Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Österreichische Post AG; PZ 18Z041372 P; Biber Verlagsgesellschaft mbH, Museumsplatz 1, E 1.4, 1070 Wien
www.dasbiber.at
MIT SCHARF
HERBST
2021
+
KURZ IST WEG,
KURZISMUS BLEIBT
+
MÜCKSTEIN IN ZAHLEN
+
PORNO-TÜRKE
+
UNGEIMPFT
WIESO IMMER MEHR JUNGE MENSCHEN
AUF DER INTENSIVSTATION LANDEN
ENTGELTLICHE EINSCHALTUNG
Eines ist sicher.
Impfen wirkt.
100.000
99.996
Von 100.000 vollständig geimpften Menschen müssen
bei Kontakt mit dem Corona-Virus 99.996 Personen nicht ins Krankenhaus.
Holen Sie sich jetzt Ihre Corona-Schutzimpfung!
Datenstand 15.09.2021, Datenquelle AGES Impfdurchbrüche
3
minuten
mit
Berdo
Mit 18 Jahren vor RAF Camora in den
Charts landen und dabei sogar die eigene
Schuldirektorin begeistern? Rapper Berdo
macht sich auf, um 2620 Neunkirchen auf
die Musik-Landkarte zu hieven.
Von Şeyda Gün, Foto: Martin Morscher
Wer ist er?
Name: Berdan Mankuloğlu
Alter: 18
Geburtsort: Neunkirchen,
Niederösterreich
Besonderes: Sein erstes
Album „Xeyal“ erschien am
5. Oktober und erzielte die
ersten zwei Tage nach dem
Release Platz 1 in den iTunes
Charts.
BIBER: Heißt du wirklich Berdo? Woher
kommt dein Name?
BERDO: Mein Künstlername kommt
von meinem Vornamen Berdan. Bei
uns Kurden gibt es immer einen
Spitznamen, aus Berdan wurde Berdo.
Ich komme aus Neunkirchen, bin vor
kurzem 18 geworden und hatte immer
schon eine Bindung zu Musik. Ich habe
gerne getanzt, von dort kam ich zum
Hip-Hop. Mit 14 habe ich begonnen zu
rappen, zuerst auf Englisch, dann auf
Deutsch. 2019 habe ich mein erstes
Video auf YouTube mit dem Titel
„Hokus Pokus“ veröffentlicht.
Hören dich die Leute nur am „Land“
oder auch in der Stadt?
Ich habe auch Hörer in Wien, aber
nicht nur in Österreich, sondern auch in
Deutschland. In Bochum oder Frankfurt
kommt der Support von Verwandten
und Bekannten.
Du erwähnst in deinen Texten 2620, die
Postleitzahl von Neunkirchen. Warum?
Neunkirchen ist eine kleine Stadt, die
ich versuche auf die Landkarte zu bringen.
Wenn man Berdo hört, soll man an
Neunkirchen denken, oder umgekehrt.
Dein erstes Album „Xeyal“ ist erschienen.
Was bedeutet Xeyal?
Ich war geflasht, dass mein Album auf
iTunes die ersten zwei Tage auf Platz
1 war. Xeyal bedeutet auf Kurdisch
Vision, Traum. Die Songs im Album
sind verschieden. Einer ist aggressiv,
der andere traurig. Ich schreibe
meine Texte selber und das sehr gerne.
Jeder Song, jeder Text hat eine eigene
Bedeutung und Geschichte. „Rosen
im Beton“ zum Beispiel ist ein Herzschmerz-Song.
Du gehst noch in die Schule, sitzt du
vormittags in der Schule und nachts im
Studio?
Nein, leider nicht. Ich gehe in die
Schule, danach lerne ich, wenn es
etwas zu lernen gibt. Dann schlage ich
die Bücher zu und drehe die Beats auf
und rappe den ganzen Tag. Mein Ziel
ist die Matura, dann möchte ich etwas
in Richtung Musik studieren, wo ich
mich weiterentwickeln kann. Tontechnik
würde mich interessieren.
Wie reagiert dein Umfeld auf dich als
Künstler?
Man kennt und supportet mich hier in
Neunkirchen. Auch in der Schule. Meine
Direktorin hat mich sogar gefragt, ob
ich einen Text schreiben möchte, der
junge Menschen zum Impfen anregt.
Ich bin noch nicht sicher, ob ich das
mache. Ich selbst bin geimpft, aber
diese Entscheidung sollte jeder für sich
treffen, wie ich finde.
/ 3 MINUTEN / 3
3 3 MINUTEN MIT
BERDAN
Der 18-jährige Rapper erklärt, warum bald
jeder 2620 Neunkirchen kennen wird.
8 IVANAS WELT
Null Komma Josip. Kolumnistin Ivana Cucujkić
über Rakija als Alheilmittel am Balkan
POLITIKA
10 DIE IMPFVERWEIGERER
Auf den Intensivstationen Österreichs liegen
fast nur Ungeimpfte. Trotzdem gibt es noch
genug ImpfgegnerInnen. Was sind ihre Motive?
18 „KURZ IST KEIN
WUNDERKNABE“
Ein Kommentar von Ruşen Timur Aksak
20 „HERR MÜCKSTEIN,
WIE VIELE WHATSAPP-
NACHRICHTEN BEREUEN
SIE?“
Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein im
Interview in Zahlen
22 „FÜR DIE TALIBAN SIND
FRAUEN SEXOBJEKTE.“
Die afghanische Botschafterin Manizha
Bakhtari im Interview über Frauenrechte, und
die Pressefreiheit in Afghanistan
18
DAS SYSTEM
SEBASTIAN KURZ
Was geschieht nun mit
dem politischen Erbe
des Sebastian Kurz?
Bleiben Moscheen unbehelligt
und die Balkan-
Routen unbewacht?
Ein Kommentar von
Ruşen Timur Aksak
IN
RAMBAZAMBA
26 FEIERN POST LOCKDOWN
Wie hat Corona unser Partyverhalten
verändert?
30 JUNGE MUTTER
Sandra Schmidhofer wurde mit 22 Jahren
Mama
34 VEGANER BÖREK
Orientalisch und vegan? Das geht easy und
schmeckt auch noch lecker, wie Buchautorin
Serayi zeigt.
10
STANDHAFT GEGEN DEN STICH
Auf Wiens Corona stationen liegen fast nur
Ungeimpfte. Trotzdem stemmen sich viele immer
noch gegen den Stich. Eine Reportage aus dem
Krankenhaus und aus Wiener Bezirken.
40 „NUR OPFER
BELÄSTIGEN FRAUEN“
Wir waren nach einer coronabedingten Pause
wieder an Wiener Schulen unterwegs und
haben mit Jugendlichen über Rollenbilder,
Stereotype und Gewalt gesprochen.
20
HERR MÜCKSTEIN, WIE VIELE
VORNAMEN VON ALEXANDER
SCHALLENBERG KENNEN SIE?
Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein
im Interview in Zahlen
HALT HERBST
2021
KARRIERE&KOHLE
46 DU WILLST EINE
GEHALTSERHÖHUNG?
Anna Jandrisevits verabschiedet sich und gibt
in ihrer letzten Kolumne noch Karriere-Tipps.
TECHNIK
48 NACH DER KRISE IST
VOR DER KRISE
Adam Bezeczky gibt Survival-Tricks und liefert
Technik-News.
OUT OF AUT
50 BOSNIEN WANDERT AUS
Nationalismus, Korruption und fehlende
Jobperspektiven sind die Gründe für den
Massenexodus junger Menschen aus Bosnien.
26
ZUHAUSE IST ES AM
SCHÖNSTEN.
Die klassische Homeparty hat durch
die Corona-Lockdowns ein Revival
erlebt. Wird sich diese Einstellung
halten?
© Zoe Opratko, Philipp Tomsich, Cover: © Zoe Opratko
KULTURA
56 BIER UND KLO IN RUSSLAND
Nada El-Azar wurde als biertrinkende Frau in
Russland schief angeschaut – und hat sich
über Unisextoiletten gewundert.
58 PORNO FÜR ALLE
Wieso Migrant und schwul zu sein nicht immer
„Katastrophe“ bedeutet und wie viele Stunden
er mit dem Pornoschauen verbringt, erzählt
Pornofilmfestival-Veranstalter Yavuz Kurtulmus.
62 TRINKFEST FÜR
EINEN SYRER
Kolumnist Jad Turjman über das Saufen mit
Österreichern – und seinen ersten Rausch
Liebe LeserInnen,
Österreich ist eines der Schlusslichter der EU, was die Durchimpfungsrate
angeht. Ärzte, Krankenhauspersonal und Familienangehörige sind
verzweifelt – trotzdem lassen sich noch immer viele junge Menschen nicht
impfen. Die Motive sind divers, von Bequemlichkeit über den Glauben,
Corona könne ihnen nichts anhaben bis hin zur Sorge der Unfruchtbarkeit.
Und doch sind es vorwiegend Ungeimpfte, die auf der Intensivstation
landen. Die wachrüttelnde Reportage von Amar Rajković lest ihr auf S. 10
Selbst er kennt schon acht Menschen, die an COVID verstorben sind:
Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein. Im Interview in Zahlen verrät er
außerdem, wie oft er seinen Töchtern peinlich ist und wie viele Vornamen
des neuen Bundeskanzlers und Diplomaten Alexander Georg Nicolas
Christoph Wolfgang Tassilo Schallenberg er aufzählen kann. S. 20
„
An ihnen verzweifeln Ärzte,
Krankenhauspersonal und
Familienmitglieder, doch sie
bleiben stur: Die Ungeimpften,
die sich auf Biegen und
Brechen gegen den Stich
stemmen. Ich lege euch die
Reportage „Ihr reißt andere
mit ins Grab“ auf S. 10 ans
Herz. Der Titel ist kein Clickbait,
sondern bittere Realität.
Aleksandra “ Tulej,
stv. Chefredakteurin
Eine Diplomatin, die nicht diplomatisch bleibt – zumindest in Sachen
Taliban, ist Manizha Bakhtari, die afghanische Botschafterin in Österreich.
Wir haben sie getroffen und mit ihr über Frauenbilder der Taliban, den
Alltag von JournalistInnen in Kabul und über die afghanische Community
in Wien gesprochen. Wenn sie ihren Posten nicht mehr ausüben kann, wird
sie aus Österreich wegziehen – wohin, das bleibt geheim. S. 22
Kein Geheimnis ist hingegen, dass immer mehr Menschen aus Bosnien-
Herzegowina auswandern. Nationalismus, Korruption und fehlende
Jobperspektiven treiben sie dazu, ihre Heimat zu verlassen. Die
Auslandsreportage von Anja Ozorović könnt ihr ab S. 50 lesen.
Man muss aber nicht erst nach Bosnien blicken, wir haben hier in
Österreich unsere eigene hausgemachte Korruption. Wie viel bleibt vom
Kurz‘schen Wirken für die Nachwelt? Dieser Frage ist Timur Rusen Aksak
auf S. 18 nachgegangen. Spoiler: 2011 hat sich Sebastian Kurz, damals
noch Staatssekretär, für biber in einer Dönerbude fotografieren lassen. Auf
S 19. könnt ihr diesen seltenen Schnappschuss bestaunen.
In diesem Sinne: Hände waschen, impfen lassen, biber lesen.
Bussi,
eure Biber-Redaktion
© Zoe Opratko
6 / MIT SCHARF /
DELIVERY MK1
DELIVERY MK1
DELIVERY MK1
IMPRESSUM
MEDIENINHABER:
Biber Verlagsgesellschaft mbH, Quartier 21, Museumsplatz 1, E-1.4,
1070 Wien
HERAUSGEBER
Simon Kravagna
CHEFREDAKTEURIN:
Delna Antia-Tatić (karenziert)
STV. CHEFREDAKTEURE:
Amar Rajković und Aleksandra Tulej
CHEFREPORTERIN:
Aleksandra Tulej
FOTOCHEFIN:
Zoe Opratko
ART DIRECTOR: Dieter Auracher
KOLUMNIST/IN:
Ivana Cucujkić-Panić, Jad Turjman
LEKTORAT: Florian Haderer
REDAKTION & FOTOGRAFIE:
Adam Bezeczky, Nada El-Azar, Şeyda Gün, Maryam
Al-Mufti,Anna Jandrisevits
VERLAGSLEITUNG
Aida Durić
REDAKTIONSHUND:
Casper
BUSINESS DEVELOPMENT:
Andreas Wiesmüller
GESCHÄFTSFÜHRUNG:
Wilfried Wiesinger
KONTAKT: biber Verlagsgesellschaft mbH Quartier 21,
Museumsplatz 1, E-1.4, 1070 Wien
Tel: +43/1/ 9577528 redaktion@dasbiber.at
marketing@dasbiber.at abo@dasbiber.at
WEBSITE: www.dasbiber.at
ÖAK GEPRÜFT laut Bericht über die Jahresprüfung im 2. HJ
2020:
Druckauflage 78.856 Stück
Verbreitete Auflage 73.741 Stück
Die Offenlegung gemäß §25 MedG ist unter www.dasbiber.at/
impressum abrufbar.
DRUCK: Mediaprint
Erklärung zu gendergerechter Sprache:
In welcher Form bei den Texten gegendert wird, entscheiden
die jeweiligen Autoren und Autorinnen selbst: Somit bleibt die
Authentizität der Texte erhalten - wie immer „mit scharf“.
DELIVERY MK1 DELIVERY MK1
H
TICKETS
SCHULE & BERUF – WOHIN MIT 14?
AK BILDUNGS- &
BERUFSINFOMESSE
17. BIS 19.11.2021
Fr, 19.11.2021 Familien-Nachmittag
Buchen Sie Online Workshops oder
eine Fragestunde!
MULTIPLEX
L14
AUCH HEUER DIGITAL AUF
WWW.L14.AT
In Ivanas WELT berichtet die biber-Redakteurin
Ivana Cucujkić über ihr daily life.
IVANAS WELT
Ivan Minić
RAKIJA AKUT – TRINKEN UND GUT
In einem gesunden Körper wohnt ein beschwipster Geist. Fußball,
Tennis, Šljivovica. Der Jugo brilliert in vielen Disziplinen.
Sport ist am Balkan sehr populär. Jeder übt irgendeine
Sportart aus. Oder verfolgt diese auf
den nationalen TV-Kanälen. Oder rennt zumindest
den ganzen Tag im Trainingsanzug herum. Der
sportive Dreistreifen-Look als gesellschaftlicher
Einheitschic. Einigkeit, Brüderlichkeit, Adidas.
Ohne Übertreibung - alle Balkanväter können von
ihren Erlebnissen als ehemalige Sportler berichten,
wie sie beinahe Profifußballer geworden sind,
dann mussten sie aber heiraten. Mein Vater erzählt
auch gerne von solchen sportiven Heldengeschichten.
BALLERN FÜR TITO
In seiner Jugend spielte er Volleyball. In der Bundesliga.
Für Partizan Belgrad! Damit kann man
sich an einem geselligen Familientisch wichtig
machen. Im Wehrdienst schmetterte er die Bälle
für das Volleyball-Team der Jugoslawischen Armee.
Eines Tages musste Soldat Cucujkić mitten
in einem Match zu einem Schießübungsmanöver
ausrücken. Als Belohnung für den exzellent ausgeführten
Einsatz wurde ihm die Ehre zuteil, in der
Kommunistischen Partei Jugoslawiens aufgenommen
zu werden. Tja, da nickt man und sagt Danke.
Ob man will oder nicht. Das Parteibuch liegt immer
noch in einer Schublade im Dorf, gleich unter Titos
gerahmten Porträt.
BECHERN FÜR KNIGGE
Ob man will oder nicht, man bedankt sich ebenfalls,
wenn einem als Gast das zweite, dritte oder
fünfte Stamperl aufgedrängt wird. Jede andere
Reaktion wäre in den Augen des Gastgebers genauso
ein Verbrechen, wie die Parteimitgliedschaft
abzulehnen. Alternativ nach einem Glas Wasser zu
verlangen, ist Hochverrat. We don’t do this.
Aber bechern, das können wir. Trinken als sportliche
Disziplin. Ein Volkssport, der früh geübt wird.
In Österreich schnallen die verrückten Eltern im
Sinne der Tradition ihren dreijährigen Sprösslingen
Skier an die Beine und schubsen sie den Schneehang
hinunter. Am Balkan reiben unmündige Jugoeltern
auf Anraten weiser Großmütter ihren
Kleinkindern ordentlich Schnaps auf die Brust.
Was für fernöstliche Medizin? Was für Kräutersirup?
Der Osteuropäer setzt auf destilliertes Allheilmittel.
Das dampft und vertreibt Erkältung und
Fieber. Am nächsten Tag ist das Kind topfit. Und
höchstwahrscheinlich restfett.
NULL KOMMA JOSIP
Spätestens aber bei der nächsten größeren Festivität
im Familienkreis darf man seinen ersten
Kinder-Schwips feiern, wenn übermotivierte Onkel
einen zum Nippen an der Bierflasche nötigen. Früh
übt sich, wer ein Krankheitsbild entwickeln oder es
an den Nachwuchs vererben möchte. Als Schwangere
ein Achterl Roten, aber unbedingt, das hilft ja
bei Eisenmangel. Das Beste fürs Kind! Und bitte,
man trinkt ja für zwei… Im Schwangerschaftssaufen
bin ich in der Vorrunde disqualifiziert worden.
Meine Kinder werden wohl keine professionellen
Alkoholiker. Aber vielleicht Volleyballer, wie Opa.
Oder Fußballer wie Papa. Den Jogginganzug mit
den drei Streifen hat Mama schon geshoppt.
Rosen, Rakija & Kritik an: cucujkic@dasbiber.at, Instagram: @ivanaswelt
8 / MIT SCHARF /
Bezahlte Anzeige
Sicher gegen Corona!
Was gilt seit 1. Oktober in Wien?
Regel PCR-Test Antigen-Test
FFP2-
Maskenpflicht
In öffentlichen Verkehrsmitteln
In Amtsgebäuden der Stadt Wien
Im gesamten Handel
Bei körpernahen Dienstleistungen
2,5G
48 Stunden
Für den Schulbesuch
3G
72 Stunden
48 Stunden
Kinder 6-12 Jahre
(keine Testpflicht für unter 6-Jährige)
72 Stunden
48 Stunden
abhängig von
der Örtlichkeit
In der Gastronomie:
• In Lokalen und Restaurants
• In Clubs, Discos und Bars
Bei Veranstaltungen:
• Über 25 Personen
• Über 500 Personen
In Spitälern und Pflegeeinrichtungen:
• Ambulante Patient*innen, Besucher*innen
und Begleitpersonen
• In Spitälern pro Tag nur ein*e Besucher*in
2,5G
2G
2,5G
2G
2,5G
48 Stunden
48 Stunden
48 Stunden
Weitere Infos unter:
gesundheitsverbund.at/besuchsregeln
Impfen:
Lass dich impfen! Die Corona-Impfung
ist hochwirksam und schützt dich!
Testen:
Teste dich regelmäßig kostenlos
und schütze die Menschen in deiner Umgebung!
Hilfe:
Corona-Sorgenhotline:
01 4000 53 000 (täglich von 8 bis 20 Uhr)
24-Stunden Frauennotruf:
01 71 719 (täglich von 0 bis 24 Uhr)
Kinder- und Jugendhilfe:
01 4000 8011 (täglich von 8 bis 18 Uhr)
Legende:
2G: geimpft oder
genesen
2,5G: geimpft,
genesen oder
PCR-getestet
3G: geimpft,
genesen oder
getestet (PCR
oder Antigen)
Alle Informationen unter:
wien.gv.at/coronavirus
10 / POLITIKA /
Foto nachgestellt
„Ihr reißt andere
mit ins Grab!“
Vermehrt landen Ungeimpfte auf den Covid-
Stationen des Landes, manche verlassen sie nur
tot. Ärzte und Krankenpersonal verzweifeln,
dabei liegt die Lösung auf der Hand.
Von Amar Rajković, Fotos: Zoe Opratko
Wir haben vor kurzer Zeit eine ungeimpfte
31-Jährige aufgenommen. Die Blutkreisanalyse
zeigte eine geringe Menge
an Sauerstoff im Blut. Innerhalb von
drei Stunden landete die Patientin auf
der Intensivstation, sie musste intubiert werden. Am nächsten
Tag war sie tot.“ Kurz herrscht Stille im Büro des Prof.
