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820 Gender-Studies Sommer 2021

Die Gender Studies dekolonisieren

Der Kolonialismus wirkt nach: Auch die Gender Studies müssen sich reflektieren

A

lice Hasters, Tupoka Ogette,

Hengameh Yaghoobifarah,

Max Czollek, Emilia

Roig – nur fünf Namen in

einer Reihe von großartigen Menschen,

die sich auf unverzichtbare

Weise zu Rassismus und anderen

ismen wie Sexismus und Klassismus

äußern. Wir haben das Glück

diese und weitere unermüdliche

Stimmen in Büchern, Podcasts und

Social Media Beiträgen zu hören

und deren umfangreiches Wissen

in – auch für nicht betroffene

Menschen – verständnisgerechten

Happen vor uns zu haben. Doch

wieso ist die Arbeit dieser Menschen

nach wie vor so aktuell, wo

doch viel von dem Gesagten bereits

seit Jahrzehnten, wenn nicht seit

Jahrhunderten immer und immer

wieder wiederholt wird? Die Antwort

auf diese Frage lässt sich mit

einem Wort zusammenfassen: Kolonialität.

Was es damit auf sich hat,

wieso Kolonialgeschichte so wichtig

für Deutschland und Europa ist

und was das alles mit den Gender

Studies zu tun hat, möchte ich im

folgenden Artikel aufzeigen.

Kolumbus, die Amerikas und Europas

Position im Weltmarkt

Alles beginnt mit der sogenannten

‚Entdeckung‘ der Amerikas. 1492

landet Christoph Kolumbus versehentlich

in der Karibik und ‚entdeckt‘

damit erstmals die Amerikas

mit europäischen Augen– nicht,

dass es für die dortige Bevölkerung

einer Entdeckung bedurft hätte, um

sich ihrer Existenz zu vergewissern.

Doch eben jene Bevölkerung steht

auch nicht im Augenmerk Kolumbus‘:

In der Peripherie gelegen hat

das Europa des 15. Jahrhunderts

nicht viel an Bodenschätzen zu

bieten, ist allerdings mehr als erpicht

darauf am asiatischen Handel

teilzuhaben um beispielsweise an

Gewürze zur Halt- und Genießbarmachung

von Nahrungsmitteln zu

kommen. Der mit der ‚Entdeckung‘

der Amerikas einhergehenden

‚Fund‘ von Bodenschätzen liefert

die benötigte Tauschware für die begehrten

Güter Asiens. Und so bedienen

sich europäische Königshäuser

gewaltvoll an dem reich gedeckten

Tisch natürlicher Ressourcen Amerikas

– und sichern Europa einen

Platz im Welthandel: Mithilfe amerikanischer

Bodenschätze und einer

ausbeuterischen Plantagenökonomie

– ausgetragen auf den Rücken

versklavter afrikanischer Menschen

– arbeitet sich Westeuropa von einer

Randerscheinung zunächst zu

einem der Hauptakteure des Weltmarkts

und schließlich – profitierend

von der durch Bevölkerungsanstieg

bedingten Wirtschaftskrise

der asiatischen Imperien – zu dessen

Zentrum.

Doch durch die europäischen Kolonisierenden

werden die Amerikas

nicht nur ihrer Schätze beraubt. Die

Schiffe bringen dem Kontinent auch

etwas: nämlich vermeintlich normative

Vorstellungen über die richtige

Religion, über heteronormativer

Weiblichkeit und Männlichkeit,

über den Aufbau einer ‚zivilisierten‘

Gesellschaft und allgemein

Wertevorstellungen darüber, was

eine richtige – aber eben auch eine

falsche – Lebensweise angeht. Und

die Deutungshoheit darüber hat?

Richtig. Europa. Um Land für sich

beanspruchen zu können, werden

der amerikanischen Bevölkerung –

sowie später auch in Asien und Afrika

– die Fähigkeit zur Ausbildung

von sozialen und politischen Organisationsformen

sowie ein Konzept

kollektiver Besitzverständnisse

abgesprochen. Sämtliche Vorstellungen,

die sich nicht mit den europäischen

decken werden als falsch

oder ‚unzivilisiert‘ konzipiert womit

auch die Fähigkeit ‚der Anderen‘ eigenes

territoriales Land zu pflegen

nicht gegeben erscheint. Aus dieser

Überzeugung heraus wird das ‚vorgefundene‘

Land als frei verfügbar

verstanden – und unter den europäischen

Kolonialmächten aufgeteilt.

