Die Schreie der Fledermäuse DDR-Literatur nach 1961 Von Jörg B ...
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Es waren vor allem zwei Prosatexte, die die Grenzen des vom Staat gesetzten Rahmens<br />
zwischen noch geduldeter und schon verbotener <strong>Literatur</strong> ausloteten: Volker Brauns<br />
„Unvollendete Geschichte“ (1975) und Reiner Kunzes Miniaturen „<strong>Die</strong> wun<strong>der</strong>baren Jahre“<br />
(1976). Volker Brauns Erzählung wurde im Dezemberheft 1975 in <strong>der</strong> Zeitschrift „Sinn und<br />
Form“ gedruckt, als Wilhelm Girnus Chefredakteur war. Das Heft war heiß begehrt und rasch<br />
vergriffen, die westdeutsche Taschenbuch-Ausgabe wan<strong>der</strong>te konspirativ durch die Republik,<br />
als Buch gedruckt wurde <strong>der</strong> aufrührerische Text erst <strong>nach</strong> dem Mauerfall, als er nur noch<br />
historischen Wert hatte. <strong>Die</strong>se Erzählung, <strong>der</strong>en Titel sowohl das unglaubliche Schicksal von<br />
Karin und Frank in Magdeburg meint als auch den <strong>DDR</strong>-Geschichtsverlauf , <strong>der</strong> eines Tages<br />
in die klassenlose Gesellschaft einmünden soll, wurde im „Spiegel“ vom 22. Dezember 1979<br />
als „ungewöhnlich kritisches und pessimistisches“ <strong>DDR</strong>-Bild bezeichnet . Sie spielt in<br />
Funktionärskreisen des Bezirks Magdeburg, wo <strong>der</strong> Vater <strong>der</strong> 18jährigen Heldin Karin SED-<br />
Kreissekretär ist. Er for<strong>der</strong>t seine Tochter am 23. Dezember eines ungenannten Jahres<br />
ultimativ auf, sich von ihrem Freund Frank zu trennen, <strong>der</strong> vorbestraft und jetzt auch noch in<br />
eine dunkle Sache verwickelt sei. Karin kündigt telefonisch das Liebesverhältnis auf,<br />
verbringt ein unruhiges Weih<strong>nach</strong>tsfest und fährt am 2. Januar <strong>nach</strong> Magdeburg, um ein<br />
Volontariat in <strong>der</strong> SED-Bezirkszeitung „Volksstimme“ anzutreten. Sie trifft sich heimlich mit<br />
Frank, von dem sie ein Kind erwartet und <strong>der</strong> ihr erzählt, er würde vermutlich von <strong>der</strong><br />
„Staatssicherheit“ überwacht, weil er mit einem Freund korrespondiere, <strong>der</strong> über die<br />
„Staatsgrenze West“ geflohen sei und ihm von einem sicheren Fluchtweg geschrieben habe.<br />
Der Autor, <strong>der</strong> geschickt mit dem Spannungsverhältnis zwischen <strong>der</strong> „Volksstimme“, die nur<br />
gefilterte Realität bietet, und des realen Volkes Stimme arbeitet, zeigt in überzeugen<strong>der</strong><br />
Weise, wie Karins sozialistisches Weltbild <strong>nach</strong> und <strong>nach</strong> zerbröckelt. Nachdem sie ihrem<br />
Parteisekretär Franks Liebesbriefe ausgehändigt hat, wird sie mit Berufsverbot bestraft und<br />
zur „Bewährung in die Produktion“ geschickt, während Frank einen Selbstmordversuch<br />
unternimmt.<br />
Selbstheilungsversuche vs. Beobachtungen über Mangel, Entwürdigungen und<br />
Demütigungen<br />
Volker Braun freilich war überzeugter Kommunist und glaubte an die Selbstheilung <strong>der</strong><br />
<strong>DDR</strong>-Gesellschaft, während Reiner Kunze diese Grenze längst überschritten hatte. Er bietet<br />
keine fiktiven Texte, son<strong>der</strong>n verdichtete Beobachtungen über Entwürdigungen und<br />
Demütigungen einfacher Menschen, oft nur in wenigen Zeilen wie <strong>der</strong> Fluchtgeschichte<br />
„Schießbefehl“, die den Staat insgesamt in Frage stellte. Das hatte zur Folge, dass <strong>der</strong> Autor