Arnulf Ferlitsch. Geschichten wie diese muss der Primar für
Innere Medizin im Wiener Ordenskrankenhaus Barmherzige
Brüder in letzter Zeit oft erzählen. Er spricht mit ungeimpften
Angehörigen von Covid-Verstorbenen, mit unbelehrbaren
Vätern, die Druck auf ihre Söhne ausüben, sich nicht impfen
zu lassen oder mit aufgebrachten Müttern, die im Spital eine
Szene machen, weil sie ungetestet ihre stationierte Tochter
nicht besuchen dürfen. Obwohl Ferlitsch keine Gelegenheit
auslässt, um PatientInnen und Angehörige von der Impfung
zu überzeugen, landen jeden Tag viele junge Menschen auf
der hauseigenen Covid-Abteilung. Tendenz steigend.
In Österreich sind (Stand 14. Oktober) laut dem Dashboard
des Gesundheitsministeriums 61,55 % der Gesamtbevölkerung
voll immunisiert. Damit liegt das Land rund 10
Prozentpunkte unter dem EU-Durchschnitt und sogar 20
hinter Ländern wie Portugal, Spanien und Dänemark. Die
anfängliche Impfeuphorie ist verflogen, die Ärzte bleiben auf
Moderna, Pfizer und Co sitzen. Die Hauptstadt hat zwar in
den letzten Monaten bundesweit aufgeholt, trotzdem gibt
es Bezirke, die negativ auffallen: Favoriten zum Beispiel. Im
bevölkerungsreichsten Stadtteil Wiens leben 50,9 % Bürger
ausländischer Herkunft. (Quelle: MA 17 Integration und
Diversität) Die Quote der Vollimmunisierten beträgt dort nur
54 %, gefolgt von Simmering mit 56,03 %, wie es aus dem
Büro des Gesundheitsstadtrats Hacker heißt. Der Wien-
Durchschnitt beträgt 60,90 %, Spitzenreiter ist der grüne und
einkommensstarke Bezirk Neubau (68,27 %), gefolgt von
Wien Hietzing mit 67,57 %. Das hat einerseits mit der älteren
und bildungsnahen Bevölkerung in den führenden, aber auch
mit dem niedrigeren Bildungsniveau in den traditionellen
Arbeiterbezirken zu tun.
„JEDER KÖRPER TICKT ANDERS.“
All diese Zahlen tangieren Nenad * nicht. Der Austro-Serbe,
dessen Eltern in den 70ern nach Wien zum Arbeiten kamen,
hat jüngst eine Corona-Infektion durchgemacht. Er ist „kein
Impfgegner“, wie er betont, und auch kein „Kurz-mussweg“-Wüterich
von den Samstagsdemos, der Bill Gates,
Soros oder dem israelischen Geheimdienst die Schuld an
der „Plandemie“ gebe. Er kenne seinen Körper, gehe fast
jeden Tag radeln und achte ganz genau auf die Ernährung.
Impfung kommt für den 40-jährigen Versicherungsvertreter
aber nicht in Frage. Erst recht nicht, nachdem er im Som-
/ POLITIKA / 11
Gemeinden
mer beim Besuch der Verwandten in
Serbien an Corona erkrankt sei. Da er
die Erkrankung relativ unproblematisch
überstanden hat, fühlt er sich in seiner
Ablehnung gegenüber der Impfung
bestätigt. Auf die Horrorgeschichten des
Arztes aus dem Spital angesprochen,
bleibt Nenad bei seiner Impfskepsis:
„Jeder Körper tickt anders. Es wird
immer Ausnahmen geben, aber die
werden mich in meiner Meinung nicht
beeinflussen. Ich hatte erst gestern
einen Kunden, dessen Sohn nach der
ersten Impfung Herzrhythmusstörungen
bekommen hat. Was willst du dem Vater zur Impfung
erzählen?“, fragt er mit ratlosem Blick. Nenad argumentiert
wie viele Impfskeptiker. Die Risiken von Nebenwirkungen
seien im Verhältnis zu harmlosen Verläufen zu groß, heißt
es oft. Eine Argumentationslinie,
die Dr. Ferlitsch zum Kopfschütteln
veranlasst: „Seit 2002 wird an SARS
geforscht, 50.000 Menschen haben
damals einen baustoffähnlichen
mRNA-Impfstoff bekommen und bis
heute kaum Nebenwirkungen gezeigt.
Und er enthält keine Chips von Bill
Gates, wie manche Menschen vermuten.“
Dem 47-jährigen Internisten
bleibt anscheinend nur der Zynismus,
um auf die teils skurrilen Gründe der
ImpfskeptikerInnen zu antworten.
Dazu gehört die Angst von jungen
Männern, nicht zeugungsfähig und die
von Frauen, unfruchtbar zu werden.
ImpfskeptikerInnen fürchten, dass
die Nebenwirkungen der Impfung
sich negativ auf die Familienplanung
auswirken würden. Das sei jedoch
durch nichts belegt, „ein Blödsinn!“,
betont Ferlitsch und fügt hinzu, dass
noch nie in der modernen Geschichte
so viel Geld, Energie und Hirnschmalz
in die Entwicklung eines Impfstoffes
Erstgeimpfte
Erstgeimpfte
%
Vollimmunisierte
Vollimmunisierte
%
Wien-Neubau 22.568 71,23% 21.631 68,27%
Wien-Hietzing 38.084 70,65% 36.422 67,57%
Wien-Alsergrund 29.364 70,19% 28.121 67,26%
↕ ↕ ↕ ↕ ↕
Wien-Rudolfsheim-Fünfhaus 45.502 58,76% 42.594 55,94%
Wien-Brigittenau 50.893 59,69% 47.509 55,72%
Wien-Favoriten 122.516 58,18% 113.705 54,00%
Die drei am meisten und die drei am wenigsten geimpften Bezirke Wiens
„
Der Glaube an die
eigene Vitalität unter
jungen Menschen ist
wahrscheinlich ein
stärkeres Motiv als die
herumkursierenden
Verschwörungstheorien.
“
Kenan Güngör, Soziologe
Nenad wird sich nicht impfen lassen. Trotz
oder gerade wegen einer durchgemachten
Covid-Erkrankung Foto: Lisa Leutner
geflossen sei. Die Notfallzulassung, die
bei Corona-Impfstoffen gegriffen hat, ist
heute strenger denn je: „Aspirin würde
durch den heutigen Zulassungsprozess
niemals durchkommen“, gibt er zu
bedenken. Trotzdem herrscht so viel
Unwissenheit rund um das Virus.
RISS IN DER
LIESINGER IDYLLE
Marijas * Eltern sind in den 90ern vor
dem Krieg aus Bosnien nach Österreich
geflüchtet. Die Friseurin stammt aus
einer konservativ katholischen Familie.
Marija ist gewiss nicht die Impfgegnerin, die man in der
Esoterik-Ecke vermutet. Ihr gepflegtes Aussehen und die
zuvorkommende Art schätzen viele ihrer Stammkundinnen
im Friseursalon im 23. Bezirk. Doch das Streitthema
„Impfung“ lässt in der Vorstadt-
Wohlfühloase die Wogen hochgehen.
Einige KundInnen würden sich nicht
mehr von ihr die Haare verschönern
lassen, so Marija, die heute mit einer
neuen Pony-Frisur die neidischen
Blicke der Kundschaft auf sich zieht.
Der Grund: Marija ist nicht geimpft
und macht auch kein Geheimnis
daraus. „Ich kenne viele Bekannte aus
Bosnien, die starke Impfnebenwirkungen
hatten“, verrät sie. Ihr Chef und
Salon-Besitzer Dragan Aleksić * muss
das zähneknirschend hinnehmen. Es
sind ja bis jetzt „nur drei KundInnen“,
die darauf bestanden haben, nicht mit
Marija in Kontakt zu kommen. Aleksić
steckt in einem Dilemma, weil er seine
MitarbeiterInnen, von denen übrigens
nur Marija nicht geimpft ist, nicht dazu
zwingen kann. Andererseits wundert
er sich, dass man in der Community
lieber unseriösen Quellen oder konservativen
Eltern als der Wissenschaft
Glauben schenkt. „Diese Menschen
12 / POLITIKA /
/ POLITIKA / 13
Der Schein trügt: Die Covid-Stationen in
Österreich füllen sich wieder.
Die Verordnungen
der Politik seien für
Mehmet „überhaupt
nicht logisch“. Und
er möchte aufgrund
gesundheitlicher
Bedenken nicht das
Risiko einer Impfung in
Kauf nehmen.
(Anm. d. Red.: MigrantInnen in zweiter
und dritter Generation) sehen
sich als Opfer. Ihre Eltern verrichten
zumeist schlecht bezahlte und
körperlich anstrengende Arbeit, sie
werden in der Straßenbahn komisch
angeschaut, wenn sie in ihrer Sprache
kommunizieren und jetzt haben
sie keine Lust, sich noch einmal
für andere zu opfern“, so Aleksić,
der aber die Hoffnung bei Marija
nicht aufgegeben hat. Sie habe
ihm erzählt, dass sie sich impfen
lasse. Allerdings nur, wenn sie dazu
gezwungen werde, so der genervte
Friseurmeister.
Mario Dujaković, Mediensprecher
des Gesundheitsstadtrats
Peter Hacker in Wien, gibt der
inkonsequenten Linie der Bundesregierung
eine Teilschuld an dem
Impfstillstand: „Die niedrige Quote in den vorwiegend jungen
Bezirken liegt daran, dass die österreichische Impfkampagne
erst seit nicht so langer Zeit auch auf Junge fokussiert. Die
jüngsten Bezirke wie Favoriten und Simmering sind tendenziell
erst später von der Impfkampagne erfasst worden.“
Tatsächlich scheint sich laut den neuesten Zahlen etwas zu
tun: Wienweit sind die Bezirke mit dem größten prozentuellen
Zuwachs von 30.6 – 30.9 Favoriten (15,5 %), Simmering
(15,2 %) und Brigittenau (15,2 %), allesamt Wiener Bezirke
mit hohem MigrantInnenanteil und von der Altersstruktur
besonders junge Stadtteile.
Stationsleiter der Covid-Station bei den Barmherzigen
Brüdern in Wien, Georg Urban, ortet vielschichtige Gründe
in der Bevölkerung, sich nicht impfen zu lassen. Einerseits
liege die Entscheidung über die Impfung oft beim Familienoberhaupt,
das nicht davor zurückschrecke,
die eigenen Kinder unter Druck zu
setzen, wie sich Urban erinnert: „Uns
erzählte mal ein Patient, dass er sich
nicht geimpft habe, weil das sein Vater
verboten hatte.“ Andererseits gebe es
genug Leute, bei denen wegen Verständnisproblemen
die deutschsprachigen
Impfkampagnen nicht ankommen.
Und selbst wenn man der Sprache
mächtig ist, bleiben bei der diffusen
Kommunikation der Politik einige Fragen
offen: Wo muss ich jetzt welche Maske
tragen? Wieso muss ich mich wieder
einschränken, der Ex-Kanzler
hatte die Pandemie doch schon für
besiegt erklärt? Alles Gründe für die
vergleichsweise niedrige Impfquote
in Österreich.
AUS FAULHEIT UND
BEQUEMLICHKEIT?
Ein unterschätztes Motiv ist die
Impffaulheit unter den jungen
Menschen, wie der Soziologe Kenan
Güngör vermutet: „Der Glaube an
die eigene Vitalität unter jungen
Menschen ist wahrscheinlich ein
stärkeres Motiv als die herumkursierenden
Verschwörungstheorien.
Viele machen sich die Mühe nicht,
weil sie der Meinung sind, dass der
Ertrag gegenüber dem Aufwand
viel zu klein ist.“ Dazu könne man
die junge Zielgruppe kaum mit
klassischen Werbekampagnen erreichen, so Güngör. Der
Soziologe spricht von Menschen wie Mehmet * . Der Austro-
Türke ist geschiedener Vater auf Jobsuche. Im September
2021 bekam er einen unbezahlten Job: Als unfreiwilliger
Aushilfslehrer musste er seinen gerade eingeschulten Sohn
zuhause in der Quarantäne unterstützen. In dessen Klasse
gab es einen Corona-Fall, der Rest wurde in Quarantäne
geschickt. „Die Lehrer haben mir einen Packen Zettel mitgegeben
und gesagt, ich soll die Zahlen von 1–5 mit dem Kind
durchgehen“, seufzt der ungeimpfte Vater zweier Kinder. Die
Verordnungen der Politik seien für Mehmet „überhaupt nicht
logisch“. Und er möchte aufgrund gesundheitlicher Bedenken
nicht das Risiko einer Impfung in Kauf nehmen: „Schau,
ich möchte meinem Körper keine Schmerzen mehr hinzufügen.
Ich hatte eine Hüft-OP, die nicht zufriedenstellend
verlaufen ist. Ich musste wochenlang
Schmerzmittel nehmen und das Problem
ist noch immer nicht geklärt“, so Mehmet
bedröppelt.
Dr. Ferlitschs Geduld mit den
ImpfgegnerInnen ist mittlerweile fast
erschöpft. Zu schwer wiegen die 1,5
Jahre Pandemie in den Gliedern der
ÄrztInnen und des Gesundheitspersonals.
Sie sind überarbeitet, teils selbst
von Long-Covid betroffen, müssen fast
täglich mitansehen, wie Menschen an
der Krankheit sterben und gleichzeitig
feststellen, dass außerhalb des Spitals
14 / POLITIKA /
DEINE VOR DER
REISE, FÜR DIE
REISE-APP.
Du fährst weg, wir informieren. Jetzt kostenlos und bequem über den QR-Code oder den App-
Store die Auslandsservice-App downloaden und gut vorbereitet ins Ausland fahren. Registriere
Dich vor Deiner Reise für Deine Reise. Wir informieren Dich über die aktuelle Lage in dem Land,
in dem Du Dich aufhältst, und helfen, solltest Du Unterstützung brauchen.
– Dein Außenministerium
24/7
/ MIT SCHARF / 15
Vor dem Betreten jedes Patientenzimmers muss das Krankenpersonal eine Reihe an Hygienemaßnahmen treffen.
kaum wer über Corona spricht. Das Klatschen von den
Balkonen ist längst verhallt. Primar Ferlitsch wird weiterhin
nicht müde, ImpfskeptikerInnen zum Umdenken anzuregen.
Die Geschichte handelt von einer 23-jährigen Patientin,
bei der eine Lebertransplantation unternommen wurde.
„Die Patientin erhielt eine immunsuppressive Therapie, das
heißt, ihr Immunsystem war eingedämmt“, erinnert sich
Ferlitsch und fährt fort: „Ich habe der ungeimpften Mutter
der Patientin mehrmals versucht zu erklären, dass sie sich
ihrer Tochter zuliebe impfen lassen sollte, da ihre Tochter
doch zur vulnerablen Gruppe gehörte.“ Zur Verwunderung
Ferlitschs lief die Mutter beleidigt davon. „Das ging so
weit, dass sie die Tochter nicht besuchen durfte, weil sie
auch den obligatorischen PCR-Test verweigerte“, so der
perplexe Arzt. Was mit der Tochter nach dem Spitalaufenthalt
passiert, will sich der Internist gar nicht ausmalen.
Tatsache ist, dass die Mutter das Leben des eigenen
Kindes mutwillig aufs Spiel setzt. Und klar ist, dass Corona
längst nicht nur betagte PensionistInnen gefährdet. Davon
berichten der Internist und Stationsleiter des Spitals im
zweiten Bezirk. Ihr Appell: „Lasst euch impfen!“, und
wenn nicht im eigenen Interesse, dann zumindest für die
Mitmenschen, wie die immunschwache 23-jährige oder
das am Rande des Burnouts arbeitende Krankenpersonal,
denn: „Ihr reißt andere mit ins Grab!“ ●
*
Namen sind der Redaktion bekannt und wurden auf ausdrücklichen
Wunsch der Betroffenen geändert.
„
Seit 2002 wird an SARS geforscht,
50.000 Menschen haben damals einen
baustoffähnlichen mRNA-Impfstoff
bekommen und bis heute kaum
Nebenwirkungen gezeigt. Und er enthält
keine Chips von Bill Gates, wie manche
Menschen vermuten.
“
Prof. Arnulf Ferlitsch,
Primar im Ordenskrankenhaus
Barmherzige Brüder in Wien.
16 / POLITIKA /
JOBS MIT AUSSICHTEN
„Lehre nach der Matura.
Starte in deine Handelskarriere!“
„Ergattere einen der
15 Ausbildungsplätze“
• Perspektiven nach deiner Ausbildung: Marktleitung einer Filiale
• Duale 2-jährige Ausbildung mit Lehrabschluss (Ausbildungsbeginn: September)
• 4-wöchiges Praktikum im Ausland inkl. Sprachkurs
• Attraktives Einstiegsgehalt von 1.740 EUR brutto
• Reise nach New York (bei guten Leistungen)
• Bewerbungszeitraum: Dezember bis Juni
• Fragen jederzeit an spar.akademie@spar.at
Bewirb dich jetzt unter
www.spar.at/karriere
JOBS MIT
ÖSTERREICH DRIN.
Stand: 04/2021
Herr Mückstein,
wie oft waren Sie
Ihren Töchtern
peinlich?
Wie viele
Paar Sneakers
haben Sie
in Ihrem
Schuhschrank
stehen?
Wie oft waren
Sie Ihren
Töchtern
peinlich?
Wie viele
Zigaretten
rauchen Sie am
Tag?
Interview in Zahlen: In der Politik
wird genug geredet. Biber fragt
in Worten, Gesundheitsminister
Wolfgang Mückstein antwortet
mit einer Zahl.
7
30
15
Von Şeyda Gün und Amar Rajković
Fotos: Zoe Opratko
Mückstein kennt kennt zwei Ärzte, die Covid verharmlosen.
1 Mal in der Woche muss der grüne Gesundheitsminister den
Kopf über den türkisen Koalitionspartner schütteln.
Wie viele
Après-Ski-
Lieder können
Sie laut
mitgrölen?
Welche
Schulnote
geben Sie der
Bundesregierung
für die
Bewältigung
der Pandemie?
Welche
Schulnote
geben Sie
der Stadt
Wien für die
Bewältigung
der Pandemie?
Wie oft in der
Woche hat
der Koalitionspartner
ÖVP
Kopfschütteln
bei Ihnen
ausgelöst?
Wie hoch ist die
Wahrscheinlichkeit
(in %),
dass die türkisgrüne
Koalition
vor 2023 in die
Brüche geht?
6
2
2
1
10
(1=sehr gut;
5=nicht genügend)
(1=sehr gut;
5=nicht genügend)
18 / POLITIKA /
Wie viele User
sind bei Ihnen
auf Twitter
blockiert?
Um wie viel
Uhr stehen
Sie unter der
Woche auf?
Wie viele
Menschen
kennen Sie,
die an Covid
verstorben
sind?
Wie viele Covid
verharmlosende
Ärzte
kennen Sie?
Wie viele
Quadratmeter
hat Ihre
Wohnung?
101
5
8
2
89
7 Paar Sneakers stehen im Schrank des Gesundheitsministers. 0 Whatsapp-Nachrichten hat Mückstein in seinem
Leben bereut.
Wie viele
der sechs
Vornamen
des neuen
Bundeskanzlers
können Sie
aufzählen?
Wie viele
WhatsApp-
Nachrichten
hätten Sie
lieber nie
geschrieben?
Wie oft haben
Sie Ihren Vorgänger
Rudolf
Anschober seit
seinem Rücktritt
persönlich
getroffen?
Wann waren Sie
das letzte Mal bei
0e24 im Studio?
Wie viel Euro
hat das Gesundheitsministerium
bis jetzt
für Information
zur Impfung
ausgegeben?
1
0
5
11.8.2021
440.000
Auflösung: Alexander Georg
Nicolas Christoph Wolfgang
Tassilo Schallenberg
/ POLITIKA / 19
„Die Taliban wollen ihr
Image aufpolieren“
Langsam verstummt das Medienecho um die Lage in Afghanistan –
darf es aber nicht. Wir haben die afghanische Botschafterin Manizha
Bakhtari getroffen und mit ihr über Frauenbilder der Taliban, die Realität
in Kabul und die afghanische Community in Wien gesprochen.
