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#53 BREYERS EM-REPORTAGE //<br />

EM 2020 2021<br />

rück in die Heimat<br />

kam und auf Booten<br />

durch die Grachten<br />

von Amsterdam<br />

fuhr. Hunderttausende<br />

standen jubelnd<br />

an den Ufern.<br />

Ich frage Youri:<br />

„Was ist wahrscheinlicher:<br />

Dass<br />

Holland Europameister<br />

wird oder<br />

dass Schalke wieder<br />

auf die Beine<br />

kommt?“ Youris<br />

Antwort überrascht<br />

mich: „Dass Schalke<br />

wieder hochkommt.“<br />

Glaubt er so wenig<br />

an seine Nationalelf?<br />

„Nein, ich glaube<br />

einfach an die Kraft<br />

von meinen Schalkern.“<br />

Und wer wird Europameister?<br />

Youris Tipp: Belgien.<br />

DASÜBERRASCHENDSTE<br />

ERLEBNIS<br />

6000<br />

Kilometer reiste<br />

Jochen Breyer<br />

für seine<br />

EM-Reportage<br />

durch Europa.<br />

Vier Fußballfans in Bilbao (großesBild) sind nichttraurig, dassdie Uefader<br />

Stadt die EM-Spiele entzogen hat. In Ungarn sollen die Fans ohne Kapazitätsbegrenzung<br />