Diese Enteignung, Unterdrückung

und Unmündigmachung der lokalen

Bevölkerung wird dabei unter

einer sogenannten ‚Zivilisationsmission‘

im Gedankenkonstrukt der

Europäer*Innen so dargestellt, als

würde den dort lebenden Menschen

ein Gefallen getan, indem ihnen die

richtige Art und Weise Mensch zu

sein gezeigt wird.

Kolonialität im öffentlichen Kulturraum:

Raubgut in der Hauptstadt

Wer nun denkt, dass Kolumbus und

der Kolonialismus, für den seine

Person sinnbildlich steht, nun bereits

seit mehr als einem halben

Jahrtausend in der Vergangenheit

liegen, dem sei in Erinnerung gerufen,

dass europäische Kolonien

bis ins 20. Jahrhundert existierten.

Und Inselstaaten wie beispielsweise

Martinique oder Guadeloupe stehen

nach wie vor unter europäischer

Vorherrschaft. Letztere werden nun

aber Exklaven oder Überseegebiete

genannt. Um die Machtstruktur zu

erfassen, die auch nach wie vor in

Zeiten besteht, in denen es keine

koloniale Verwaltung im Sinne des

Kolonialismus mehr gibt, eignet

sich der Begriff der Kolonialität.

Und diese Machtstruktur durchzieht

nach wie vor sämtliche unserer Lebensbereiche,

wie anhand eines prominenten

Beispiels aus der Hauptstadt

deutlich wird: dem Berliner

Humboldt Forum.

Die Pläne des Humboldt Forums

stehen seitdem sie existieren in

reger Kritik. Da wäre zum einen

die Kritik an der kostspieligen

Rekonstruktion des historischen

Berliner Stadtschlosses, dem Ort

des Humboldtforums, das in den

Augen vieler Berliner*Innen eine

rückwärtsgewandte Kulturpolitik

repräsentiert., die Berlin als postmigrantischem

Gesellschaftsraum

nicht gerecht wird. Oder auch die

kritische Frage nach der Namenswahl,

warum die nicht-europäischen

Kunstartefakte unter dem Namen

eines preußischen Forschers aus

der Kolonialzeit ausgestellt werden.

Hauptsächlich aber steht die

Ausstellung gestohlener Kunst aus

ehemals kolonisierten Gebieten im

Zentrum der Kritik. Die Exponate

des Humboldt Forums bestehen fast

gänzlich aus kolonialer Raubkunst

und gehen auf eine blutige Vergangenheit

und ein Machtverhältnis

zwischen Kolonisator*Innen und

Kolonisierten zurück. Auf der Seite

des Humboldt Forums entsteht

der Eindruck, als hege das Museum

einen offenen und reflektierten

Umgang mit den Kritikpunkten.

Die Überschrift „Kolonialismus und

Kolonialität“ auf der Website lässt

vermuten, dass sich das Forum – zumindest

hinsichtlich der Öffentlichkeitsarbeit

– mit der Problematik

seiner gestohlenen Exponate auseinandergesetzt

zu haben scheint.

Irritierend dann die Formulierung

des Generalintendanten des Forums

Hartmut Dorgerloh in einem offiziellen

Statement:

„Die postkoloniale Debatte, die

schon seit vielen Jahren von verschiedenen

Akteuren der Zivilgesellschaft

vorangetrieben wurde, ist

nicht zuletzt auch durch die Debatten

um das Humboldt Forum in der

Mitte der Gesellschaft angelangt.“

Dorgerlohs Formulierung auf ein

anderes Beispiel übertragen klingt,

als würde die Polizei ihr Racial Profiling

verteidigen, da dadurch die

Debatte um Rassismus in der Mitte

der Gesellschaft angelangt sei. Die

Frage danach, warum die Exponate

trotz eines Bewusstseins darüber,

dass sie ihren Herkunftsgesellschaften

gewaltvoll entrissen wurden,

nach wie vor in deutschem Besitz

und bald in Berlin Mitte zu begutachten

sind – und nicht an eben jene

Herkunftsgesellschaften zurückgegeben

werden –, wird seitens des

Humboldt Forums nicht überzeugend

geklärt – liegt ihre Antwort

doch eben genau an den allgegenwärtig

herrschenden Machtstrukturen

der Kolonialität, die nach wie

vor unsere Gegenwart prägt.