Von Delna Antia-Tatić und Aleksandra Tulej, Fotos: Mafalda Rakoš
BIBER: Frau Bakhtari, Mitte August
haben die Taliban Kabul eingenommen.
Wie geht es Ihnen?
MANIZHA BAKHTARI: Nicht gut. Ich
bin enttäuscht und wütend. Vor allem
deshalb, weil ich persönlich an Gleichberechtigung
und an Demokratie glaube.
Es fühlt sich an, als wäre alles, auf das
Afghanistan in den letzten Jahren hingearbeitet
hat, vernichtet worden. Es tut
mir am meisten weh, zu sehen, wie starke
und gebildete Frauen in Afghanistan
zu nutzlosen Mitgliedern der Gesellschaft
hinabgestuft worden sind.
Wie können Sie eigentlich immer noch
afghanische Botschafterin sein, wenn die
alte Regierung nicht mehr existiert? Wer
zahlt zum Beispiel ihr Gehalt?
Das ist eine sehr gute Frage, auf die ich
keine vollständige Antwort habe. Ich
habe diesen Posten unter einer anerkannten
Regierung angenommen, die
jetzige, also die Taliban-Regierung ist
ja nicht anerkannt. Ich habe Kontakt zu
dem ehemaligen Außenminister Hanif
Atmar und ehemaligen stellvertretenden
Außenminister Meerawais Nab sowie
zur afghanischen Botschaftergruppe.
Ich weiß nicht, wie lange ich den Posten
noch ausüben kann, so wie meine Mitarbeiter
und Angestellten – einen Tag, eine
Woche, einen Monat, oder länger. Ich
hoffe, bald eine konkrete Antwort darauf
zu haben. Wir haben finanzielle Schwierigkeiten,
aber ich hoffe, einen Ausweg
zu finden.
Was machen Sie, wenn Sie den Posten
nicht mehr ausüben können, weil, sagen
wir, die Taliban-Regierung anerkannt
wird? Müssten Sie um Asyl in Österreich
ansuchen? Oder würden Sie für die neue
Regierung arbeiten?
Ich werde nicht für die Taliban arbeiten.
Wenn das passiert, werde ich resignieren.
Nein, ich muss nicht um Asyl ansuchen.
Ich habe einen Plan, den ich aus
Sicherheitsgründen nicht verraten darf.
Über welche Kanäle beziehen Sie Ihre
Nachrichten aus Afghanistan?
Ich habe mit einigen Quellen in Afghanistan
Kontakt – welche das sind, kann
ich aus Sicherheitsgründen nicht sagen.
Ansonsten hauptsächlich aus den Social
Media, da diese nicht von den Taliban
kontrolliert werden. Noch haben sie das
Internet im Land nicht gekappt und ich
denke, dass das auch so bleiben wird
– hoffentlich. Sie kontrollieren zwar die
Medien, aber bei Social Media gestaltet
sich das schwieriger. Aber man muss
natürlich aufpassen, ob die Quellen
glaubhaft sind. Zudem sind die Menschen
in Afghanistan auch gezwungen,
auf Sozialen Medien Selbstzensur zu
betreiben, damit sie sich nicht in Gefahr
bringen. Auch private Konversationen
bringen mir Informationen. Ansonsten
schaue ich CNN und BBC.
Gibt es jetzt noch weibliche Journalistinnen
in Afghanistan, die arbeiten dürfen?
In den öffentlichen Medien nicht, in
privaten Sendern vereinzelt, aber das
wird auch nicht mehr lange halten. Die
Frauen sind jetzt eher im Hintergrund
und vor allem müssen sie sich vollständig
bedecken. Wissen sie, diese schwarze
Abaya, die wir jetzt überall sehen, ist
20 / POLITIKA /
„
Ich werde nicht für die Taliban
arbeiten. Wenn das passiert,
werde ich resignieren.
“
Manizha Bakhtari, afghanische
Botschafterin in Österreich
/ POLITIKA / 21
© Screenshot/Youtube.com/AFP
Dieser Clip ging um die Welt: Ein sichtlich eingeschüchterter, von Taliban umzingelter
afghanischer Nachrichtensprecher des Senders „Peace Studio“ Ende August.
nicht mal Teil der afghanischen Kultur.
Menschen in Afghanistan kleiden sich
allgemein eher bescheiden – das ist
schon Teil der Kultur. Aber früher durften
die Frauen sich aussuchen, was sie
tragen – und dafür stehe ich auch ein, ob
nun vollständiges Bedecken oder nicht,
das sollte eine freie Entscheidung sein.
Das geht jetzt nicht mehr. Ausländische
Reporterinnen haben es leichter, sie
dürfen sich im Land frei bewegen und
berichten. Sie werden von den Taliban
anders behandelt als unsere Frauen. Das
ist eine feige Doppelmoral.
Warum werden ausländische Journalistinnen
anders behandelt als afghanische?
Weil die Taliban international ihr Image
aufpolieren wollen, wenn man das so
sagen kann. Sie haben ihre Strategie
geändert. Sie sind jetzt, im Gegensatz
zu früher, offen für Hilfe von außen und
für Verhandlungen. In den Neunzigern
waren die Taliban sogar gegen das
Fernsehen oder das Fotografieren von
Menschen. Heute wollen sie sich als
quasi neue Generation präsentieren. Sie
wollen sich international als gemäßigter
zeigen, aber in Afghanistan selbst sieht
man wenig davon.
Wir haben ja alle das Foto von dem
TV-Reporter gesehen, der im Studio von
bewaffneten Taliban-Kämpfern umgeben
ist und sichtlich vor Angst zittert.
Ja, das ist das, was gerade mit der
Pressefreiheit in Afghanistan passiert.
Wir hatten viele Probleme in den letzten
Jahren, aber zumindest hatten wir die
Pressefreiheit.
Wie ist das Frauenbild der Taliban heute?
Genauso verzerrt. Sie sagen: Wir respektieren
Frauen, aber Frauen sollen zu
Hause bleiben. Es gibt keinen Platz für
Frauen in der Politik und im öffentlichen
Leben. Ihrer Meinung nach sind Frauen
dazu da, den Männern zu dienen. Sie
interpretieren da in die Kultur und Religion
etwas hinein, was nicht da ist. Weil
sie Frauen nicht als Teil der Gesellschaft
ansehen, sondern offen und ehrlich
gesagt als Sexobjekte. Und das hat
meiner Meinung nach weder mit Religion
oder Kultur zu tun, sondern mit fragiler
Männlichkeit.
Die Taliban haben Versprechen gemacht,
dass Frauen sich weiterhin bilden dürfen.
Wird dieses Versprechen eingehalten
werden?
Das wird sich in der Praxis schwierig
gestalten. Sie wollen Klassenräume, die
nach Geschlechtern getrennt sind. Dafür
hat Afghanistan einfach keine Kapazitäten,
weil wir nicht genug weibliche
Lehrerinnen und Professorinnen haben.
Afghanistan ist ein sehr patriarchales
Land. Selbst wenn sie das so ankündigen,
wird es einfach an der Durchsetzbarkeit
scheitern.
Was sagen Sie zu Frauen, die mit den
Taliban sympathisieren? Wir denken da
an die Frauen, die in Kabul auf Pro-Taliban-Demos
Schilder hochhalten.
Ich respektiere sie, so wie ich jeden
Menschen respektiere. Ich finde es nur
paradox, dass man für ein System auf
die Straße geht, das sich gegen die
Demokratie richtet, denn genau diese
Meinungsfreiheit macht eine Demokratie
ja aus und dazu gehört eben auch
die Möglichkeit, zu demonstrieren. Ich
denke ehrlich gesagt, dass viele dieser
Frauen sich über die Situation nicht im
Klaren sind und einfach das mitmachen,
was sie von ihren Vätern, Onkeln und
Brüdern hören. Ich vermute, dass sie
nicht genau wissen, was auf diesen
Schildern steht. Das ist ja das nächste
Problem: In Afghanistan gibt es in der
Praxis keine Schulpflicht, das heißt, niemand
kontrolliert, ob Eltern ihr Kind zur
Schule schicken oder nicht. Und dadurch
entstehen enorme Bildungslücken und
Analphabetismus. Und so dreht sich das
Rad immer weiter.
Sind Sie in Kontakt mit der afghanischen
Community in Wien? Und kann man
überhaupt von Community sprechen?
Die Diaspora hier ist sehr divers, genau
wie in Afghanistan. Es gibt die Liberalen,
die Konservativen, es gibt die, die aktiv
am politischen und gesellschaftlichen
Leben teilnehmen, und solche, vor allem
Frauen, die oftmals kaum ihr Haus verlassen.
Die Spannbreite reicht von sehr
gebildeten Menschen bis hin zu AnalphabetInnen.
Was sagen sie zu den wiederholten
Straftaten, die von afghanischen Männern
an Frauen in Österreich verübt
werden?
Es tut mir weh, so etwas zu hören. Wir
versuchen hier, mit solchen Menschen in
Kontakt zu treten und sie zu sensibilisieren
und aufzuklären, was die Kultur, den
Culture-Clash und die Sitten hier angeht.
Frauen sind keine Sexobjekte. Ich denke
aber nicht, dass solche Männer, von
denen wir hier sprechen, unbedingt mit
den Taliban sympathisieren. Das ist kein
politisches Denken, sondern ein sehr
veraltetes und konservatives Weltbild.
Aber das ist nur ein Bruchteil, die meisten
afghanischen Männer respektieren
ihre Frauen, Mütter und Töchter und
verurteilen so ein Verhalten.
22 / POLITIKA /
Wir haben Manizha Bakhtari Mitte September in der afghanischen Botschaft in
Wien getroffen.
Können Sie es nachvollziehen, wenn in
Österreich lebende Afghanen mit den
Taliban sympathisieren?
Ich denke, dass diese Menschen das
sehr naiv sehen und etwas romantisieren,
was nicht echt ist. Sie sind jung,
unreif, haben oftmals nicht unter den
Taliban gelebt und kennen die Realität
nicht. Und die Realität ist hart und alles
andere als schön. Aber das ist kein
neues Phänomen. Denken Sie mal an all
die jungen Frauen, die aus Europa, aus
Österreich nach Syrien gegangen sind,
um Ehefrauen von Jihadisten zu werden.
Das war genau diese unrealistische Vorstellung,
die sehr böse geendet hat.
Was denken Sie über die „Hilfe vor Ort“,
zum Beispiel in Turkmenistan oder Usbekistan,
die Österreich als Hilfe zugesagt
hat? Gezielt Flüchtlinge oder besonders
schutzbedürftige Frauen will die Regierung
ja nicht aufnehmen.
Wir sind dankbar für jegliche Hilfe von
außen und schätzen das sehr.
Sie haben die Taliban als Terroristen
bezeichnet. Was denken Sie darüber,
wenn andere Regierungen mit ihnen verhandeln
wollen, um beispielsweise einer
Hungersnot entgegenzusteuern?
Das ist ein allgemein bekannter Fakt,
dass Taliban Terroristen sind. Das kommt
nicht von mir. Einige ihrer Regierungsmitglieder
sind gesuchte Terroristen. Sie
sind keine anerkannte Regierung. Aber
man muss irgendwie mit ihnen kommunizieren,
was die humanitären Probleme
angeht. Wir brauchen Hilfe, Geld,
Nahrung und Medikamente. Dazu kommt
noch, dass Afghanistan einen schweren
Sommer hinter sich hat, die Ernte dieses
Jahr war mager. Es droht eine humanitäre
Krise. Wir sollten das nicht verwechseln:
Das politische Interesse und die
Hilfe für die Menschen vor Ort müssen
wir getrennt betrachten.
Wie sehen Sie die Zukunft Afghanistans
– sollten westliche Truppen wieder
intervenieren?
Ich denke nicht, dass das die Lösung
ist. Aber was ich sagen kann: Wir haben
eine neue Generation in Afghanistan und
diese Generation wird nicht still sein,
sondern Widerstand leisten. Ich finde,
dass man auf die Taliban Druck ausüben
sollte und sie zur Verantwortung ziehen
muss.
Sie hoffen also, dass sich die Taliban
verändern werden?
Das wäre natürlich wünschenswert.
Zum Schluss noch eine Frage zu Ihrem
Werdegang: Wie kommt es, dass sie
Journalismus studiert haben und jetzt
Diplomatin sind?
Ich war immer ein Bücherwurm. Ich hatte
Glück, dass in meiner Familie Bildung
immer sehr wichtig war, unabhängig
davon, ob es um die Töchter oder Söhne
ging. Meine Schwestern und ich durften
uns unseren Job aussuchen und
hatten viele Freiheiten. Natürlich nicht
solche Freiheiten, wie einen Freund zu
haben oder männliche Klassenkollegen
zu uns nach Hause einzuladen – es gab
Grenzen, vor allem, weil meine Mutter
sehr religiös war. Aber im Vergleich zu
vielen andern Familien hatte ich viele
Möglichkeiten. Nach der Übernahme der
Taliban in den 90er Jahren durfte ich
nicht arbeiten und bin für einige Jahre
nach Pakistan gegangen. 2001 sind
wir dann wieder zurückgekehrt und ich
habe mich weiter bei NGOs eingesetzt.
Ich habe an der Journalismus-Fakultät
studiert. Gleichzeitig habe ich begonnen,
mich mit Gleichberechtigung, Demokratie
und Frauenrechten auseinanderzusetzen.
2006 wurde mir ein Job im Außenministerium
angeboten, und so begann meine
diplomatische Karriere. Heute schließe
ich nicht aus, dass ich später einmal meine
akademische Karriere weiterverfolgen
werde.
Ihren Posten als Botschafterin haben Sie
mitten im Corona-Lockdown, im Jänner
2021, angetreten. Was haben Sie als
Erstes gemacht, als alles wieder geöffnet
hat?
Ich bin sofort in alle möglichen Museen
gerannt und bin einfach herumspaziert
und habe die Schönheit dieser Stadt
bewundert.
Was ist Ihr Lieblingsgericht der österreichischen
Küche?
Schnitzel und Kaiserschmarrn. Und
dieses gekochte Fleisch in einer Suppe,
weil mich das an die afghanische Küche
erinnert. Ich weiß aber nicht genau, wie
das heißt?
Tafelspitz?
Tafelspitz!
/ POLITIKA / 23
KURZ GEHT,
KURZISMUS BLEIBT
Was geschieht nun mit dem politischen Erbe des Sebastian Kurz? Bleiben
Moscheen unbehelligt, Integrationsbotschafter verwaist und die Balkan-Routen
unbewacht? Diese Fragen stellt sich der ehemalige IGGÖ-Pressesprecher und
Medienberater Ruşen Timur Aksak. Ein Gastkommentar.
Der einst schillernde Stern am Firmament
der Konservativen Europas hängt in den
Seilen. Wie ein schwer angeschlagener
Boxer braucht es nur noch einen Treffer, um ihn
endgültig ins Land der Träume zu schicken. Jetzt
werden natürlich die Boxfreunde unter uns einwenden,
dass auch ein in den Seilen hängender Boxer
sich zurückkämpfen kann. Natürlich. Aber sollte
das Kurz gelingen, dann wäre es wohl das größte
Comeback, seit Lazarus von den Toten auferstanden
ist.
Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, aber die
Zeichen stehen auf Untergang. Die Häme und Kritik der politischen
Gegner des Ex-Kanzlers sind nicht sein größtes Problem,
sondern mehr die schwerwiegenden Anschuldigungen und
die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen ihn – und ganz
besonders die Absetzbewegungen der mächtigen ÖVP-LandesfürstInnen.
Das schmerzt, denn nichts steht in der ÖVP symbolträchtiger
für den Machtverlust eines Parteiobmanns, als wenn
die grauen Eminenzen aus den Landeshauptstädten am Stuhl
des ÖVP-Parteiobmanns sägen (lassen). Kurz kennt das, denn
er selbst hat seinen Vorgänger Mitterlehner mit stiller Zustimmung
der schwarzen Landesfürsten abgesägt.
Nehmen wir also mal an, wir haben den Anfang vom Ende
schon erlebt. Was bedeutet das für die Integrations- und Islam-
Themen, die Erfolg und Aufstieg des türkisen (nicht türkischen,
bitte, obwohl auch Erdoğans Stern sinkt und sinkt) Populisten
überhaupt ermöglicht haben? Denn darüber wird kaum gesprochen,
auch nicht in jenen etablierten Redaktionen, die dieser
Tage ganz erpicht auf Analysen und Vorhersagen zur politischen
Zukunft des Landes sind.
OBSESSION MIT ASYL UND ISLAM
Was geschieht nun mit dem politischen Erbe des Sebastian
Kurz? Bleiben Moscheen unbehelligt, Integrationsbotschafter
verwaist und die Balkan-Routen unbewacht? Wir kennen die
Antwort. Auch wenn Kurz´ Niedergang endgültig sein wird,
so wird sein politisches Erbe überleben. Denn eines ist klar:
Sebastian Kurz war nie ein Wunderknabe, sondern vor allem
Der Autor Ruşen
Timur Aksak
ein ehrgeiziger Machtpolitiker, der noch als Staatssekretär
für Integration relativ früh erkannt hatte,
wie viele Probleme gegeben sind, und wie einfach
er reüssieren könnte, wenn er diese rechtspopulistisch
aufgeladen in sein politisches Portfolio
aufnehmen würde. Man erinnere sich an das
Thema „Islam-Kindergärten“. Für jeden Kenner der
Lage war es ein vielschichtiges Problem mit vielen
Verantwortlichen, aber es waren die Türkisen, die
daraus ein bundespolitisches und sogar ein Wahlkampfthema
gemacht haben. Ein hochrangiger
Funktionär eines großen Islamverbandes hat mir einmal unter
vier Augen gesagt: „Kurz und seine Leute haben uns studiert,
sie waren nett zu uns und dann haben sie alles gegen uns
verwendet.“ Die gepflegte Obsession für die Themen Asyl, Migration
und Islam sind fester Bestandteil des kurz’schen Erfolgs.
In keinen anderen Bereichen war der effektive Widerstand der
anderen Parteien und auch der Medien so gering wie in diesen.
Weil sich die Parteien und viele Medien bis heute regelrecht
weigern, in diesen Bereichen – gerade beim Thema Islam/
ismus – notwendige Kapazitäten aufzubauen und Ressourcen
aufzustellen, war es für Kurz ja so leicht. Wer nicht weiß, unter
welchen strengen Bedingungen (Moschee-)Vereine überhaupt
aufgelöst werden können, ist für den türkisen Schmäh natürlich
ein leichteres Opfer gewesen. Und nur so konnte die jüngste
Verschärfung des Islamgesetzes am Ende von allen Parlamentsparteien
(bis auf die FPÖ) derart kleinlaut durchgewunken
werden.
Was ich als ehemaliger Journalist, Ex-IGGÖ-Pressesprecher
und Medienberater rückblickend sagen kann: Auch wenn Kurz
gegangen sein wird, so wird der Kurzismus bleiben. Kurzismus,
das ist ein Modell, das jedem populistischen Semi-Charismatiker
noch die Chance auf die Kanzlerschaft gibt, wenn er nur
die richtigen Themen mit 2–3 knackigen Slogans bespielt. Ob
das nun ein Kurz-Klon in der ÖVP oder eine wiedererstarkte
FPÖ sein wird, ist mittlerweile ja schon unerheblich. Es ist den
linken und liberalen Parteien und auch den Medien im Freudentaumel
nicht zu verzeihen, dass sie es waren, die Kurz’ Weg
begünstigt und den Kurzismus zugelassen haben. ●
© privat
24 / POLITIKA /
© Philipp Tomsich
Ein Fund aus dem Archiv: 2011 hat Biber den damaligen Staatssekretär und nun
Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz in einer Dönerbude abgelichtet.
/ POLITIKA / 25
ZUHAUSE
IST ES DOCH
AM SCHÖNSTEN
Die klassische Hausparty hat im Corona-Lockdown
ein wahres Revival erlebt. Gestandene Partygäste
über ihren Umgang mit Feierlaune in der Pandemie
und die Vorzüge der eigenen vier Wände.
