WIRTSCHAFT+MARKT Frühjahr/Sommer 2021
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WIRTSCHAFT+MARKT
DIE OSTDEUTSCHE
WIRTSCHAFT SOLLTE
SICH AUF IHRE
STÄRKEN BESINNEN
Wie kann sich die ostdeutsche Wirtschaft strategisch neu ausrichten?
Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Perspektivwechsel geboten: Weg von
der rückwärtsgewandten Diskussion über Fehler beim Aufbau Ost, hin zu einer
Fokussierung auf die Stärken der ostdeutschen Wirtschaft.
VON PROF. DR. THOMAS BROCKMEIER,
HAUPTGESCHÄFTSFÜHRER DER IHK HALLE-DESSAU
EEine strategische Neuausrichtung der ostdeutschen
Wirtschaft steht und fällt damit,
zunächst einmal überhaupt so etwas wie eine
eigene Strategie zu haben. Und eine solche
sollte eine originäre Strategie sein, das heißt
sie sollte nicht einfach darin bestehen, einer
westdeutschen nacheifern zu wollen.
Eine solche Forderung mag wohlfeil klingen,
banal ist sie indes nicht. Diese Überzeugung
speist sich aus den Erfahrungen rund um das
Thema „Aufbau Ost“, die nicht zuletzt von
einer aus meiner Sicht wenig konstruktiven,
weil überwiegend rückwärts gewandten Diskussion
darüber geprägt war, was bei diesem
in der Wirtschaftsgeschichte beispiellosen
Mammut vorhaben falsch gemacht worden ist.
Nicht wenige der in diesem Zusammenhang
immer wieder aufgerufenen Punkte möchte
ich mit der Überschrift „Falle“ versehen; in eine
Falle gerät man und kann sich in aller Regel
nicht allein und ohne Schaden aus ihr befreien.
Diskussionen darüber, warum man hineingeraten
ist, sind nach aller Erfahrung müßig. Wenn
ich an dieser Stelle auf einige dieser „Fallen“
zu sprechen komme, dann, weil ich gleichsam
mit deren Hilfe für einen Perspektivwechsel
werben möchte.
Der Perspektivwechsel besteht darin, sich
klar zu machen, dass es in der ostdeutschen
Wirtschaft offenkundig beachtliche Stärken
geben muss. Dies wird deutlich, wenn man die
besonders oft genannten Fallen einmal näher
beleuchtet:
Die „Wachstums-Falle”: Damit ist jene
Aussage gemeint, die sich wie folgt auf den
Punkt bringen lässt: „Die Schere schließt sich
nicht weiter, von Konvergenz sind wir weit
entfernt.“
Eine solche auf die nominalen Wachstumsraten
fokussierte Lesart freilich unterschlägt,
dass sich in der Wirtschaft Ostdeutschlands
spätestens seit Ende der 1990er-Jahre ein
erfolgsgeneigtes Strukturmuster herausgebildet
hat. Ein beachtlicher Teil der Wertschöpfung
wird von der Industrie und unternehmensnahen
Dienstleistern erbracht, die
vor allem auf überregionalen Märkten tätig
sind, deren Wachstumsmöglichkeiten mithin
keine „endogenen“ Grenzen kennen.
Bedeutsam ist dies deshalb, weil keineswegs
irrelevant ist, in welchen Bereichen Wachstum
erzielt wird. Gemessen an dem heute soliden
Strukturmuster ließen sich die ersten Jahre
nach der Wende beinahe als „Scheinblüte“
bezeichnen: Ein angesichts des enormen
Nachholbedarfs überproportionaler Bausektor
gepaart mit einem transfergestützten
Boom im Einzelhandel bescherte zwar hohe
Wachstumsraten, nicht aber eine weitgehend
selbsttragende Wirtschaftsentwicklung.
Die „Institutionen-Falle”: Damit ist jene These
benannt, dass die ostdeutsche Wirtschaft
durch den Institutionentransfer von Arbeitsrecht,
Tarifrecht etc. am dynamischen Durchstarten
gehindert worden sei. Der Befund mag
stimmen, bei der Diagnose wäre ich schon
skeptischer. Wie hätte der daraus abzuleitende
Therapieansatz aussehen sollen? Doch wohl
hoffentlich nicht darin, über womöglich Jahrzehnte
ein institutionell gespaltenes Deutschland
zu haben.
Die „Förder-Falle”: Hierbei geht es um
die These, dass in der Förderpolitik falsche
Ansätze verfolgt worden seien (vulgo:
„Gießkanne statt Leuchttürme“, „Ausgleich
in der Peripherie statt Wachstumsförderung
in den Zentren“). Hier gilt: Politik ist die Kunst
des Möglichen. Und diese Kunst kann nicht
bedeuten, ländliche Räume quasi ausbluten
zu lassen. Dies gilt zumal für die ostdeutschen
Länder, die zum großen Teil aus ländlichem
Raum bestehen.
W+M – FRÜHJAHR/SOMMER 2021