Die EU als Projekt der Kolonialmächte

Nicht nur in Sachen Kunstgeschichte

ermangelt es der kollektiven europäischen

Erinnerungskultur an

einem Bewusstsein für ihre von

Kolonialismus geprägte Vergangenheit

– und von Kolonialität geprägte

Gegenwart. Auch auf politischer

Ebene sind die Auswirkungen der

Kolonialgeschichte längst nicht im

Bewusstsein von Europäer*Innen

angekommen – dabei sind diese

konstitutiv für die heutige EU, die

als Projekt der damaligen Kolonialmächte

zu verstehen ist. Sichtbar

wird die EU als das Erbe der

Staaten, die die Welt aufteilten,

wenn in Erinnerung gerufen wird,

dass 60% der heutigen EU-Grenzen

durch Kolonialpolitik gezogen

wurden. Die Mitgliedsstaaten von

2002 besaßen dank kolonialer Besitztümer

in den 1930ern knapp ¾

aller Landfläche der Welt und fast

50% der bewohnten Landfläche

außerhalb Kontinental-Europas.

Und auch nach wie vor verfügen

einige zentraleuropäische Länder

wie Frankreich über Exklaven und

Überseegebiete fernab von Kontinental-Europa.

Doch nicht nur in Sachen territorialer

Grenzziehung ist die EU von ihrer

kolonialen Herrschaftsgeschichte

geprägt. Die EU als Staatenbund

wurde nicht etwa auf sozialen oder

solidarischen Grundpfeilern gebaut,

sondern war von Beginn an ein Zusammenschluss

von Ländern, die

ihre gemeinsamen wirtschaftlichen

Interessen – entgegen der Interessen

anderer – durchsetzen wollten. Die

kapitalistische Logik, die diesem

Zusammenschluss eingeschrieben

ist, hat sich allerdings nicht in einem

luftleeren Raum begründet, sondern

geht einher mit der aufklärerischen

Konstruktion des ‚superioren weißen

Mannes‘ als Gegenpol zu einer

rassifizierten Konstruktion von dem

inferioren Anderen auf Grund von

Hautfarbe und Herkunft.

Die aus dieser Konstruktion hervorgehenden

Dualismen, die sich durch

sämtliche Lebensbereiche ziehen

(superior/inferior, weiß/schwarz,

zivilisiert/barbarisch, gut/schlecht,

usw.), bilden die Grundannahme

einer kolonialen Logik und damit

die Basis des Eurozentrismus oder

auch Okzidentalismus: Die Vorstellung,

Europa stelle den Gipfel einer

unumgänglichen, ‚natürlichen‘

Ordnung dar. Diese führt zu einem

Denken, in dem Westeuropa mit seiner

Bevölkerung die Norm darstellt,

anhand derer alles andere gemessen

wird.

Die Reproduktion der okzidentalen

Norm innerhalb der akademischen

Sphäre

Diese Grundüberzeugung des Okzidentalismus

wird unter anderem

auch in der wissenschaftlichen

Sphäre reproduziert. Auch die Arbeitsteilung

in den Geistes-, Sozial-

und Kulturwissenschaften folgt

einer kolonialen Logik, wenn innerhalb

dieser unterschiedliche Weltregionen

als Forschungsbereich

unterschiedlicher Disziplinen nach

dem Schema modern/traditionell

entsprechend soziologisch/ethnologisch

kategorisiert werden:

Diese disziplinäre Arbeitsteilung

ist einerseits das Produkt einer kolonialen

Weltordnung – hier der sich

selbst als „modern“ bezeichnende

„Westen“, dort der als rückständig

geltende kolonisierte „Rest“ der

Welt – und reproduziert diese Logik

zugleich durch ihre institutionelle

Stabilisierung bis heute (Santos

2017: 7)

Doch nicht nur die disziplinäre Arbeitsteilung

an sich, sondern auch

die Art und Weise der Wissensvermittlung

innerhalb unterschiedlichster

Disziplinen reproduziert und festigt

die koloniale Matrix und die

damit einhergehenden Kategorisierungen

von Menschen, was anhand

des folgenden Beispiels aus dem

akademischen Alltag deutlich wird:

Mein Partner studiert Sport auf

Lehramt an einer deutschen Universität.