Von Nada El-Azar, Fotos: Zoe Opratko
26 / RAMBAZAMBA /
Ich war mal auf dieser krassen Rooftop-Party. Da waren
lauter reiche 30-Jährige, die mit Krypto und Aktien
und sowas Kohle gemacht haben. Irgendeiner von
denen hat mir etwas über Penny Stocks erzählt, aber
ich war schon total betrunken und hab nichts verstanden“,
erinnert sich Amira. Die 22-Jährige ist in Wien-Meidling
aufgewachsen und hat im vergangenen Jahr regelmäßig
Hauspartys besucht – auch während des Lockdowns. „Mich
nahm immer eine Freundin mit, die ich vom Fortgehen kannte
und die wiederum auch viele Kontakte vom Fortgehen hatte“,
so die Verkäuferin. Auch in der Zeit bevor die Impfung verfügbar
wurde, hatte sie nur wenig Angst vor einer Covid-Erkrankung.
„Manchmal wurde in den WhatsApp-Gruppen gesagt,
dass sich alle testen gehen sollten. Aber ehrlich gesagt habe
ich das selber nicht immer rechtzeitig geschafft und kontrolliert
hat es niemand“, gibt sie zu. „Es haben eh immer welche
dort geschmust und keinen Abstand gehalten. Wenn man
trinkt, denkt man nicht an Hygiene. Es war so wie früher halt.“
„ZUHAUSE RUMZUSITZEN SCHADET DEN
MENSCHEN DOCH MEHR ALS CORONA.“
Auch Mert, 23 Jahre, berichtet: „In meinem Freundeskreis
hat jeder irgendwo eine Party gemacht, ich war echt viel
unterwegs im Lockdown. Noch mehr als früher eigentlich.“
Seiner Meinung nach sind die Partybesuche kein Zeichen von
mangelnder Verantwortung gewesen, sondern geschahen
aus Notwendigkeit. „Man braucht als junger Mensch einfach
Gesellschaft. Wir wollten normal weiterleben – zuhause her-
/ RAMBAZAMBA / 27
B.Y.O.B. - Bring your own beer! Zuhause zu feiern schont
nicht nur die Nerven, sondern auch den Geldbeutel.
umzusitzen schadet den Menschen doch mehr als Corona“,
winkt er ab. „Die Menschen übertreiben einfach, das ist wie
eine Grippe. Und ich werde sonst auch niemals krank“, fügt
er hinzu. Besonders attraktiv an den Hauspartys fand der
türkischstämmige Wiener eine gewisse Exklusivität und die
entspannte Atmosphäre. Dass in der Nachtgastronomie nun
die 2G-Regel gilt, treibe umso mehr Impfunwillige zu Partyalternativen
im Privaten.
„Wenn du in den Club gehst, ist es viel teurer und es
gibt dort immer Idioten, die Ärger machen oder komisch
sind. Bei Hauspartys nimmt jeder einfach noch Leute mit
und man kann sogar viel besser Mädels kennenlernen als im
Club.“ Mert arbeitete über eine Zeitarbeitsfirma als Aushilfe
in diversen Hotels. Wegen des Lockdowns und dem
damit verbundenen Einbruch im Tourismus konnte er jedoch
phasenweise nicht arbeiten, da es keinen Bedarf an Aushilfen
gab. „Was hätte ich denn alleine zuhause
tun sollen, wenn selbst arbeiten keine Option
war?“
„
Ob ich mich auf einer
Party oder in der
U-Bahn angesteckt
habe, konnte ich
nicht nachvollziehen.
“
28 / RAMBAZAMBA /
AIRBNB-PARTYS
UND DROGEN
Sowohl Amira als auch Mert gaben an, dass
einige der Hauspartys in Wohnungen oder
Häusern stattfanden, die über die Plattform
Airbnb gebucht worden waren. Nähere Angaben
zu den Gastgebern und Orten wollten sie
jedoch nicht preisgeben. Oftmals hätte es sich
jedoch um Locations in den Außenbezirken
gehandelt. „In Favoriten ruft keiner die Polizei,
wenn es zu laut ist“, lacht Amira. „Bei meiner
ersten Airbnb-Party hat jemand ein ganzes
Haus gemietet, im 19. Bezirk. Ich kannte den
Gastgeber überhaupt nicht, ich wurde von
einem Freund mitgenommen. Es war eine richtig
fette Party mit DJ, Lichtern und allem, ich
konnte nicht mal alleine aufs Klo gehen, weil
überall Menschen waren. Irgendjemand schlief
in der Badewanne, und jeder rauchte überall,
wo es ihm passte.“ Solche Feiern blieben allerdings
oft nicht unbemerkt. „Wenn die Polizei da
war, haben wir die Musik für 15 Minuten ausgemacht
und waren alle kurz still. Die Beamten
dürfen die Wohnung in so einem Fall ja gar
nicht betreten.“
Fehlende Kontrolle gab es aber nicht nur in
Bezug auf die Hygienemaßnahmen, sondern
auch beim Drogenkonsum unter den Partygästen.
„Es war besser als in jedem Club. Überall
wurde Koks gezogen und ein Typ hatte einen
riesigen Haufen Gras mit.“ Wegen des großen
Anstiegs an Buchungen für Privatfeiern hat
Airbnb seit dem 20. August 2020 ein weltweites
Partyverbot verhängt. Zusammenkünfte
von mehr als 16 Personen sind seitdem auch
mit Zustimmung der Vermieter nicht erlaubt.
Wer sich nicht an diese Regelung hält, wird
gesperrt oder angezeigt. Auch die gängigen Suchfilter
„event-friendly“ und „parties and events allowed“ wurden
gestrichen, um unerlaubten Partybuchungen vorzubeugen.
Nachbarn können sich im Verdachtsfall zudem direkt bei
Airbnb über eine Hotline melden und Lärmbelästigung durch
Partys melden.
FEIERN OHNE KONSUMZWANG
Auch in Maries Freundeskreis kam es immer wieder zu solchen
Airbnb-Partybesuchen. Sie selbst veranstaltete jedoch
auch in ihrer Wohnung Partys, als von der Öffnung der Clubs
noch lange nicht die Rede war. „Ja, ich gebe zu, ich habe
2020 im Lockdown Partys veranstaltet. Ich wollte mit meinen
Freunden in Kontakt bleiben und habe auch gezielt gesagt,
dass jeder noch Leute mitnehmen kann, wie er möchte. Für
die Getränke haben alle gemeinsam gesorgt – das sparte im
Endeffekt uns allen viel Geld“, so die Studentin.
Im Frühjahr wurde sie positiv auf das
Coronavirus getestet. „Ob ich mich auf einer
Party angesteckt habe oder in der U-Bahn,
konnte ich aber nicht nachvollziehen. Zwei
Wochen lang ging es mir richtig dreckig, aber
ich war irgendwo auch erleichtert, die Erkrankung
hinter mich gebracht zu haben. Als
Genesene habe ich ja heute keinen Nachteil“,
erzählt die Wienerin.
Nicht nicht nur der soziale Aspekt der Hauspartys ist
ausschlaggebend. Auch das Bedürfnis nach mehr Orten, an
denen man zusammenkommen könne, ohne einen großen
finanziellen Aufwand dafür betreiben zu müssen, ist seit
dem Lockdown deutlich gestiegen. Man erinnert sich noch
gut an die Szenen am Wiener Donaukanal vom Frühling, wo
tausende Menschen nach der Corona-Sperrstunde ab 22 Uhr
zum Feiern zusammenkamen. „Die Tankstelle am Schwedenplatz
hat uns alle gerettet“, so Amira, die es zu dieser Zeit
auch gerne an den Kanal zog. Medial wurde einerseits auf
die unverantwortliche „Partyjugend“ geschimpft und von der
Stadt wurden kurzerhand Platz- und Alkoholverbote verhängt.
Auf der anderen Seite wurde jedoch die berechtigte
Frage aufgeworfen, wie man öffentliche Plätze sicher und
ohne Konsumzwang gestalten kann, sozusagen als Verlängerung
des eigenen Wohnzimmers. „Ich war vor zwei Wochen
zum ersten Mal seit Corona im Club und war wirklich überfordert“,
erzählt die 29-jährige Ana. Im ersten Lockdown
habe sie sich noch sehr penibel an die Hygienemaßnahmen
und ‚Social Distancing‘ gehalten. Bei Lockdown Nummer drei
ging sie schon gerne auf Partys im kleinen Kreis. „Ich habe
mich im Lockdown total entwöhnt vom Fortgehen. Es war
zwar supernett, aber ich bevorzuge am Ende doch eher eine
gute Homeparty.“
Zuhause ist es doch am schönsten - das trifft auch in
Sachen Party zu. Ob in Zukunft neue, offene Feierkonzepte à
la Wohnzimmerfeeling auf uns zukommen werden? Es wäre
sicherlich eine Überlegung wert. ●
„Ich konnte nicht mal alleine auf’s
Klo gehen, weil überall Menschen
waren.“ Homeparty geht im großen
Stil, und im kleinen Kreis.
J U K . A T
,
GOT WHAT S HOT
36 / RAMBAZAMBA /
INSIDE: FRAU MIT VIERZIG
„BEKOMMT DIE
KINDER JETZT, BEVOR
ES ZU SPÄT IST!“
© Zoe Opratko
„Bekommt eure Kinder
jetzt – bevor es zu spät
ist!“ Mit dieser Message
an junge Frauen verabschiedete
sich biber-
Chefredakteurin Delna
Antia-Tatić vergangene
Ausgabe (September
2021) in die Babykarenz.
Der Text stieß auf unglaubliche Resonanz und
löste hitzige Diskussionen in den Kommentarspalten
unser Social Media Kanäle aus – auch
innerhalb der Redaktion wurde diskutiert und
überlegt. Ob Kinder kriegen Anfang Zwanzig so
viel „gescheiter“ ist als Ende Dreißig? Eine hat
es jedenfalls getan.
EINE REPLIK:
„Wer Kinder
bekommt,
wird bestraft“
Uni und Kind unter einen Hut zu bringen
ist kein Kinderspiel: Autorin Sandra
Schmidhofer (27) und ihre Tochter
30 / RAMBAZAMBA /
Mit jungen 22 Jahren wurde Autorin Sandra Schmidhofer Mama.
In ihrem damaligen Freundeskreis war sie die Erste mit Kind.
Heute, fünf Jahre später, ist sie immer noch die Einzige.
Von Sandra Schmidhofer, Foto: Zoe Opratko
Kopfschütteln, Gelächter, Irritation
– das waren die Reaktionen
meiner Freund:innen,
wenn ich gefragt habe, ob
sie nicht auch bald Nachwuchs wollen.
„Noch lange nicht“, war die Standardantwort.
Und so blieb ich auf Spielplätzen
und in Baby-Cafés oft die Einzige, die
nicht Mitte 30 war und sich Gedanken
über Hauskauf, Hochzeiten oder Scheidungen
machte. Nach einiger Zeit habe
ich sie dann doch gefunden: Die jungen
Mütter und Väter, die auf unterschiedlichste
Weise ihr Familienglück leben – es
gibt uns, doch wir sind in der Minderheit.
VON NORMAL ZU
ABNORMAL
„Du bist die Babysitterin, oder?“ – eine
Frage, die ich vor allem in den ersten
zwei Lebensjahren meiner Tochter
unzählige Male gestellt bekommen habe.
Die Reaktionen auf meine Antwort waren
oft daneben. „Du bist die Mutter? Nein,
das glaube ich nicht!“ oder „Du bist doch
noch viel zu jung!“ waren hier unangenehme
Klassiker. Dass manche junge
Erwachsene es wagen, Kinder zu bekommen,
scheint für viele fast ein Skandal
zu sein. Dabei ist es noch nicht so lange
her, da war es ganz normal, Anfang 20
Kinder zu bekommen. Laut dem österreichischen
Institut für Familienforschung
der Universität Wien lag das Durchschnittsalter
einer Mutter bei ihrer ersten
Geburt 1980 bei 23,3 Jahren. Seither ist
dieses Alter stetig angestiegen und lag
2019 bei 29,9 Jahren.
Dass sich junge Menschen mit der
Familienplanung heute mehr Zeit lassen,
kann ich durchaus verstehen. Denn
jungen Eltern wird es nicht gerade leicht
gemacht. Ausbildung und Elternsein
zu vereinbaren, ist herausfordernd. Als
junge Frau, die gerade ins Berufsleben
einsteigt, begegne ich einer Unmenge an
Anforderungen – allen voran jene nach
uneingeschränkter zeitlicher Flexibilität,
die ich als Mutter schlicht und ergreifend
nicht erbringen kann. Das Kind kann ich
schließlich nicht nach Betriebsschluss
aus dem Kindergarten abholen und
Babysitter lassen sich nicht spontan
aus dem Ärmel zaubern. Auf Rücksicht
von Seiten der Arbeitgeber kann ich nur
hoffen, in der Regel gibt es sie nur dort,
wo Frauen in Führungspositionen sitzen.
Dazu kommt, dass es in vielen Branchen
großen Konkurrenzkampf gibt. Als Mama
fällt es schwer, da mitzuhalten. Plötzlich
ist man wieder abhängig von der Familie
oder von Institutionen wie Kindergärten
und Horten – und das in einer Lebensphase,
in der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung
einen großen Stellenwert
haben.
ARBEIT, STUDIUM, KIND?
Von uneingeschränkter Freiheit können
meine kinderlosen Freund:innen trotzdem
nicht berichten. Für manche ist es
auch ohne Kind schwierig, eine Work-
Life-Balance zu finden. Neben Arbeit,
Studium und Freizeitaktivitäten noch
ein Kind großzuziehen, scheint für viele
unvorstellbar. Und es stimmt: Es verlangt
einem ein hohes Maß an Management-
Qualitäten ab, Job, Kinderspielplatzbesuche,
Buch vorlesen, Küche putzen und
die „tägliche“ Yogaroutine unter einen
Hut zu bringen. Hinzu kommt, dass Partnerschaften
in jungen Jahren oft instabil
oder gar inexistent sind. Es macht also
Sinn, das Elternwerden auf später zu
verschieben, wenn man einen sicheren
Job hat, eine feste Partnerschaft, und
eine große Wohnung. Wenn man das
Jungsein genossen hat, erstmal nur für
sich selbst leben konnte. Oder?
DER DENKFEHLER
So sehr ich den Gedankengang verstehen
kann, so sehr glaube ich, dass ihm
ein grundsätzlicher Denkfehler unterliegt.
Es wird nicht leichter, wenn man
älter wird. Einige Probleme, die einem
mit Anfang 20 begegnen, begleiten
einen weit ins Erwachsenenalter hinein.
Schwierigkeiten, Job und Familie zu
vereinbaren, gibt es auch mit Mitte 30.
Partnerschaften können auch in diesem
Alter in die Brüche gehen. Viele Schwierigkeiten
haben weniger mit dem Alter
als mit den Strukturen zu tun, in denen
wir leben. Oft habe ich das Gefühl, dass
Frauen fürs Kinderbekommen regelrecht
bestraft werden. Mit schlechteren Chancen
auf einen Job, geringerem Gehalt,
niedrigerer Pension und wenig Anerkennung
für die Leistung, die sie erbringen.
Ungerechte Aufteilung der Familienarbeit
hat nach wie vor traurige Tradition.
Was Familien jeden Alters brauchen, ist
gesellschaftliche und politische Anerkennung.
Und zwar nicht in Form von
Lobgesang und netten Worten, sondern
in familienfreundlichen Arbeitsbedingungen
und Ausbildungsmöglichkeiten
sowie einer grundsätzlichen Toleranz für
unterschiedliche Lebensumstände.
Statt also seine kostbare fruchtbare
Zeit damit zu verschwenden, auf den
perfekten Moment für das erste Kind zu
warten, macht es mehr Sinn, sich für
die notwendigen Umstände einzusetzen
und sie einzufordern – bei unseren
Arbeitgeber:innen, Bildungseinrichtungen,
Politiker:innen und Partner:innen. ●
/ RAMBAZAMBA / 31
LIFE & STYLE
Mache mir die Welt,
wie sie mir gefällt
Von Aleksandra Tulej
NOSTALGIE-SPALTE
Haut-Tipp
RETTER FÜR
DEN HERBST
MEINUNG
Eilt: O.C., California:
Positionswechsel
Als Teenagerin war die Serie „O.C., California“
eine Art Religion für mich. Ich habe
damals bei jedem Drama und jedem Cliffhanger
mitgefiebert, als würde mein Leben
davon abhängen. Wie es sich zum guten
Ton einer jeden rebellischen 14-Jährigen
gehört, habe ich natürlich Marissa Cooper
als mein absolutes Vorbild betrachtet. Vor
allem, als sie mit Bad Boy Volchok zusammen
war und ihre schwarz lackierten Fingernägel
und Metal-Band-Shirts eindeutig
ausdrückten, dass sie auf die schiefe Bahn
geraten war. Sie hat sogar einmal Bong
geraucht. Ur geil, ich wollte auch so sein.
Nur leider musste ihre nervige, geldgierige
Gold Digger-Mutter immer alles zerstören.
Julie Cooper war mir immer ein Dorn
im Auge. Sie hat zu den manipulativsten
und psychopathischsten Mitteln gegriffen,
um an Geld zu kommen: Mit alten
reichen Männern angebandelt, gelogen,
bestochen und erpresst. Es hat weitere 14
Jahre gebraucht, bis ich realisiert habe:
Julie Cooper ist die Beste. Sie hat all das
gemacht, um ihrer verzogenen Tochter
eine Zukunft zu bieten, und hat es – wenn
auch mit unkonventionellen Mitteln – aus
jeder Misere hinausgeschafft. Symbolisch:
Den Trailer Park mit Louis-Vuitton-Koffern
verlassen. Hiermit teile ich meinen Positionswechsel
in dieser Causa mit und mach
mich dran, die Serie von Neu zu streamen.
California, here we comeeee!
tulej@dasbiber.at
Ich sehe ohnehin eh nie erholt aus,
aber jetzt geht es wieder los mit
Heizungsluft und fahler Herbst-Haut.
Die Lösung: Das Bye Bye Dullness 15
% Vitamin C Serum von IT-Cosmetics
pusht die Haut mit Vitaminen
und Feuchtigkeit.
Ist laut
Hersteller
für
alle Hauttypen
geeignet. IT
Cosmetics,
25 €
Halbe Sachen:
BABA WIMPERN
Ich schaue ungeschminkt aus wie
Rufus, der Nacktmull aus Kim Possible.
Aber wie besagt das alte Sprichwort:
Wo die Natur nicht gnädig ist, schaffen
Fake-Wimpern schnell Abhilfe. Die
„herkömmlichen“ Modelle sind mir
aber viel zu arg. Nicht, dass Huda Sanchez
nicht mein heimlicher TikTok-Girl-
Crush wäre, aber man
muss ja den Schein wahren,
zumindest so halb.
Deshalb, Empfehlung des
Hauses: Die Half Lashes
„lashes to impress“ von
Essence um 2,45 €. Vertraut
mir einfach.
BILDUNGS-
FERNSEHEN
MTV
Es gab eine Zeit, als MTV und
VIVA noch nicht aus Jamba-
Nacktscannern, singenden
Küken und nervigen Klingeltönen
bestand. Die guten alten frühen
2000er. Am Programm standen
Room Raiders, Pimp My Ride,
Flavour of Love, Dismissed, My
Super Sweet Sixteen, MTV Cribs
und und und. Ich frage mich, ob
diese Shows heute noch so funktionieren
würden. Wahrscheinlich
nicht, aber es war dennoch eine
Welt, die ich nicht missen will.
Ich kann die Titelmelodien sicher
noch auswendig mitträllern und
warte vergeblich darauf, bis
Xzibit an meine Tür klopft, um
mein Fahrrad mit einem Jacuzzi
auszustatten.
© Zoe Opratko, Essence, IT Cosmetics, MTV
32 / LIFESTYLE /
Bezahlte Anzeige
Manche nennen es Job,
ich nenne es Zukunft.
Bewirb dich jetzt!
Die Elementarpädagog*innen und Pädagog*innen für den inklusiven Bereich der Stadt Wien
begleiten die Kinder aufmerksam bei der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt. Sie gehen
dabei auf die individuellen Interessen, Begabungen und Bedürfnisse der Kinder ein.