EM-Spiele besuchen dürfen. Auch Ferencváros-Hooligans wollen<br />

Spiele in Budapestbesuchen. Fotos: ZDF (2)<br />

In den Niederlanden freuen<br />

sich die Menschen auf die<br />

EM, das war überall spürbar.<br />

Ganz anders sieht es in Bilbao<br />

aus. Bilbao war ja als Ausrichterstadt<br />

fest eingeplant,<br />

doch dann verlegte die Uefa<br />

die Spiele Ende April kurzerhand<br />

nach Sevilla. Offizielle<br />

Begründung: weil die Behörden<br />

vor Ort nicht garantieren<br />

konnten, Zuschauer im Stadion<br />

zuzulassen. Wie das wohl<br />

bei den Menschen in Bilbao<br />

angekommen ist?<br />

In der Bar Athletic, der bekanntesten<br />

Fankneipeder Stadt,<br />

treffen wir Andoni, Gründer<br />

eines Athletic-Bilbao-Fanklubs,<br />

und drei seiner Freunde. Es ist<br />

10 Uhr morgens. Auf der Theke<br />

stehen frisch gezapfte Biere.<br />

Andoni sagt lachend: „Nicht unsere<br />

ersten.“ Ich frage sie, was<br />

sie davon halten, dass nun doch<br />

keine EM-Spiele in ihrer Stadt<br />

ausgetragen werden. Sie antworten<br />

quasi im Chor: „Finden<br />

wir gut.“ Gut? Wirklich? „Ja“,<br />

sagt Andoni, „denn hier hätte<br />

ja die spanische Nationalelf<br />

gespielt, und das hätten wir eh<br />

nicht gewollt. Wir sind Basken,<br />

keine Spanier.“ Alle anderen<br />

nicken. Andoni versichert mir:<br />

Hätten die Spanierhier in Bilbao<br />

gespielt, hätte das ganze Stadion<br />

die Hymne ausgepfiffen.<br />

Dass viele Basken gern unabhängig<br />

von Spanien wären, ist<br />

bekannt. Auch, dass der Fußball<br />

im Baskenland hochpolitisch ist.<br />

Dass aber fast alle, mit denen<br />

wir in Bilbao sprechen, froh<br />

darüber sind, dass die spanische<br />

„Selección“ nicht in ihrem<br />

„heiligen“ San-Mamés-Stadion<br />

spielt, das überrascht mich dann<br />

doch. Und mir schwant, dass es<br />

stimmen könnte, was sie hier sagen:<br />

dass Bilbao genau deshalb<br />

die Spiele weggenommen wurden.<br />

Weil man Angst davor bekam,<br />

im eigenen Land vor den<br />

Augen der Welt ausgepfiffen zu<br />

werden.<br />

DASBEFREMDLICHSTE<br />

ERLEBNIS<br />

Auch inUngarn ist der Fußball<br />

hochpolitisch. Wenn am<br />

15. Juni Ungarn gegen Portugal<br />

spielt, wird ganz Europa<br />

gespannt nach Budapest<br />

schauen: Denn die Puskás<br />

Aréna wird ausverkauft sein.<br />

Mehr als 60 000 Fans. Trotz<br />

Pandemie. Viktor Orbán<br />

macht’s möglich. Was uns ein<br />

Journalistenkollege in Budapest<br />

erzählt: Der Ministerpräsident<br />

will damit der Welt<br />

zeigen, dass er das Virus am<br />

besten von allen bekämpft<br />

habe.<br />

Orbán nutzt den Fußball ohnehin<br />

sehr stark, um den Nationalstolz<br />

in Ungarn zu befeuern.<br />

In gewissen Kreisen kommt das<br />

gut an. Zum Beispiel bei den<br />

Hooligans. Der Hauptstadtklub<br />

Ferencváros Budapest ist berüchtigt<br />

für seine Hooliganszene.<br />

Wir haben uns für unsere<br />

Reportage mit einigen von ihnen<br />

verabredet, um Einblicke zu<br />

erhalten und zu erfahren, was<br />

sie für die EM planen. Überraschenderweise<br />

haben sie einem<br />

Interview zugestimmt –obwohl<br />

sie Presseleute eigentlich<br />

nicht leiden können. Treffpunkt:<br />

eine Fankneipe<br />

gleich hinter dem Stadion.<br />

Wir sind sehr gespannt.<br />

Betreten die Kneipe und<br />

sehen fünf durchtrainierte,<br />

muskulöse Kerle Mitte<br />

dreißig am Tisch<br />

sitzen. Vor ihnen:<br />

Bier- und<br />

Schnapsgläser.<br />

Ihr Anführer heißt<br />

Tamas. Er begrüßt<br />

uns freundlich. Auf seinem<br />

T-Shirt steht in großen Buchstaben<br />

„Hooligan“.<br />

Mir wird in diesem Moment<br />

etwas unwohl und ich frage<br />

mich, ob wir diesen Typen wirklich<br />

eine Plattform geben sollten.<br />

Andererseits: Aufgabe von<br />

uns Journalisten ist es, die Realität<br />

abzubilden. Auch die, die<br />

uns nicht gefällt. Das Interview<br />

dauert nur wenige Minuten,<br />

weil Tamas zu den meisten Themen<br />

nichts sagen will. Ich frage<br />

ihn, was „Hooligan“ für ihn bedeute,<br />

er sagt: „Ein Lebensstil.“<br />

Ich frage ihn, ob die Gewalt von<br />

Hooligans den Werten des Fußballs<br />

nicht fundmental widerspreche.<br />

Tamas sagt: „Ich kann<br />

bestätigen, dass für uns Gewalt<br />

dazugehört. Mehr will ich vor<br />

der Kamera nicht sagen.“ Und<br />

er erzählt mir später, als die Kameras<br />

aus sind, dass er und seine<br />

Gruppe die EM-Spiele besuchen<br />

werden. Ich fürchte: nicht<br />

nur,umSportzusehen.<br />

Am Ende will Tamas, dass wir<br />

in der Kneipe bleiben und mit<br />

ihnen Schnaps trinken. Wir trinken<br />

eine Runde mit, aus Sorge,<br />

dass sonst die Stimmung kippen<br />

könnte. Dann sagen wir, dass<br />

wir dringend noch Filmaufnahmen<br />

des Stadions machen müssten,<br />

und gehen.<br />

Die ganze Rückfahrt von Budapest<br />

nach München über diskutieren<br />

wir, obwir das Interview<br />

senden können oder nicht.<br />

Am Ende entscheiden wir uns<br />

dafür,einige Ausschnitte zu senden<br />

–mit kritischer Einordnung.<br />

Aber ich gebe zu: Die Entscheidung<br />

ist uns nicht leichtgefallen.<br />

Was bleibt nun von dieser<br />

Europareise vor der EM? Drei<br />

sehr unterschiedliche Eindrücke.<br />

Erstens, dass der Fußball<br />

auch im Jahr 2021 an vielen Orten<br />

zur Bühne politischer und<br />

gesellschaftlicher Konflikte gemacht<br />

wird. Zweitens, dass die<br />

Vorfreude auf diese EM in Europa<br />

erstaunlich groß ist, trotz<br />

der Pandemie, ob in Amsterdam<br />

oder in Rom. Und drittens: dass<br />

ich nie wieder in meinem Leben<br />

Sour-Cream-Chips essen werde.

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