In einer sogenannten Unterrichtspraktischen

Übung sollten

zwei Kommiliton*innen zeigen,

wie sie einer neunten Klasse die

Sportart Intercrosse näherbringen

würden. Da der Ursprung des Lacrosse

in einem indigenen Volk der

Amerikas liegt, hatten die Studierenden

den Einfall, Lippenstifte

zur Gesichtsbemalung mitzubringen

– und eine Schulstunde lang

‚In*ianer‘ zu spielen.

Am Ende der Stunde gab es eine

Evaluationsrunde, innerhalb derer

mein Freund Bedenken hinsichtlich

der Repräsentation indigener

Menschen und der damit einhergehenden

Reproduktion von stereotypen

Bildern im Kontext der

Übung äußerte. Dieser Kritik wurde

seitens des Dozenten mit folgenden

Argumenten begegnet: Es müsse

nicht jede Modeerscheinung mitgemacht

werden; Kinder hätten Spaß

an dieser Art von Spiel; Er habe nie

von einer betroffenen Person gehört,

die ‚so etwas‘ störe. Die Gruppe aus

circa 15 Lehramtsstudierenden und

einem Dozenten einigte sich auf

die in ihren Augen einzig zulässige

Kritik, dass der Aufbau der Stunde

wohl eher für jüngere Schüler*innen

geeignet sei. Diese Situation, in der

eine kritische, anti-rassistische Haltung

von einem weißen, cis-männlichen,

mittelständigen Hochschuldozenten

fortgeschrittenen Alters

als Modeerscheinung abgewertet

wird, steht nicht nur stellvertretend

für den Rückstand in Sachen

Dekolonialisierung an deutschen

Hochschulen, sondern auch für die

Ignoranz, die akademische Autoritäten

gegenüber marginalisierten

Gruppen an den Tag legen.

Das Problem mit der kulturellen

Aneignung

Das Beispiel zeigt deutlich: Was

für die einen eine karnevaleske

‚Verkleidung‘, ist für andere ein

respektloser, diskreditierender

und gewaltvoller Umgang mit der

Geschichte nicht-weißer, nichteuropäischer

Gesellschaften. Diese

Kritik wird unter der Bezeichnung

der ‚kulturellen Aneignung‘ erfasst.

Kulturelle Aneignung beschreibt

eine hegemoniale Praxis, durch die

sich Menschen der Dominanzkultur

Elemente von unterdrückten Kulturkreisen

aneignen – im Sportunterricht

ist es die ‚Verkleidung‘ durch

Gesichtsbemalung, in Sachen Frisuren

sind es Cornrows und Dreadlocks,

bei Feierlichkeiten das Holi-

Festival, um nur einige Beispiele

zu nennen. Kulturelle Aneignung

ist deshalb höchst problematisch,

da die angeeigneten Elemente oft

zentrale Bestandteile von Kulturräumen

sind, die gerade wegen

ihrer Andersartigkeit als ‚falsch‘

oder ‚unzivilisiert‘ angesehen werden.

Dabei wird die ‚angeeignete

Kultur‘ meist stark vereinfacht:

Die wenigsten von uns haben sich

wohl schon einmal damit auseinandergesetzt,

welche lokalen Gemeinschaften

Gesichtsbemalungen

vornehmen und welche Bedeutung

dieser zukommt, welche Symbolik

Cornrows für Schwarze Menschen

mit sich tragen und was deren Geschichte

im Kontext von Sklavenhandel

ist. Platt gesagt: Sich Striche

ins Gesicht zu malen, gilt an weißen

Foto: Pauline Link

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