Du hast eine entsprechende Ausbildung? Dann bewirb dich jetzt auf unserer Jobplattform!
Du möchtest dich beruflich in diese Richtung verändern? Dann informiere dich über die
Ausbildung an der bafep21!
jobs.wien.gv.at
Kochbuchautorin Serayi dreht
den Köftespieß um und zeigt, dass
orientalische Küche nicht nur
fleischlastig - sondern auch komplett
ohne tierische Produkte geht. Die
26-Jährige Deutsche mit türkischkurdisch-persischen
Wurzeln erzählt,
warum sie lieber im türkischen
Supermarkt einkauft und verrät, welche
Zutat in jede Küche gehört.
Von Aleksandra Tulej
„Am liebsten
esse ich veganen
Baklava-
Cheesecake“
34 / LIFESTYLE /
BIBER: Serayi, dein erstes Kochbuch
„Orient trifft vegan“ ist ein Spiegel-Bestseller
geworden. Ende des Jahres kommt
dein zweites Buch „Orient trifft fit“ heraus.
Was erwartet uns im zweiten Teil?
SERAYI: Im ersten Buch finden sich
vorwiegend traditionelle Rezepte, die es
so schon gibt – nur habe ich eben die
veganen Optionen nachgekocht. Für das
zweite Buch habe ich selbst neue orientalische,
gesunde Rezepte kreiert, die
es so noch gar nicht gibt. Mit Kräutern,
Gewürzen, Rosenblättern – also allem,
was traditionell dazugehört, aber eben
vegan und meiner Meinung nach gesünder.
Es geht mir aber nicht um Kalorienzählen,
sondern einfach um das Mindset,
dass bewusste, gesunde Ernährung sich
positiv auf Seele und Körper auswirkt.
Was hat dich dazu bewegt, vegan zu
leben?
Das war ein Prozess. Ich bin vor ungefähr
sechs Jahren auf Dokus über Milchund
Fleischproduktion gestoßen und das
hat mich zum Nachdenken bewegt. Ich
habe dann für mich beschlossen, dass
ich nicht mehr Teil von so einem System
sein kann, und habe aufgehört, Fleisch
zu essen – zuerst wurde ich vegetarisch,
dann vegan.
Resonanz gestoßen: So viele Menschen
wollten die Rezepte für mein veganes
Börek oder die veganen Sarma. Dann
habe ich wegen dieser Nachfrage mit
meinem Blog begonnen, und – was soll
ich sagen - darauf bin ich dann hängengeblieben
und aus der Leidenschaft ist
dann mein Beruf geworden.
Wie hat deine türkische Familie in
Deutschland darauf reagiert, als du
vegan geworden bist?
Meine Mama hat früher jeden Tag Fleisch
gekocht. Ich bin mit diesem Mindset
aufgewachsen, dass eine Mahlzeit ohne
Fleisch kein richtiges Essen ist. (lacht)
Heute isst meine Mama einmal im Jahr,
zu Bayram, Fleisch. Meine Schwägerin
ist Vegetarierin geworden. Bei meinem
Bruder merke ich auch, dass er immer
mehr Mandelmilch und Tofu in seiner
Küche hat. Nicht, dass die jetzt alle
vegan geworden sind, aber ich sehe
schon einen enormen Umschwung und
ein Umdenken. Am Anfang habe ich aber
ständig dieses typische „Hä, was kannst
du dann noch essen?“ zu hören bekommen.
Aber als ich denen nach und nach
aufgezählt habe, wie viele Gerichte bei
uns sowieso schon vegan sind, wie zum
Beispiel Rote Linsensuppe, war das für
viele ein Aha-Erlebnis und bei einigen hat
ein Umdenkprozess begonnen.
Und was sagt deine Familie in der Türkei?
Sie sind sehr stolz, wenn sie hören, dass
ich mit meinen Rezepten so vielen Menschen
aus Deutschland ihre Heimatküche
nähergebracht habe.
Wo kaufst du deine Produkte ein?
Ich kaufe 90 Prozent meiner Zutaten im
orientalischen Supermarkt. Ich mag es
einfach, dass das dort, wenn ich Petersilie
kaufen will, nicht nur 10 Gramm sind,
sondern wirklich ganze Bündel. Es gibt
auch eine größere Auswahl an Hülsenfrüchten,
Bohnen und Gewürzen. Ich
koche sehr, sehr viel mit Petersilie, Minze
und anderen Kräutern, weil es auch
einfach schon in unserer Küche drin ist.
© Orient trifft Vegan
Orientalische Küche, die man eigentlich
als fleischlastig kennt, und Veganismus?
Wie passt das zusammen? Wie kamst
du auf die Idee, dein erstes Kochbuch zu
kreieren?
Als ich anfangs probiert habe, vegan zu
kochen, war ich sehr schnell enttäuscht.
Ich habe Tofu-Rezepte nachgekocht
und mir dann gedacht: „Mein Gott, das
schmeckt ja einfach nur nach Pappe!“
(lacht) Ich weiß noch, wie ich in der
Küche stand und verzweifelt festgestellt
habe, dass ich doch nicht mein ganzes
Leben Spargel mit Tofu auf Bambussprossen
essen kann.
Ich habe einfach die Küche meiner
Heimat vermisst. Das Essen, mit dem
ich aufgewachsen bin. Die Gerichte, die
ich als Kind geliebt habe. All das, was
mir immer so gut geschmeckt hat. Und
daraus ist die Leidenschaft geworden,
Speisen, die ich aus meinem Kulturkreis
kenne, zu veganisieren. Die Bilder habe
ich dann in veganen Facebook-Gruppen
geteilt und bin schnell auf eine riesige
Eines von Serayis Gerichten: Ghelgheli-Zauberbällchen aus
veganem Frischkäse und Kräutern
/ LIFESTYLE / 35
Aber natürlich gehe ich auch ab
und zu in normale Supermärkte.
Welche Basic-Zutat darf in keiner
Küche fehlen?
Salça. Das ist Tomaten- und
Paprikamark, das man verwendet,
bevor man Zwiebel und
Knoblauch anbrät zum Beispiel.
Aber das kann man nicht mit
normalem Tomatenmark aus
dem Supermarkt vergleichen. Die
Tomaten für die Salça werden
unter der Sonne getrocknet und
das schmeckt man richtig heraus.
Ansonsten schwöre ich auf meine
Gewürze: Sumak oder Kuzu Et
baharati, das ist ein Grillgewürz.
Ach ja, und Granatapfelkonzentrat
gebe ich auch in gefühlt jede
Speise rein!
Kann jeder deine Rezepte nachkochen,
oder braucht es dafür
mehr als Hobbykoch-Skills?
Es gibt verschiedene Schwierigkeitsstufen,
aber schwer ist
es nicht! Ich kann immer wieder
nur betonen, dass die Gewürze
vieles ausmachen, der Rest sind
eigentlich einfache Handgriffe.
Ich würde sagen, dass das zweite
Buch sogar noch einfacher ist,
weil es eben weniger traditionell
ist und ich eher darauf geachtet
habe, dass es auch mal schnell
gehen muss.
Was ist dein persönliches Lieblingsrezept?
Baklava-Cheesecake im Glas,
zuckerfrei. Ich habe auch schon
mal vier Gläser davon auf einmal
verdrückt, es ist einfach so so
lecker.
„Vegan trifft
Fit“ – Serayis
zweites Kochbuch
erscheint
Ende des
Jahres – ihr
könnt es unter
www.serayi.
com schon
vorbestellen
Serayis Rezept zum Nachkochen:
TEPSI KEBABI – SAFTIGE KÖFTE MIT GESCHMORTEM
GEMÜSE VOM BLECH – VEGAN
Zutaten für 2–3 Portionen
Zutaten Gemüse:
2 Melanzani, in Scheiben
geschnitten
2 grüne Pfefferoni, mild und
grün
3 Tomaten ( groß), in Scheiben
geschnitten
4 Kartoffeln, in Scheiben
geschnitten
Zutaten für Köfte:
275g Veganes Faschiertes
1 EL Tomatenmark
½ EL Paprikamark
2 Zwiebeln ( eine rote, eine
weiße), fein gerieben
Hand voll Petersilie, klein
gehackt
½ TL Kreuzkümmel
½ TL Chiliflocken
2 TL Kuzu Et baharti (
Lamm- Grill Gewürz)
Salz und Pfeffer
1 TL Stärke
2–3 EL Paniermehl
Für die Soße:
300 ml Wasser
1 EL Tomatenmark
½ EL Paprikamark
50 g geschmolzene Margarine
oder Olivenöl
Salz und Pfeffer
Deko:
Petersilie
Gesamtdauer
Vorbereitungszeit 15 Min.
Kochzeit 35–45 Min.
Mehr Rezepte findet ihr
unter: www.serayi.com
1. Alle Zutaten für die Köfte in einer Schüssel vermengen und zu
einer homogenen Masse verkneten. Ca. 10 Minuten abgedeckt
zur Seite stellen und ziehen lassen. Durch das kurze ruhen
verhindert man das auseinanderfallen der Köfte!
2. In der Zwischenzeit das Gemüse vorbereiten. Kartoffeln,
Melanzani und Tomaten in Scheiben schneiden.
Orient Tipp: Die Haut der Melanzani längs mit einem Sparschäler
im Zebramuster schälen. Das macht sie später butterweich
ohne daß sie zerfallen. Die in Scheiben geschnittenen Auberginen
in eine Schüssel mit kaltem Wasser und 1 TL Salz hinzufügen.
Das Salz entzieht die Bitterstoffe!
3. Die Auflaufform mit etwas Olivenöl einpinseln. Eine Köfte formen,
eine Kartoffel auf die eine Seite kleben, die Aubergine auf
die andere. Immer wieder eine Tomatenscheibe dazwischen.
Nebeneinander das Gemüse und die Köfte eng zu einem Kreis
schichten. Oben die Pfefferoni verteilen.
4. Für die Soße in einem kleinen Topf Wasser aufkochen. Tomaten
und Paprikamark, Öl oder Margarine und Gewürze hinzufügen
und alles miteinander verquirlen.
5. Ofen auf 180 Grad Ober-Unter Hitze vorheizen. Die mit Gemüse
und Köfte befüllte Auflaufform überall gleichmäßig mit der Soße
übergießen! So wird das Essen später besonders saftig!
6. 35–45 Minuten im Ofen schmoren lassen.
Die Auflaufform in der Mitte des Tisches servieren und mit fein
gehackter Petersilie dekorieren. Mit Reis oder Brot servieren.
Mahlzeit!
36 / LIFESTYLE /
Mit ohne
Fleisch!*
®
McPlant ab jetzt
fix am Start!
* Bitte sei ihm nicht böse:
Das pflanzliche Patty könnte am Grill
in Kontakt mit Fleisch gekommen sein.
Beyond Meat® and the Beyond Meat logo are registered trademarks of Beyond Meat, Inc.
In allen teilnehmenden Restaurants in Österreich. Solange der Vorrat reicht. Produkt mit Schmelzkäsezubereitung.
Der McPlant ist gekommen, um zu
bleiben. Gut für dich – denn das heißt,
du kannst unseren köstlichen Burger
mit pflanzlichem Patty von Beyond
Meat noch ganz oft genießen.
biber-Stipendiatin Maryam Al-Mufti wird durch einen
Kinofilm an ihre Flucht aus dem Irak vor 18 Jahren erinnert.
Sind Süßigkeiten als Geschenk von Soldaten eine menschliche
Geste oder bewusste Strategie?
DER SOLDAT, DER MIR
M&M’S SCHENKTE
Ich sitze am Beifahrersitz, meine Mutter
neben mir am Steuer. Die Straße ist
staubig, rund um uns nur Wüste. Wir
schreiben das Jahr 2003. Wir fahren gerade
aus Bagdad raus, als plötzlich ein USamerikanischer
Militärpanzer vor uns auffährt.
Ich bin vier Jahre alt, von Krieg verstehe ich
nichts und schon gar nicht weiß ich, was es bedeutet,
wenn ein Panzer auf einen zugerollt kommt. Aber
die Körpersprache meiner Mutter spricht Bände. Eben
war sie noch gelassen, jetzt hat sich ihr Blick komplett
verändert. Sie zittert am ganzen Leib und ihr Gesicht ist
kreidebleich. Meine anfängliche Verwirrung wächst zu
einer Mischung aus Angst und Stress. Schließlich muss
es ja einen Grund haben, weshalb meine Mutter plötzlich
so angespannt und ängstlich neben mir sitzt.
Auf dem Panzer stehen drei Soldaten. Mit ihren
Tarnuniformen, den grün-grauen Helmen und der kriegerischen
Gesichtsbemalung stellen sie sich auf, ihre
Blicke und die Panzerkanone streng auf uns gerichtet.
ANGST UND ANSPANNUNG
Einer der Soldaten bewegt sich. Er steigt von seinem
Panzer runter und kommt schwer bewaffnet auf unser
Auto zu. Je näher er kommt,
desto angespannter wird die
Stimmung.
Er steht vor der Autotür und
klopft mit seinen Knöcheln gegen
die Scheibe. Zitternd kurbelt meine
Mutter das Fenster herunter
und der fremde Mann sieht zu mir
hinein.
Er greift in seine Tasche, wühlt
herum, und nach einigen Sekunden
– für mich fühlt es sich an wie
eine halbe Ewigkeit – findet er,
wonach er gesucht hat. Mit seiner
Faust langt er in das Auto bis hin
zu mir auf den Beifahrersitz und
öffnet sie zu einer flachen Hand.
Die Autorin als Vierjährige im Irak
Endlich sehe ich, was er in seiner Hand hält
und atme auf. Er streckt mir eine kleine
gelbe Packung M&M’s entgegen.
Zögerlich nehme ich sie und bedanke
mich bei ihm. Er nickt nur, dreht sich weg
und steigt zurück zu seinen Kollegen in den
Panzer. Als sie weg sind, können auch wir endlich
wieder weiterfahren. Der Schock verfolgt uns noch den
ganzen Tag.
18 Jahre später sitze ich im Kino. Meinen Geburtsort
habe ich seitdem nicht mehr gesehen, und trotzdem
erinnere ich mich ständig an meine Kindheit in Bagdad.
Gerüche, Geschmäcker, Geräusche, bringen mich
zurück in die Zeit als der Irak noch mein zuhause war.
SÜSSIGKEITEN ALS STRATEGIE
Auf der Leinwand läuft der Film „Quo Vadis, Aida?“. Es
geht um den serbischen Genozid an Bosniak*innen in
Srebrenica. Eine bestimmte Szene lässt mich nicht los:
serbische Soldaten verteilen Toblerone an hungernde,
vertriebene Bosniak*innen. Kurz darauf werden sie von
denselben Soldaten ermordet, die sie vorher noch so
großzügig mit Schokolade beschenkt haben.
Die Szene ruft Erinnerungen in mir vor. Sie fühlt sich
komisch vertraut an. 18 Jahre
lang war ich von der Einzigartigkeit
meiner Geschichte überzeugt.
Jetzt sitze ich hier, im unbequemen
Kinosessel, und frage mich
zum ersten Mal: ist es gar kein
Einzelfall? Was, wenn das Verteilen
von Süßigkeiten eine bewusste
Strategie ist, die Soldaten in
ihrer Ausbildung eingetrichtert
bekommen?
Kinder sind beeinflussbar
und naiv. Jemand, der ihnen
Schokolade oder Gummibärchen
schenkt, kann doch unmöglich
Böses im Sinn haben, unmöglich
der „Feind“ sein, oder? Oder? ●
© privat
38 / MIT SCHARF /
Nachhaltig handeln bedeutet, mit Ressourcen so verantwortungsvoll umzugehen, dass wir auch morgen noch
gut leben können. Und das müssen wir heute anpacken. Die neue OMV forscht schon jetzt an mechanischen und
chemischen Recycling-Lösungen für morgen und investiert in innovative Projekte wie ReOil ® . Damit verwandeln
wir Plastikmüll zurück in einen hochwertigen Rohstoff und fördern eine ressourcenschonende Kreislaufwirtschaft.
Und das ist nur eines unserer Recycling-Projekte. Denn wir wollen dazu beitragen, den Großteil der Kunststoffabfälle
in Österreich zurück in wertvolle Rohstoffe zu verwandeln und so CO 2 einzusparen.
Mehr dazu: omv.com/neue-omv
Gewaltprävention an Wiener Mittelschulen
„Nur Opfer belä
40 / RAMBAZAMBA /
Nach einer coronabedingten Pause ist biber gemeinsam mit ausgebildeten Trainerinnen
wieder an Wiener Schulen unterwegs, um mit Jugendlichen über Gewalt,
Rollenbilder, Stereotype und Selbstbewusstsein zu reden. Es war ernst, es war
lustig, es war erfrischend ehrlich. Von Aleksandra Tulej Fotos: Soza Jann
stigen Frauen!“
/ RAMBAZAMBA / 41
Man kann keinen Jungs vertrauen,
glauben Sie mir,
Frau Renate!“, sagt die
12-Jährige Milica* ernst.
Ihre Mitschülerinnen stimmen ihr nickend
zu. Wir befinden uns im lichtdurchfluteten
Turnsaal einer Wiener NMS im zehnten
Bezirk. Nach einer coronabedingten
Pause ist die biber-Redaktion jetzt wieder
gemeinsam mit den Vereinen „Drehungen“
und „poika“ an Wiener Neuen
Mittelschulen sowie AHS unterwegs – im
Rahmen des Projekts „Ich bin kein Opfer
– und auch kein Täter.“ Gemeinsam
versuchen wir, Themen wie veraltete
Geschlechterrollen, Gewaltprävention,
Stereotype und Selbstbewusstsein an die
SchülerInnen zu bringen. Genau in ihrem
Alter sind diese Bereiche prägend und
enorm wichtig. Philipp Leeb vom Verein
„poika“ und Renate Wenda vom Verein
„Drehungen“ sprechen mit Jugendlichen
in dreistündigen Workshops über
Belästigung, Flirten, Rollenbilder, Genderkonstrukte,
Körpersprache, Grenzen, und
bringen auch einige Selbstverteidigungstechniken
bei. Die Klasse wird geteilt,
Mädchen und Buben sind getrennt.
So fällt es leichter, sich auszutauschen
und Probleme anzusprechen, die
in dem Alter vorherrschend sind.
FUSSBALL IST
MÄNNERSACHE.
„Schauen Sie. Wenn wir mit den Jungs
Fußball spielen, dann spielen sie nur
miteinander und passen uns den Ball
nicht zu, weil sie sagen, dass Fußball
eh nix für Mädchen ist“, erklärt Milicas
Klassenkameradin Hülya*. „Dabei sollten
Sie mal sehen, wie gut die Lena ist, die
spielt besser Fußball als alle anderen –
auch als die Jungs. Beste einfach!“, wirft
sie erbost ein. Kollektive Zustimmung.
„Wenn die uns provozieren, dann würden
„Schwaches Geschlecht? Wer sagt heute noch sowas?“
wir sie am liebsten schlagen“, dröhnt es
aus einer Ecke. Trainerin Renate diskutiert
mit den Mädchen darüber, wie sie
mit solchen Provokationen seitens der
Burschen umgehen können. „Was habt
ihr dann davon?“ „Naja, eine Anzeige
wegen Körperverletzung wahrscheinlich“,
überlegt eine andere Schülerin laut.
„Sich zu verteidigen ist wichtig – aber
nicht mit Wut, sondern mit Köpfchen!“,
erklärt Renate und gibt psychologischen
Rat. Jungs zu erklären, dass sie eine
Meinung von Vorgestern haben, und es
keinen Grund dafür gibt, heute noch so
zu denken, sitzt viel tiefer. „Wisst ihr, das
war ganz früher so, dass Fußballspielen
für Frauen sogar gesetzlich verboten
war – aber wie lange ist das schon her!“,
sagt sie. Und als rückschrittlich und
altmodisch will wohl niemand bezeichnet
werden – vor allem keine pubertierenden
Jungs.
KEINE PUSSY SEIN.
