir seine bevorstehende<br />
Bahnfahrt nach Italien, zu seinem Brillen–Designer<br />
zu veranschaulichen, als mir dieser Gedanke kam. Darauf entwickelte<br />
sich, wie so oft schon ein Gespräch über Altitheia, die<br />
Unschuld des Werdens, den Gegenpol des Willens zur Macht.<br />
Man könnte das alles, diese seltsamen Zufälle, Einfälle, diese<br />
denkwürdigen Zusammenklänge, den morpho–genetischen<br />
Feldern in die Schuhe schieben, aber ist nicht das Wort Geist<br />
letztendlich viel beredter, viel gehaltvoller?<br />
Ein bis zwei Monate später, traf ich Heidulf Gerngross im Eissalon.<br />
Er kam von seinem Ex–Kollegen Richter, der an Alzheimer<br />
erkrankt war und schilderte mir gerührt den Eindruck, den<br />
dieser auf ihn gemacht hat. Ich fand erstaunlich, dass Gerngross,<br />
der erklärte Agnostiker und Atheist, ringend nach einem<br />
adäquaten Wort, auf einmal Töne anschlug, die mir aus einem<br />
ganz anderen, entgegengesetzten Eck vertraut waren:<br />
„Richter kommt mir in seiner Krankheit vor, wie ein Heiliger. Ich<br />
weiss nicht wie ich es sagen soll. Jedenfalls, die Krankheit, mit<br />
der er ringt, macht ihn irgendwie großartig.“<br />
Nun, Wittgenstein sagt in etwa, was sich nicht sagen lässt, zeigt<br />
sich.<br />
Und wozu Symbol und Metapher, wozu Dichtkunst, wenn sich<br />
eh alles was sich sagen lässt, klar sagen lässt? Ich habe noch<br />
nie einen sterbenden Menschen begleitet, aber immerhin verschiedene<br />
Geburten mitbekommen. Ungeheuer das fühlbare<br />
Potential, das so einem Säugling innewohnt. Und dass das Ableben<br />
ein umgekehrter Prozess ist, liegt auf der Hand. Zwischen<br />
Geburt und Tod oszillieren die Dinge, aber nicht wie in der Logik<br />
des Sinns, auf einer Ebene, sondern stets zwischen Potentialität<br />
und Aktualität, zwischen Leben und Tod. Ad infinitum. Wir<br />
sind allemal sterbend Werdende.<br />
Worauf Kierkegaard insistiert, ist eine zweite, geistige Geburt.<br />
Das setzt voraus, dass es so etwas gibt wie einen unvergänglichen<br />
Wesenskern, Geist und Innerlichkeit. Das macht eine<br />
Anstrengung erforderlich, die Kierkegaard den Sprung nennt.<br />
Wenn das alles gegenstandslos, weil reine Einbildung sein sollte,<br />
geht man vielleicht mit Deleuze und springt in einer<br />
Lebenskrise, nach unten, in den Tod. Der Sprung den aber<br />
Kierkegaard meint, ist ein Sprung in eine andere Seinsweise,<br />
ein Sprung ins ewige Leben – in die ewige Lebendigkeit, wie<br />
Nietzsche sich ausdrückt.