Die wollen vor allem eines sein: Stark,
tough und – männlich. Aber was bedeutet
das überhaupt? Genau dieser Frage
geht Trainer Philipp Leeb mit den Jungs
der Klasse nach. „Was bedeutet das,
ein Mann zu sein?“, schreibt Philipp an
die Tafel. „Yarak haben!“, „Geld nachhause
bringen!“, „Eine Frau haben!“,
„Keine Pussy sein!“, „Sich für die Familie
anstrengen!“, „Der Mann im Haus sein!“
wird wild durcheinandergerufen. Auf die
Frage, was denn „Der Mann im Haus“
bedeutet, haben auch wieder alle eine
Antwort. „Männer verdienen das Geld,
sind Polizisten, Handwerker, Architekten
und so. Frauen machen halt leichte
42 / RAMBAZAMBA /
„
Schauen Sie. Wenn wir
mit den Jungs Fußball
spielen, dann spielen sie
nur miteinander und passen
uns den Ball nicht zu,
weil sie sagen, dass Fußball
eh nix für Mädchen
ist.
“
Arbeit“, zuckt Ali * mit den Schultern.
Die Diskussion vertieft sich, und es
wird immer mehr klar, dass mit „leichter
Arbeit“ Hausarbeit gemeint ist. Die
Jungs sollen aufzählen, was alles dazu
gehört, und die Liste wird immer länger:
Kochen, Putzen, sich um die Kinder und
die Wohnung zu kümmern und und und.
„Okay, na gut, so leicht ist das dann auch
wieder nicht“, lautet die Conclusio. Die
Message kommt an. Als Trainer Phillip
erklärt, dass auch Männer in Karenz
gehen können und Kinderbetreuung
keinesfalls nur Frauensache ist, ist die
Verwunderung am Anfang groß – im Laufe
der Diskussion kristallisiert sich aber
heraus, dass „das eh irgendwie cool ist.“
Die Jungs stellen viele private Fragen an
uns und die Trainer, sie beginnen, sich
dafür zu interessieren, was wir ihnen
näherbringen möchten. „Aber schauen
Sie. Frauen haben es halt einfacher.
Eine Frau kann einen Mann ansprechen,
ohne dass man ihr gleich Belästigung
vorwirft!“, sagt Ömer * und die anderen
stimmen ihm zu. Wie er denn Mädchen
anspricht, wollen wir wissen. „Naja. Man
muss schon so zwei Minuten plaudern,
bevor man nach ihrem insta fragt. Aber
alle wollen mein insta, ich bin ja ein sexy
Typ“, sagt der neunmalkluge 12-Jährige.
ELEKTROSCHOCKER FÜR
DEN HEIMWEG
Trainer Philipp erklärt, in welchen
Settings es in Ordnung ist, Frauen
anzusprechen, und dass man auch mit
Ablehnungen umgehen lernen muss – es
ist ein Prozess, der zum Erwachsenwerden
dazugehört. Wir sprechen auch
darüber, was Flirten und was Belästigung
ist.
Die Mädchen lernten Selbstverteidigungstechniken, die sie im
Fall des Falles anwenden können
Trainerin
Renate Wenda
vom Verein
Drehungen
/ RAMBAZAMBA / 43
„
Wenn eine Frau
vor mir geht und
es Dunkel ist, dann
wechsel ich lieber
die Straßenseite,
damit sie sich nicht
erschreckt.
“
Angesichts der unglaublich hohen
Zahl an Femiziden in Österreich allein
dieses Jahr ist dieses Thema unumgänglich.
Wir erzählen den Jungs von
unseren eigenen, teils sehr persönlichen
Erfahrungen mit sexueller Belästigung,
Grapschern und Verfolgungen am
Heimweg. Wir sprechen darüber, dass
das so gut wie jeder Frau schon einmal
wiederfahren ist. Plötzlich wird es still.
„Oha, ich wusste nicht, dass das so
oft vorkommt. Welche Opfer machen
sowas?“, murmelt ein Schüler. „Aber
dann kaufen Sie sich am besten einen
Elektroschocker oder einen Taser, dann
sind Sie sicher!“, wirft ein anderer einen
gut gemeinten Ratschlag ein. Dass das
nicht so einfach ist und Gewalt an Frauen
ein strukturelles Problem ist, wird zu
unserem nächsten Thema an diesem
Vormittag. Wir sprechen darüber, dass
sexuelle Belästigung viel früher anfängt
als bei Vergewaltigungen. Mädchengruppen
nachzupfeifen, das finden sie
alle blöd. „Das machen nur Opfer“, wird
kollektiv abgewunken. „Wenn eine Frau
vor mir geht und es Dunkel ist, dann
wechsel ich lieber die Straßenseite,
damit sie sich nicht erschreckt“, gibt sich
Klassen-Babo Ömer* plötzlich verständnisvoll.
„Gute Idee, das werd ich auch so
machen ab jetzt“, stimmen die anderen
ein. Während die Mädchen-Gruppe von
Renate Selbstverteidigungstechniken
beigebracht bekommt, über Grenzen
und Zustimmung spricht, dringt bei den
Jungs die Message durch, warum das
alles kein Spaß ist.
„DU SCHAUST PORNOS?
GEH MAL BETEN, ALTER.“
Bei all den ernsten Gesprächen wird aber
auch viel gescherzt – natürlich ist das
„Was bedeutet es, der Mann im Haus zu sein?“
Diese Frage sorgte für angeregte Diskussionen
Trainer Philipp
von Poika
beantwortete
geduldig alle
Fragen
44 / RAMBAZAMBA /
Thema Sexualität eines, das in diesem
Alter omnipräsent ist und die Gemüter
erhitzt. „Wie? Pornos sind gespielt? Wie
jetzt?“, fragt ein Schüler mit ehrlicher
Unwissenheit. „Du schaust Pornos? Geh
mal beten, Alter!“, rügt ihn sein Klassenkamerad.
Wir sprechen darüber, dass
Pornographie nicht das echte Sexleben
abbildet, darüber, was Zustimmung ist,
über Anatomie und Gefühle. Sie alle
haben viel zu sagen, aber durch die Diskussionen
entstehen immer mehr Fragen
– Trainer Philipp beantwortet alles geduldig
und verständnisvoll. Und hinterlässt
somit einen bleibenden Eindruck.
„Schade, dass es schon vorbei ist
heute, war echt cool“, sagt Yasin* am
Ende des Workshops. Was ihm so gut
gefallen hat, wollen wir wissen.
„Man konnte endlich frei sprechen,
über alles, was wir wollten. Das war so
toll. Außerdem habe ich gelernt, dass
man Frauen respektieren muss. Aber sie
uns auch.“ resümiert er. ●
Es wurde viel gelacht und gescherzt – aber auch ganz ernst diskutiert.
* Die Namen der SchülerInnen wurden von der
Redaktion geändert
ÜBER DIE VEREINE:
VEREIN DREHUNGEN
Kurse für Mädchen und Frauen,
um Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen
und Selbstverteidigung zu
fördern. Prävention gegen verbale,
physische und psychische Gewalt
an Frauen und Mädchen.
www.verein-drehungen.at
POIKA
Verein für gendersensible Bubenarbeit
in Ergänzung und Zusammenarbeit
mit Mädchenarbeit.
Poika orientiert sich an emanzipatorischen
Modellen, die es
den Buben ermöglichen sollen, in
reflektierter Umgebung sich mit
diversen Themen wie Geschlechtskonstruktionen
von Weiblichkeit
und Männlichkeit, Berufsorientierung,
Gewalt, Sexualität, uvm.
auseinanderzusetzen
www.poika.at
ÜBER DAS PROJEKT
„Ich bin kein Opfer!“ und „Ich bin kein Täter!“ – dieses Gefühl und Selbstverständnis
stärkt biber gemeinsam mit dem Österreichischen Integrationsfonds
mit einem gezielten „Selbstverteidigungs- und Sensibilisierungs“- Projekt zur
Gewaltprävention schon bei Schülerinnen und Schülern. Unter der Leitung
von erfahrenen Trainern erlernen die jungen Mädchen neben körperlichen
Verteidigungstechniken auch psychologisch taktisches Vorgehen. Gleichzeitig
setzt das Projekt auf der Seite der Burschen an – ohne mit dem Finger
auf sie zu zeigen. Mit Rollenspielen zum Thema Mobbing, sexueller Orientierung
und sexuelle Belästigung soll auf Tabu-Themen eingegangen und das
Thema der „Prävention sexualisierter Gewalt“ erlebbar gemacht werden. So
wird sensibel ein Bewusstsein dafür geschaffen, was sexuelle Übergriffe und
Gewalt sind und wo Grenzen überschritten werden. Im Rahmen dieser Kurse
werden den Schülern Verhaltens- und Handlungsstrategien aufgezeigt und
Gespräche auf Augenhöhe über eigene Erfahrungen geführt. Biber schafft
mediale Aufmerksamkeit für dieses wichtige Thema, indem wir breitenwirksam
auf den biber-Kanälen darüber berichten: Ob in Videos, Insta-Stories auf
Social Media oder in den biber-Ausgaben.
DIESES PROJEKT WIRD DURCH DEN ÖSTERREICHISCHEN
INTEGRATIONSFONDS FINANZIERT
DIE REDAKTIONELLE VERANTWORTUNG LIEGT BEI BIBER.
/ RAMBAZAMBA / 45
KARRIERE & KOHLE
Para gut, alles gut
Von Anna Jandrisevits
FOMO („FEAR OF MISSING OUT“) WAR GESTERN!
Die Tage werden wieder kürzer, die Temperaturen sinken und die
Couch wirkt zu dieser Jahreszeit so viel gemütlicher als die Trainingsmatte.
Dabei tut Bewegung doch so gut! Durch Corona & Homeoffice
spüren viele von uns eine Belastung und diese schlägt nicht nur auf
unsere mentale, sondern auch auf unsere körperliche Gesundheit.
Dabei reichen pro Tag bereits 10 Min Bewegung, damit sich im Körper
zahlreiche positive Dinge abspielen. Die VHS bietet wohltuende Kurse
zur Entspannung & Körperwahrnehmung, wie zB: Atemtraining, Meditation
oder Yoga, die gut für Geist & Körper sind. Alle Infos gibt’s auf
www.vhs.at
MEINUNG
Alles ist normal
Fast zwei Jahre lang durfte ich diese Kolumne
schreiben und die „Karriere & Kohle“-Seite mit
Ratschlägen, Meinungen und vielen Worten
füllen. Das wird nun das letzte Mal sein. Als
neue Chefin vom Dienst bei „die_Chefredaktion“
werde ich zukünftig beruflich auf
Instagram unterwegs sein. Bevor ich endgültig
Abschied nehme, möchte ich die letzten
Zeilen noch sinnvoll nutzen und allen biber-
Leser*innen einige Ratschläge mit auf den
Weg geben, die ich in den letzten Jahren von
anderen bekommen habe und die mir im Studien-
und Berufsalltag sehr geholfen haben:
1. Wenn ihr das Imposter-Syndrom habt,
versetzt euch in schlechten Momenten in
eure Freund*innen. Sie würden euer Können
und Talent nie infrage stellen, weil sie an euch
glauben. Je öfter ihr aus ihrer Perspektive auf
euch schaut, desto seltener findet ihr hoffentlich
Gründe, an euch zu zweifeln. 2. Nehmt
ein Jobangebot nicht an, nur weil ihr glaubt,
ihr müsst. „Diese Chance kriegst du nie
wieder“ ist eine Behauptung, die einfach nicht
stimmt. Der Job kann noch so angesehen
sein – wenn er euch nicht zusagt, lehnt ab.
Diese Chance kriegt ihr wieder, meist sogar
eine bessere. 3. Hört auf zu glauben, dass
alle anderen ihr Leben im Griff haben - haben
sie nicht, zumindest nicht immer. Die meisten
haben sogar oft dieselben Probleme, Sorgen
und Zweifel wie ihr – unabhängig von ihrer
Position oder Leistung. Was hilft, ist offen
miteinander darüber zu reden. 4. Am Ende
ist alles halb so schlimm. Wirklich. In diesem
Sinne: vielen Dank und alles Liebe, Anna.
jandrisevits@dasbiber.at
DU WILLST EINE
GEHALTSERHÖHUNG?
DAS MUSST DU BEACHTEN
ARGUMENTE:
Zu sagen, dass du viel arbeitest, wird
deine Vorgesetzten nicht überzeugen,
weil sie sich darunter oft nichts vorstellen
können. Nenne spezifische Gründe,
zum Beispiel deine Erfolge für die Firma
oder welche Verantwortung du mit deiner
Tätigkeit trägst.
SELBSTVERTRAUEN:
Führe dir die Gründe aus dem ersten
Punkt auch selbst vor Augen und werde
dir deiner Kompetenzen bewusst. Wenn
du nicht selbst glaubst, dass du mehr
Geld verdienen solltest, glauben es
andere eher auch nicht.
ALTERNATIVEN:
Wenn deine Vorgesetzten eine Gehaltserhöhung
ablehnen, überlege dir, Alternativen
vorzuschlagen. Zum Beispiel
eine Anpassung deiner Aufgabenbereiche
an das Gehalt oder die Möglichkeit
auf eine finanzierte Fortbildung.
Podcast-Tipp:
WISSEN
WEEKLY
Es gibt Fragen, auf die
anscheinend niemand so
wirklich eindeutige Antworten
hat. Genau diese Antworten
will der Spotify-Podcast
„Wissen Weekly“ liefern, in
dem Lisa-Sophie Scheurell
über eine Bandbreite von
Themen aufklärt – auch im
Bereich Karriere und Kohle.
Von der Börse über Mietpreise
bis hin zur Chancengleichheit
werden Sachverhalte
anhand von Fakten, Studien
und Gesprächen mit
Expert*innen erklärt. Die
Folgen dauern nie länger als
35 Minuten und sind perfekt
für eine kleine Portion Allgemeinwissen
zwischendurch.
© Zoe Opratko, Spotify, pixabay.com/WikimediaImages
46 / KARRIERE /
ISST DU DAS NOCH?
Zu gut zum Wegwerfen: Wie gut schmecken
Lebensmittel, die man gerade noch vor der
Bio-Tonne gerettet hat? Ein Selbsttest.
Aleks Jobicić
BEZAHLTE ANZEIGE
Von Maryam Al-Mufti
Job?
Fix!
DIE BERUFSLEBENSKOLUMNE
DES AMS WIEN
© Maryam Al-Mufti
Redakteurin Maryam hat all das um 4,99 € ergattert.
Wir verschwenden zu viel
Essen: Österreichische
Haushalte werfen bis zu
157.000 Tonnen an noch genießbaren
Lebensmitteln weg. Das heißt:
Durchschnittlich werfen WienerInnen
jährlich rund 40 Kilogramm an
Lebensmitteln weg, die eigentlich
noch essbar waren.
Was können wir tun, um dem
entgegenzusteuern? Ich habe mich
auf die Suche gemacht und bin
fündig geworden: Bei der App „Too
Good To Go“. Über die App kann
man Lebensmittel und Mahlzeiten
aus Restaurants, Hotels, Bäckereien,
und Supermärkten „retten“, die sonst
weggeschmissen werden würden. Zu
einem billigeren Preis. Seit kurzem
nimmt Spar österreichweit bei Too
Good To Go teil. Das heißt: Kurz vor
Ladenschluss können ab nun auch
hier Lebensmittel für einen günstigen
Preis gekauft werden, die für
den gewöhnlichen Ladenpreis nicht
mehr verkauft werden können. Essen
retten und auch noch Geld sparen?
Geht das wirklich so easy?
Ich wollte es testen. Die App ist
übersichtlich und die Bedienung sehr
einfach. Was auch praktisch ist: Man
bezahlt direkt in der App, also muss
man nicht lange in der Schlange an
der Kassa stehen.
ÜBERRASCHUNGS-
SACKERL
Was den Inhalt des Sackerls angeht:
Spar bietet Überraschungssackerl an.
Das bedeutet, die Mitarbeiter*innen
der einzelnen Filialen stellen individuelle
Sackerl zusammen. Leider
hat man aber keinen Einfluss darauf,
welche Produkte hineinkommen.
Achtung: Es gibt jeden Tag nur ein
sehr begrenztes Angebot an Sackerln
- bei der Reservierung sollte man
also schnell sein, bevor sie ausverkauft
sind.
Ich habe 4,99 Euro bezahlt und
dafür eine Topfengolatsche, zwei
Donuts, vier Weckerl, einen Obstsalat,
zwei Äpfel, Besteck, und ein Müsli
bekommen. Alles war knusprig und
frisch – vor allem für den Preis. Mein
Fazit also: Wer der Umwelt und seiner
Geldbörse Gutes tun will, ist hier
richtig. Vorausgesetzt man ist schnell.
Und: Was man dann im Sackerl vorfindet,
ist eben Glückssache. Einen
Versuch ist es jedenfalls wert – Wegschmeißen
lohnt sich eben nicht. ●
„Aleks?“, höre ich neben mir schüchtern
fragen, als ich mir zwischen zwei Terminen
gerade im Supermarkt ein spätes Frühstück
aus dem Kühlregal nehme. Ich dreh mich
herum: eine Frau um die dreißig. Nie gesehen.
Wie ich das hasse.
„Yasmin“, sagt sie leise. „Volksschule.“ Flashback:
Mein dritter Schultag, große Pause, ich
stehe mit nassen Augen am Gang und fühle
mich verloren wie der letzte Mensch. Auf einmal
ist Yasmin da, vier Jahre älter und ziemlich
cool, und legt den Arm um mich. Sie hat auf
mich aufgepasst, ein Schuljahr lang. 20 Jahre
ist das her.
„Yasmin!“ Ich freue mich ehrlich und sprudle
los. „Wie geht’s dir? Arbeitest du in der Nähe?
Was machst du?“ Ich rufe im Büro an und
verschaffe mir Zeit für eine halbe Stunde mit
ihr, mir war das plötzlich wichtig.
Zwei Kaffee später ist mein Enthusiasmus weg.
Yasmin hatte rasch eine Familie gewollt. Mit 17
hat sie geheiratet. Heute hat sie drei Kinder,
nur die Pflichtschule und keinen Tag Berufserfahrung.
„Ich würde gern alles nachholen“,
sagt sie traurig. „Auf eigenen Beinen stehen,
mit eigenem Geld.“ Aber? „Aber ich bin 30
und muss bei Null anfangen.“
Yasmin wird das schaffen, das AMS hilft ihr
beim Lehrabschluss. „Trotzdem blöd!“, sagt
sie plötzlich verärgert und richtet sich auf. „Ich
hätt‘s mir echt leichter machen können.“
Tipp: Eine Familie zu gründen kann schön
sein. Von ihr abhängig zu sein, ist aber
nicht fein. Mach erst mal eine Ausbildung
und ein paar Schritte im Job – darauf
kannst du aufbauen, wenn deine Babypause
vorbei ist. ams.at/biz
TECHNIK & MOBIL
Alt+F4 und der Tag gehört dir.
Von Adam Bezeczky
MEINUNG
Nach der Krise ist
vor der Krise
Nach der Pandemie, die eigentlich noch
nicht wirklich vorbei ist, sprechen die
ExpertInnen von der nächsten Gefahr:
dem großen Stromausfall vulgo Blackout.
Dabei rechnet man mit einem mehrtägigen
Stromengpass für die Bevölkerung.
Wie sehr unser Alltag von der Stromversorgung
abhängt, weiss jeder selbst
- aber es bleibt genug Zeit, sich darauf
sinnvoll vorzubereiten. Einfach, solange
der Strom fließt, sich die Website des
Zivilschutzes anschauen, und sich ruhig
und besonnen vorbereiten. Wenn jeder
nur sich selbst versorgen kann, können
sich Einsatzkräfte im Fall der Fälle auf
ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren.
Lieber jetzt sinnvoll einkaufen, als sich
später um Klopapier prügeln.
bezeczky@dasbiber.at
Künstliche
Mangroven
liefern
Trinkwasser
Drei Studenten der technischen Uni in
Malaysia haben das “WaterPod” genannte
Gerät entwickelt, dass aus salzigem
Meerwasser Trinkwasser herstellt. Dazu
haben sie sich an der Mangrovenpflanze
orientiert: Meerwasser wird über künstliche
Wurzeln aufgesaugt, gesammelt,
durch Sonneneinstrahlung verdampft
und das kondensierte Süßwasser bleibt
übrig. So könnten Gemeinschaften,die
bisher keinen Zugang zu sauberem
Wasser hatten, ohne kostspielige Geräte
versorgt werden.
Reifen-Origami
Reifenhersteller Hankook
hat nicht die nächste Saison
der Sommerreifen im Blick,
sondern außerirdische Ziele.
Mit dem neu entwickelten
Origami-Reifen kann die Form
der Wälzer verändert werden,
je nach Untergrund. Frage ist,
wann die Alupatschen für den
Mondjeep kommen…
Musk’s Superfabrik ist fertig
Die europäische Giga-Factory von Tesla in der Nähe von Berlin ist
fertig. Bis Ende 2022 sollen wöchtenlich 5.000-10.000 Fahrzeuge
vom Band rollen - das ist zumindest der Plan. Noch steht die
Umweltprüfung aus, danach kann die Produktion von europäischen
Teslas losgehen.
© Marko Mestrovic, James Dyson Award, Tesla, Waterpod, © Hankook tire and technology co/Seoul National University/Harvard University
48 / TECHNIK /
Bezahlte Anzeige
Meine Idee für Wien?
Ein Dschungel in der Stadt!
Dein Wien for Future.
Wie soll die Zukunft unserer Stadt aussehen? Um das herauszufinden, sucht die
Stadt Wien bis 31. Oktober die besten Ideen für ein besseres Morgen. Mitmachen
können alle Wienerinnen und Wiener von 5 bis 20 Jahren. Die spannendsten
Vorschläge werden mit der Kinder- und Jugendmillion gefördert und umgesetzt.
Jetzt deine Idee einreichen unter junges.wien.gv.at/einreichung
junges.wien.gv.at/einreichung
BOSNIEN UND
HERZEGOWINA
Nationalismus, Korruption und fehlende
Jobperspektiven sind die Gründe für
den Massenexodus junger Menschen aus
Bosnien. Besserung ist keine in Sicht.
Von: Anja Ozorović, Mitarbeit: Amar Rajković und Florian Haderer, Fotos: Armin Graca
50 / MIT OUT SCHARF OF AUT /
EIN LAND
WANDERT
AUS —→
/ MIT OUT SCHARF OF AUT / 51
Unsere Autorin Anja Orozović , 29, arbeitet als
wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Philosophischen
Fakultät der Universität Sarajevo. Sie hegt
keine Pläne, aus ihrem Heimatland auszuwandern.
52 / OUT OF AUT /
Marija möchte bald ihrem Bruder nach Deutschland folgen.
Eine Stunde Fahrt von Sarajevo
entfernt liegt meine Heimatstadt
Vareš, eine Kleinstadt in Zentralbosnien.
An einem Nachmittag im
August warte ich an einer der Bushaltestellen
der Stadt auf den Bus nach
Sarajevo. Über den Straßen liegt Staub
und es ist sehr still, fast unheimlich. Eine
trübe und verschlafene Atmosphäre,
die in den meisten bosnisch-herzegowinischen
Kleinstädten herrscht, aus
denen in den letzten Jahren viele junge,
gebildete Menschen ausgewandert sind.
In den ersten Klassen der Grundschulen
sitzen jedes Jahr immer weniger Kinder,
weil sie von ihren Eltern nach Deutschland
oder Schweden mitgenommen
werden. Die Geschäfte schließen, Häuser
und Wohnungen werden ausgeräumt
und bleiben leer. Die zurückgebliebenen
Großeltern, Tanten und Onkeln warten
das ganze Jahr sehnsüchtig auf die Sommermonate
und die kurze Rückkehr der
Diaspora aus Stuttgart, Frankfurt, Wien,
München, Oslo.
ONE-WAY-TICKET
NACH EUROPA
Der Exodus der jungen, oft gut gebildeten
Schicht ist dabei in allen Teilen
Bosnien und Herzegowinas spürbar,
wobei die kleineren Städte am stärksten
darunter leiden. So wie Vareš, meine
Heimatstadt. Arbeitslosigkeit, Parteiproporz
und fehlende Perspektiven haben
schon viele meiner Nachbarn, ehemaligen
Schulkameraden oder Bekannten
vertrieben: „Ja, ich liebe meine Stadt,
aber ich kann es mir nicht vorstellen,
hier zu leben“, ist eine der häufigsten
Aussagen, die ich beim Klassentreffen
jedes Jahr höre, bevor ich wieder nach
Sarajevo zurückkehre.
Die Ergebnisse einer Untersuchung,
die das „Institut za razvoj mladih KULT“
(Institut für Jugendentwicklung KULT) in
diesem Jahr durchgeführt hat, sprechen
eine klare Sprache: Mehr als 50 %
der 3132 Befragten aus ganz Bosnien
und Herzegowina (im Alter zwischen
15 und 30 Jahren) möchten die Heimat
verlassen, 12,1 % haben sogar schon
mit den Vorbereitungen dafür begonnen.
Auch die Angaben der „Unije za
održivi povratak i integracije“ (Union für
nachhaltige Rückkehr und Reintegration)
sind alarmierend: Seit 2014 sind 370.000
Menschen ausgewandert. Das ist mehr
als ein Zehntel der derzeitigen Bevölkerung
von 3,28 Millionen (Stand 2020).
FLEISS STATT
PARTEIBUCH
„Unsere Kinder sollen in einer Gesellschaft
aufwachsen, in der Fleiß und
Leistung geschätzt werden und nicht
die Mitgliedschaft in einer politischen
Partei“, erzählen mir Haris (37) und
Vedrana (37) Kurspahić in ihrer leergeräumten
Wohnung. Ich habe Glück, dass
ich das junge Ehepaar noch antreffe,
in wenigen Wochen geht es für sie mit
ihren zwei Kindern nach Deutschland.
Haris wischt sich den Schweiß von der
Stirn, sein Hemd ist zerknittert und sein
Haar staubig. Schon seit zwei Wochen
räumt er mit Vedrana die alte Wohnung
aus. Dem Juristen ist die Anspannung
über den bevorstehenden Neustart
anzumerken. Seine Frau und er haben
alles selbst in die Wege geleitet: Arbeit
und Wohnung gefunden, sich um das
Arbeitsvisum gekümmert, Schulen für die
Kinder ausgesucht. Haris erzählt mir all
das mit einer gewissen Genugtuung. Die
Vorbereitungen für den Umzug hätten
über zwei Jahre gedauert. Ihr Heimatland,
in dem sie aufgewachsen sind und
ihre Kindheitserinnerungen zurücklassen,
werden sie nur mehr als Gäste im Sommer
besuchen.
„Das Lebensklima in Bosnien ist
schlecht. Die meisten Menschen haben
die nationalistische Rhetorik und Aufteilung
satt“, so lautet Marija Tadićs
vernichtende Kritik am politischen Establishment
in Bosnien und Herzegowina.
Die 23-jährige angehende Germanistin
kommt aus Žepče, einer mehrheitlich von
bosnischen Kroaten bewohnten Stadt. Da
fast alle Kroaten einen entsprechenden
Pass besitzen, braucht sie kein Arbeitsvisum
für einen längeren Aufenthalt in der
EU. Eine privilegierte Ausgangslage für
Marija und viele ihrer Freunde, die in den
/ OUT OF AUT / 53
Die Arbeitslosenquote
in Bosnien
und Herzegowina
beträgt 32,7 % .
„Die Umgebung gibt dir deutliche Signale, dass du nicht hierher gehörst.“
Marija Tadić, 23, aus Žepče
letzten Jahren massenhaft nach Irland
oder Deutschland weggezogen sind.
Marija plant, bald ihrem Bruder zu folgen,
der schon vier Jahre in Hamburg lebt
und als Kontrolleur am Hamburger Flughafen
arbeitet. Der Bruder ist zufrieden
und kann endlich sein Leben planen.
Marija will das auch.
Beim Blick auf die Arbeitslosenzahlen
versteht man die Genügsamkeit der
auswandernden Menschen. Der Hauptgrund
liegt dabei in der hohen Arbeitslosenquote
(32,7 % im Mai 2020 nach
der Statistik der Arbeitsagentur BiH).
Laut den Angaben des Ministeriums
für Zivile Angelegenheiten lebten 2020
in Bosnien und Herzegowina 777.000
Jugendliche im Alter zwischen 15 und
30 Jahren, von denen 60 % arbeitslos
waren. Da verwundert es nicht, dass die
jungen Menschen des Vielvölkerstaates
ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen.
Auf die korrupte Politik ist nicht Verlass.
Die Warteschlangen vor den Botschaften
werden immer länger, die Sprachkurse
sind bis zum letzten Platz gefüllt.
Passend dazu werden die One-Way-
Tickets nach Slowenien, Österreich oder
Deutschland jedes Jahr billiger.
Durch ihren alternativen Stil fühlte
sich Marija schon immer als Ausnahme
in ihrer Heimatstadt. Rote Haare, Iron
Maiden-T-Shirt und Piercing ziehen hier
immer noch schiefe Blicke auf sich. „Die
Umgebung gibt dir deutliche Signale,
dass du nicht dazugehörst. Viele meiner
Freunde und Freundinnen haben auch
ähnliche Probleme.“ Die schlechte ökonomische
Situation sieht sie daher nicht
als einzigen Grund für den „Brain Drain“
der jungen bosnischen Bevölkerung.
Der dreigeteilte Staat mit seinem
trägen Verwaltungsapparat, der grassierenden
Korruption und politischer
Uneinigkeit liefert verlässlich Schlagzeilen,
die sich irgendwo zwischen Chronik,
© ELVIS BARUKCIC / AFP / picturedesk.com
Politik und Groteske ansiedeln. Beispiele
gefällig? Die Regierungsspitze steht
zusammen mit der Familie Izetbegović
im Fokus der sogenannten „Respirator-Affäre“,
die während der zweiten
Corona-Welle im Mai 2021 zahlreichen
Menschen das Leben gekostet hat. Die
Wirtschaft ist auf ständiger Talfahrt, das
Gesundheitswesen droht zu kollabieren.
Der kroatische Präsident Zoran Milanović
wandelt unterdessen auf Tudjmans
Spuren und tingelt im Sommer durch die
US-Sonderbeauftragte für den Balkan Matthew Palmer mit den Mitgliedern
des dreiköpfigen Bosnischen Präsidiums, Milorad Dodik, Zeljko Komšić und
Šefik Dzaferović. (v. l. n. r)
54 / OUT OF AUT /
Ein Scherbenhaufen
aus Korruption,
Vetternwirtschaft
und primitivem
Nationalismus.
Sonja möchte ihrer Heimat die Treue halten –
trotz der ungünstigen Vorzeichen.
vorwiegend kroatisch-dominierten Orte
des Landes und verbreitet nationalistisch
separatistische Parolen. Und als wäre
das alles nicht genug, gibt es da noch
einen gewissen Milorad Dodik, Srebrenica-Leugner
und Gudenus-Freund, der als
Präsident der „Republika Srpska“ deren
Unabhängigkeit von Bosnien und Herzegowina
forciert.
FLUCHT VOR DER PRÜDEN
GESELLSCHAFT
In der Hauptstadt der Republika Srpska,
Banja Luka, erreiche ich telefonisch Ivana
Četić. „Es ist Ende August und die Straßen
in Prijedor sind menschenleer. Selbst
die für gewöhnlich gut gefüllten Kaffees
zählen kaum Gäste“, so Ivana, die gebürtig
aus Prijedor stammt und gerade von
einem Besuch zurückkommt. Sie arbeitet
als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der
Philologischen Fakultät in Banja Luka und
erzählt mir über Erfahrungen, die sie bei
der Arbeit mit Jugendlichen gesammelt
hat. „Viele, die gehen wollen, sind sich
dessen bewusst, dass sie auch anderswo
vielleicht nicht reich werden. Dafür
werden sie in einer Gesellschaft mit
weniger Vorurteilen und mehr Toleranz
leben“, erklärt sie mir. Den Abwanderungswilligen
ist ziemlich klar, was ihnen
in Deutschland oder Schweden „blüht“.
Neue Sprache, andere Mentalität, Fernweh
nach Hause und sozialer Abstieg.
Sie gehen trotzdem. Die Hoffnung auf
Besserung im eigenen Land ist fast 30
Jahre nach dem Kriegsende für viele
endgültig gestorben.
Es gibt aber auch Ausnahmen.
Die 29jährige Sonja Brković hat ihren
Masterabschluss in Architektur an der
Universität Sarajevo in Mindeststudienzeit
abgeschlossen. Seit 2017 lebt
sie in Mostar. Ich treffe sie in einem der
zahlreichen Cafés der herzegowinischen
Hauptstadt, die für ihre Alte Brücke und
sommers für die unausstehliche Hitze
bekannt ist. Es weht kaum ein Lüftchen,
Sonja greift durstig nach einem
kalten Glas Wasser. Während unseres
Gesprächs wird Sonja schwermütig.
Sie erzählt mir, dass sie während des
Studiums motiviert war und Hoffnungen
hatte, nach dem Abschluss einen Job
zu finden, der auch etwas mit ihrem
Architekturstudium zu tun hätte. Es
kam jedoch ganz anders. So arbeitet
sie derzeit für eine englische Firma, die
sich mit digitalen Tracking- Systemen
beschäftigt. Die Hoffnung, in Zukunft
ihren gelernten Beruf als Architektin
auszuüben, schwindet von Tag zu Tag.
Sie möchte aber nicht aufgeben und
will – im Gegensatz zu meinen anderen
Gesprächspartner*innen – ihrer Heimat
die Treue halten: „Die Situation ist zwar
nicht erfreulich, aber meine Familie und
Freunde sind hier. Momentan bin ich mit
meinem Job zufrieden, aber man weiß
auch nicht, was die Zukunft bringen
kann.“
KANN ES DER
GROSSWESIR AUS
BAYERN RICHTEN?
Das klingt nach viel Arbeit für den
neuen Hohen Repräsentanten Christian
Schmidt. Dieser soll den zivilen und
politischen Aufbau des Landes leiten. Er
folgte Anfang August dem zwölf Jahre
dienenden österreichischen Diplomaten
Valentin Inzko. Schmidt behauptet zwar
bei BR24, nicht der „Großwesir Bosniens“
zu sein, doch die Bevölkerung des
gebeutelten Vielvölkerstaates hat hohe
Erwartungen an den Bayer. Schmidt
findet einen Scherbenhaufen aus Korruption,
Vetternwirtschaft und primitiven
Nationalismus im Balkanstaat vor. Ein
Mix, der den Bosniern und Bosnierinnen
ihr Heimatland vergiftet.
Bei meiner Ankunft am Busbahnhof
in Sarajevo sehe ich, dass der Abendbus
nach Dortmund heute voll ist. Freunde
und Familie liegen sich in den Armen,
verdrücken noch eine letzte Träne. Nach
der Abfahrt wird auch hier, am Peron
13 in der Hauptstadt, die gleiche Stille
herrschen, die über den Straßen meiner
Heimatstadt Vareš liegt. Die Reisenden
kommen zwar wieder, aber nur für kurze
Zeit. Als Gäste im Heimatland. ●
/ OUT OF AUT / 55
KULTURA NEWS
Klappe zu und Vorhang auf!
Von Nada El-Azar
Ausstellungstipps
SUSAN
MEISELAS:
MEDIATIONS
MEINUNG
Eine für alle,
alles in eine.
Wenn man in Österreich oder Tschechien
unterwegs ist, ist der Anblick einer
biertrinkenden Frau nun wirklich nichts
Besonderes. Klar, irgendwo hält sich das
Klischee vom Bier als „Männergetränk“
(und dem Wein als Pendant für Frauen),
aber schiefe Blicke erntet man hierzulande
nicht, wenn man sich im Lokal als Frau
ein Krügerl des prickelnden Hopfentrunks
gönnt. Dass das nicht überall so ist, fiel
mir erst bei meinem „Sommerurlaub“ in
Sankt Petersburg auf. Irgendwann rechnete
ich damit, mir bei jedem Restaurantbesuch
mindestens zwei Mal ein Bier
zu bestellen, bevor es nicht nur meinem
Begleiter, sondern auch mir serviert
wurde. Vielleicht lag es ja daran, dass ich
mich auf Russisch nicht klar ausgedrückt
hatte – dachte ich jedenfalls. In Wirklichkeit
entzog es sich der Vorstellung der
Kellner, dass ich tatsächlich ein Bier für
mich bestellen könnte. Ein Blick auf die
Tische der anderen genügte – ich war
immer die einzige Frau weit und breit, die
Bier trank. Stereotype halten sich eben
unterschiedlich. Doch was auch immer
die Kehle hinunterfließt, alles landet am
selben Ort: der in Russland stinknormalen
Unisex-Toilette.
el-azar@dasbiber.at
Erstmals werden in Österreich
Arbeiten der US-amerikanischen
Fotografin Susan Meiselas gezeigt.
Seit über 40 Jahren begleitet die
Künstlerin in ihren Reportagen
Menschen in verschiedenen Situationen
sozialer und politischer Umbrüche, wie etwa der Revolution in Nicaragua in
den 70er Jahren, Kurdistan Anfang der 90er, Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt
wurden, wie auch Sexarbeiterinnen und Mädchen aus der Nachbarschaft in „Little
Italy“ in New York. Die Schau zeigt ältere Arbeiten und neue Serien.
Bis 13. Februar im Kunst Haus Wien zu sehen!
INES DOUJAK:
GEISTER
VÖLKER
Welche Rolle spielen Kolonialismus,
globaler Handel und ökonomische
Krisen für das Entstehen von Pandemien?
Dieser Frage widmet sich die
Einzelausstellung von Ines Doujak in
der Kunsthalle Wien. Collagen aus
mittelalterlichen Darstellungen von
Wucherungen und Krankheiten treffen hier auf Fast Fashion und andere spätkapitalistische
Auswüchse. Begleitet wird die Ausstellung von einer Podcastserie mit
John Barker.
Bis 16. Jänner in der Kunsthalle Wien Museumsquartier zu sehen!
Messe-Tipp:
Nach einer Corona-Pause im vergangenen Jahr
geht es wieder los mit der viertägigen internationalen
Buchmesse „Buch Wien“. Von 10. – 14.
November lockt ein reiches Veranstaltungsprogramm
für alle Bücherwürmer - auch für die ganz
kleinen unter ihnen. Erstmals in der Geschichte
des Festivals ist Russland Gastland bei der Messe.
Lesungen, Diskussionen und Vorträge stehen auf
dem Programm. Mehr Informationen unter:
www.buchwien.at
© Christoph Liebentritt, Susan Meiselas / Magnum Photos, Ines Doujak, takotoka.com/Tomsich
56 / KULTURA /
3 FRAGEN AN…
IVAN PETROVIĆ
Ivan Petrović stammt
ursprünglich aus Bosnien
und Herzegowina und hat
sich als Übersetzer auf
Comics und Graphic Novels
aus Ex-Jugoslawien
spezialisiert. Er ist Mitgründer
der Plattform Takotoka
Comics bzw. Graphic Novels werden zumeist mit dem US-amerikanischen
Raum assoziiert. Welche Bedeutung hatten sie für
Jugoslawien?
Jugoslawien war bis in die 1990er ein blockfreier Staat. Die
Fenster Jugoslawiens reichten nicht für die Welt, aber die
Tür war für Europa offen. US-Comics gab es deshalb kaum
und auch aus dem Osten gab es nichts. Dafür gab es sehr
viele aus Italien, Frankreich, Spanien und England. Im Chaos
der 1990er lebte der jugoslawische Underground richtig
auf. Es gibt seit ein paar Jahren sogar Superheldencomics
am Balkan und ein großes Angebot an Comicfestivals und
Workshops. Galerien und Museen stellen mittlerweile Originalzeichnungen
aus. In Zagreb soll es bald ein Haus der
Comics geben - so wie jenes in Brüssel. Und in Belgrad ist
die heißeste Party des Monats das Fijuk – ein Event, wo es
ein Amalgam aus Underground-Comics, Siebdruckwahnsinn,
Skateboarding, Punk, Techno und Sljivovica gibt. Die Comic-
Schickeria am Balkan ist ein flotter Haufen, heißer als jede/r
Beatnik jemals.
Wie ist Ihr Interesse an Comics entstanden und wie viele
Ausgaben befinden sich in Ihrem Bücherregal zu Hause?
Ich habe zu Hause nicht nur ein Regal, sondern ein ganzes
Zimmer voll mit Comics. (lacht) Als ich in Jugoslawien aufgewachsen
bin, waren die irgendwie überall. Ich bin mir nicht
mehr sicher, wer mir das Lesen beigebracht hat - mein Onkel
oder Alan Ford, ein Kultcomic, das dir die Welt erklärt – aber
nur, wenn man am Balkan oder in Italien leben lernt. In Wien
gab‘s nicht so viel Auswahl, aber Donald Duck und Asterix
haben mir sehr schnell Deutsch beigebracht.
Wie entstand das Projekt Takotoka und was bietet der Webshop
an?
Uns hat eine Plattform gefehlt, welche Comics, Zines, Zeitschriften,
Prints, etc. aus allen südosteuropäischen Ländern,
Österreich, Deutschland und Europa anbietet und vertreibt.
So kamen wir auf die Idee, das selbst zu machen. Ich habe
einige Jahre zwischen Wien und Berlin verbracht, und war
dazwischen immer wieder in Zagreb, Belgrad und Sarajevo.
Dann kamen die Pandemie und der Lockdown, zum ersten
Mal konnte ich nicht am Balkan herumdüsen und schauen,
was es Neues gab. Und das Projekt Takotoka nahm Form an.
Tako bedeutet übrigens auf Japanisch Krake, und Tako To
bedeutet auf B/K/S: „So wird’s gemacht“. Neben unserem
Sortiment bieten wir mittlerweile auch Figuren an, die uns
gefallen. Langsam soll auch Musik hinzukommen.
WIR SCHAUEN
AUF DIE, AUF DIE
NIEMAND SCHAUT.
Gerade Frauen und Kinder leben häufig in versteckter Wohnungslosigkeit.
Und das mitten in einer der lebenswertesten Städte der Welt! neunerhaus
gibt ein Zuhause und eine Perspektive. Ihre Spende verändert Leben.
Bitte helfen Sie jetzt. SPENDENKONTO IBAN: AT25 3200 0000 0592 9922
Wir danken für die gratis Inseratschaltung.
„Pornos in der Gruppe zu
schauen ist ein Genuss.“
Vom Versicherungskaufmann zum
Festivalleiter. Yavuz Kurtulmus weiß, dass
das österreichische Publikum anders tickt.
Unterschätzt darf es jedoch nicht werden.
58 / KULTURA /
Yavuz Kurtulmus hat vor elf Jahren
seinen Job als Versicherungskaufmann
hingeschmissen und leitet
heute unter anderem Österreichs
erstes Pornofilmfestival in vierter
Auflage. Wieso Migrant und schwul
zu sein nicht immer „Katastrophe“
bedeutet und wie viele Stunden er mit
dem Pornoschauen verbringt, erzählt
er in einem Porträt.
Von Nada El-Azar, Fotos: Zoe Opratko
Die Festivalzentrale beim 4. Porn Film
Festival Vienna war das Schikaneder.
Mir kamen die besten Ideen
eigentlich immer im Erotikkino.
Manchmal verbrachte ich
einen ganzen Tag dort. Ich nahm mir
immer etwas zu schreiben mit, beobachtete
die Menschen um mich herum
und schaute eben Pornos“, so Yavuz
Kurtulmus. Der 41-Jährige ist Kurator,
Leiter des Porn Film Festival Vienna und
Festivaldirektor des Transition Queer
Minorities Film Festival. Er empfängt
uns in der Auslage des Schikaneder, es
laufen gerade die letzten Vorbereitungen
für die Eröffnung der dritten Auflage
dieses einzigen Pornofilmfestivals
in Österreich. Vor ihm auf dem Tisch
verteilen sich Laptop, Handy Notizbuch,
ein voller Aschenbecher und ein Glas
weißen Spritzers. „Pornos lösten immer
etwas in meinem Kopf aus, sie öffneten
meinen Geist.“ Eines seiner liebsten
Kinos ist das Love Kino in Wien-Meidling.
„Es ist ein superaltes, superkitschiges
Kino. Der Saal ist winzig klein und nur
für etwa 20 bis 30 Leute gedacht und an
der Bar kann man nette Gespräche mit
verschiedenen Menschen führen.“ Wann
immer Yavuz Kurtulmus eine Auszeit
brauchte, zog es ihn in die Anonymität
eines Platzes im abgedunkelten Kinosaal.
„Ich bin eben ein Kind der 80er und 90er,
ich liebe meine DVDs. Ich habe Hunderte
davon zu Hause.“
POSITIVE NARRATIVE
VON MIGRANTEN
HERVORHEBEN
Trifft man ihn persönlich, erkennt man
schnell, dass er einen rastlosen Geist
hat. Stillsitzen war niemals sein Ding, das
gibt er auch offen zu. Nur im Kino scheint
er Ruhe zu finden. Viel Grund zum
Stillsitzen hat der gebürtige Türke mit
mazedonischen Wurzeln momentan aber
ohnehin kaum. Da das Porn Film Festival
durch den Lockdown von April auf Oktober
verschoben wurde, kommt es seinem
anderen Projekt, dem Transitions Queer
Minorities Filmfestival, das im November
stattfinden wird, zeitlich sehr nahe. Die
Idee für das Transitions Queer Minorities
Filmfestival, bei dem sich das Programm
um Geflüchtete, Religion, Transpersonen
und Migration dreht, kam Yavuz vor fast
zehn Jahren. „Ich war bei einem queeren
Filmfestival und habe mich in den Filmen
nicht wiedererkannt. Wann immer es
um Minderheiten und Migranten ging,
lief alles sehr schnell in Richtung Mord,
Zwangsehe, Gewalt, Krisen… die Welt
ist aber nicht schwarz und weiß.“ Noch
in derselben Nacht fertigte er zu Hause
gemeinsam mit seinem Partner das Konzept
für das Transition-Festival. „Ich wollte
Geschichten hervorheben, in denen
auch positive Narrative im Vordergrund
stehen und realitätsgetreu das Leben
von Migranten dargestellt wird, abseits
von diesen ewigen Abgründen.“ Das
war die Geburtsstunde des Transitions
Queer Minorities Filmfestival, das seit
2012 stattfindet und das einzige queere
Filmfestival in Europa mit dem Fokus auf
Minderheiten ist. „Wenn ich als österreichischer
Transmann in einem Tiroler
Kaff aufwachse, wird es auch nicht leicht
sein. Das Problem der Diskriminierung
liegt in der gesamten Gesellschaft.“
Jährlich werden Tausende Filme beim
Transitions Festival eingereicht, was
selbst mit einem großen Team kaum zu
bewältigen ist. „Mittlerweile wird sehr
viel queerer Film produziert.“ Bei der
Zusammenstellung des Programms achten
Yavuz Kurtulmus und sein Team aber
darauf, gezielt kleinere Produktionsfirmen
und weniger bekannte Künstler*innen zu
unterstützen.
Migrant und schwul sein – das ist
in den Ohren vieler eine schwierige
Mischung, die nur in einer Katastrophe
enden kann. „Ich habe schon immer
gewusst, dass ich auf Männer stehe,
/ KULTURA / 59
aber ich habe nie ein großes Tamtam
darum gemacht“, erinnert sich der
Festivalleiter. Geboren wurde er als eines
von insgesamt fünf Kindern 1980 in
Sakarya, in der Nähe von Istanbul. Seine
Urgroßeltern waren aus Mazedonien in
die Türkei emigriert. Sein Vater ging zum
Arbeiten nach Österreich, und Yavuz‘
Mutter pendelte mal nach Österreich,
und, wenn sie schwanger war, zurück
in die Türkei. Im Oktober 1987 kam der
damals 7-jährige Yavuz nachhause, seine
Mutter hatte bereits alle Koffer gepackt.
„Sie sagte mir: Komm, steig in den Bus,
wir fahren jetzt zu Baba.“ Zwei Tage
später kam die Familie am Wiener Südbahnhof
an. Der turbulente Umzug und
die erste Zeit in Wien hat er noch gut in
Erinnerung. „Ich wurde komplett ins kalte
Wasser geworfen. Meine Mutter hat mich
und meine Geschwister nicht wirklich
informiert, dass wir nach Österreich zu
meinem Vater kommen würden. Es ist
eine klassische Gastarbeitergeschichte“,
so der Kurator. Schon am Folgetag nach
seiner Ankunft kam er in seine Schule
Migrant + schwul
= Katastrophe?
Yavuz räumt
mit solchen
Vorurteilen auf.
in Wien-Meidling. „Plötzlich saß ich in
einer Klasse mit 30 blonden Kindern und
verstand kein Wort Deutsch. Aber ich
lernte die Sprache schnell, denn damals
gab es noch wenige Migranten an der
Schule.“ Diese Erfahrung des Fremdseins
hält Yavuz heute sehr hoch.
DER YAVUZ IST IMMER
NOCH DERSELBE
Mit 21 Jahren hatte Yavuz sein „Zwangs-
Coming-Out“, wie er es nennt. Sein Vater
kam überraschend früher nachhause,
während er mit einem Mann zusammen
war. „Er hat mich aber weder geschlagen,
noch zwangsverheiratet oder
ausgestoßen“, erinnert sich Yavuz. Kurz
nach diesem Zwischenfall versammelte
er seine ganze Familie und verkündete,
dass er schwul sei und ausziehen
würde, um niemanden damit zu belästigen
oder zu kränken. „Meine Mutter
wehrte sich aber dagegen und meinte,
dass der Auszug gar nicht nötig sei. Ich
sei immer noch ihr Sohn und sie würde
mich lieben. Aber sie fragte mich auch,
ob ich nun Aids hätte oder in Frauenkleidung
herumlaufen würde“, lacht er und
zündet sich eine Zigarette an. „Etwa ein
Jahr lang dauerte es, bis alle merkten:
Der Yavuz ist noch derselbe.“ Yavuz
Geschwister waren ebenfalls sehr offen.
„Nur mein ältester Bruder brauchte ein
wenig länger, aber heute stehen wirklich
alle hinter mir und unterstützen alles,
was ich mache. Meine Mutter weint mit
mir, wenn ich Liebeskummer habe, und
sie sah sich sogar in der Vergangenheit
immer wieder einmal nach netten Jungs
für mich um“, grinst er.
Als wir das Gespräch mit Yavuz für
die Fotos in den Kinosaal des Schikaneder
verlagern, zeigt sich schnell seine
Begeisterung für Filme und Kino. „Ich
habe wirklich schöne Erinnerungen an
diesen Saal“, sagt er, sieht sich um, er
scheint die Energie des Raumes in sich
aufzunehmen. Die erste Auflage des
Porn Film Festivals stieß noch auf großen
Widerstand, die FPÖ wollte sogar eine
parlamentarische Anfrage stellen, ob das
Festival Gelder von der Stadt bekommen
würde. Auch von Publikumsseite gab es
Gegenstimmen. Wegen einer geplanten
Demo gegen das Festival gab es im ersten
Jahr Polizeipräsenz um das Kino. „Es
ist aber nichts passiert. Viele dachten
sich wohl, hier kämen die Leute zusammen,
um die ganze Nacht eine Orgie zu
feiern“, so Yavuz. Berlin ist der Vorreiter
in Sachen Pornofilmfestivals, bereits
seit 2006 finden Festivalreihen samt
Preisverleihungen jährlich statt. „Wien ist
natürlich anders, viel prüder und konservativer.“
Das prägt vor allem die Arbeit
mit Sponsoren. „Viele Kinos in Wien
dürfen auch gar keine Pornos zeigen,
weil das in den Mietverträgen so verankert
ist. Es gibt also eine kleine Auswahl
an Orten, die für so ein Festival in Frage
kommen.“ Das erste Porn Film Festival
wurde durch Ersparnisse aus eigenen
Taschen und ein Crowdfunding möglich.
„Dass die Stadt solche Veranstaltungen
fördert, ist nicht selbstverständlich, aber
natürlich gern gesehen.
PORNOS – VIEL MEHR
ALS EINE MASTURBATI-
ONSVORLAGE
Wer Leiter eines Filmfestivals ist, muss
auch viele Filme sehen. „Ich verbringe
natürlich wahnsinnig viel Zeit damit, mir
60 / KULTURA /
Pornos anzuschauen“, lacht Yavuz. In der
Zeit zur Festivalvorbereitung veranstaltet
er deshalb gerne im Team Porno-
Schauabende. „Wir bekamen dieses Jahr
etwa 300 Einreichungen und wir suchen
uns zusätzlich noch selber Filme für das
Programm aus. Insgesamt kommen wir
also auf etwa 450 Filme auf unserer Liste.
40 Langfilme – das allein sind schon
etwa 40 Stunden Sehzeit.“ Obwohl es
gerade in Österreich eine große Tradition
von Sex- und Erotikkinos gibt, ist die
Vorstellung, sich gemeinsam mit anderen
Leuten Erotikfilme anzusehen für viele
ungewöhnlich. „Wir hatten schon im
Filmcasino eine Vorstellung mit 300
Zuseher*innen – ich kann es eigentlich
nur empfehlen, mit so vielen Menschen
Pornos zu sehen. Es ist ein Genuss und
ein völlig anderes Erlebnis. Wir hatten
65-jährige Damen, die ganz erheitert aus
dem Saal gingen, oder auch Paare, die
nachhause gegangen sind und etwas
Neues ausprobiert haben. Genau das ist
es, was wir erreichen wollen.“
Pornos sind viel mehr als Masturbationsvorlagen
– sie sind stets ein
Spiegel des Weltgeschehens. Narrative
aus Filmen und Serien, wie etwa Game
of Thrones, lassen sich in Pornographie
genauso wiederfinden wie Präsidentenaffären,
die Flüchtlingskrise oder nostalgische
Artefakte aus unserer Kindheit.
Auch die Corona-Pandemie hat ihre
Spuren im Kanon hinterlassen. „Quarantäne-Pornos“,
in denen die Darsteller
Mund-Nasen-Schutz tragen oder sich
verbotenerweise Orgien hingeben. „Die
Trends gingen seit 2020 auch in Richtung
Telefonsex, Cam-Sex und Selbstbefriedigung.“
Masturbationsvideos sind
deshalb beim diesjährigen Porn Film
Festival in den Fokus gerückt. „Das ist
gut, weil die Menschen in der Isolation
wohl endlich mal Zeit hatten, sich mit
sich selbst und dem eigenen Körper zu
beschäftigen“, erklärt Yavuz.
diese als erste überhaupt die Angebote
von Unfall-und Lebensversicherungen
für Homosexuelle. „Familie heißt ja bei
Versicherungen immer: Mann und Frau,
Kinder. Homosexuelle Paare wurden
lange nicht so gehandhabt. Man stelle
sich vor, dein Partner liegt im Krankenhaus
und man kann
nichts unternehmen,
keine Entscheidungen
treffen, nur weil man
homosexuell ist.“
Zehn Jahre lang trug
Yavuz einen Anzug
im Büro und verkaufte
Versicherungen,
führte Beratungen
auch auf Türkisch durch. Er war ein Topverkäufer
und hörte an der Spitze seiner
Karriere auf. Eines Tages im Jahr 2009
schmiss der gelernte Versicherungskaufmann
seinen Job hin. „Ich konnte
einfach nicht mehr. Nach einer Clubnacht
ging ich mehr oder weniger direkt zu
meinem Chef und kündigte.“ Danach
verbrachte er zwei Jahre auf einer
FESTIVAL TIPP:
Das Transitions Queer
Minorities Film Festival findet
von 17. – 21. November 2021
im Schikaneder statt. Alle
Informationen findet man unter:
transitionqueerfilmfestival.at
Selbstfindungsreise. „Vielleicht lag es an
meinem queeren Background, aber mich
faszinierte schon als Kind diese Filmwelt
mit Preisverleihungen, Glamour und Lichtern.
Mein Traum war es immer, auf dem
roten Teppich zu laufen“, lacht er. Sein
Händchen mit Finanzen, Talent für Organisation
und seine
Liebe für Filme vereint
er nun als Kurator von
Filmfestivals. Kritik an
seiner Arbeit kommt
aber nicht selten aus
seiner eigenen Community.
„Viele werfen
die Frage auf: Warum
sollte es ein schwullesbisches
Migranten-Filmfestival geben,
wenn es schon so viele andere gibt.
Nein, wir wollen unsere Geschichten
erzählen und nicht in einen anderen Topf
mit hineingeworfen werden. Mir ist die
Möglichkeit wichtig, einen Safe Space für
uns zu schaffen und unsere Geschichten
nicht von anderen erzählen zu lassen“,
so Yavuz. ●
„ALS KIND WOLLTE ICH
AUF DEM ROTEN TEPPICH
LAUFEN.“
In seinem früheren Leben war Yavuz
in der Versicherungs- und Finanzbranche
tätig. Bereits bei dieser Arbeit kam
er mit den brennenden Themen der
LGBTQI-Community in Kontakt. Nach
Beschwerden bei seiner Firma öffnete
KOLUMNE
MEIN ERSTER RAUSCH
Eine der ersten Freundschaften, die
ich in Österreich geschlossen habe,
war mit Fabian. Fabian ist gleich alt,
und obwohl wir aus zwei verschiedenen
Welten kommen, sind wir
einander sehr ähnlich. Wir haben
den gleichen Humor und die gleichen
Interessen, wir sind einfach auf einer
Wellenlänge. Er war angehender
Anwalt und sehr sportlich. Er brachte
mir viel über Österreich bei und half
mir später in vieler Hinsicht. Wobei
ich da einschränken muss, nicht alles,
was er mir beibrachte, war vorteilhaft.
FÜR SYRISCHE VERHÄLTNISSE
TRINKFEST
Mit Fabian ging ich das erste Mal in Österreich an
einem Samstag fort. Er wollte mir zeigen, wie man
in Salzburg ausgeht, und ich war sehr neugierig.
„Trinkst du Alkohol?“, fragte er mich, als er mich
vom Asylheim abholte. „Sicher!“, erwiderte ich stolz.
In Damaskus galt ich als Ungläubiger in der Familie,
weil ich als einziger Alkohol trank. „Aber du kannst
mit den Österreichern nicht mithalten“, meinte er
ironisch mit einem herausfordernden Unterton.
Und ja, er schaffte es, mich zu provozieren. Denn
in Syrien vertrug ich von allen Freunden am allermeisten.
„Ja sicher kann ich mithalten. Hast du eine
Ahnung!“, gab ich prompt zur Antwort. „Ok, dann
sehen wir heute, wer mehr trinkt“, sagte Fabian
erfolgssicher. Und ich ließ mich dämlicherweise darauf
ein. Damals wusste ich nichts vom Trinkverhalten
in Österreich. Ich dachte, es wäre wie in Syrien.
Da geht es meistens um den Genuss und das Beisammensein.
In Österreich hingegen trinkt man, um
zu sterben. Lasst mich euch die Geschichte zu Ende
erzählen.
turjman@dasbiber.at
Jad Turjman
ist Comedian, Buch-Autor
und Flüchtling aus Syrien.
In seiner Kolumne schreibt
er über sein Leben in
Österreich.
SIE TRINKEN BIER, ALS
WÄRE ES WASSER
Auf dem Weg kauften wir viel Bier
und fuhren zu einem Freund von
Fabian, der in Salzburg lebt, wo
auch bereits andere Freund*innen
anwesend waren. Sehr nette
Stimmung, Leute und Musik. Wir
spielten Karten und die ersten Flaschen
wurden geöffnet. Ich merkte,
dass Fabian und seine Freunde das
Bier tranken, als wäre es Wasser.
Bei jedem Schluck nahmen sie ein
Viertel der Flasche zu sich. Ich
hingegen nahm kleine Schlucke zu
mir, um den Geschmack wahrzunehmen.
Aber anscheinend ging es hier nicht um den
Geschmack. Nach fünfzehn Minuten hatte Fabian
schon zwei Flaschen ausgetrunken und öffnete
die dritte, ich aber war noch bei der ersten. Ich
versuchte, verunsichert mitzuhalten. Und als
ich das zweite Bier ausgetrunken hatte, merkte
ich, dass ich allmählich mein Limit erreichte. Ich
begann sinnlos zu lachen und mein Mund sprach
ohne meine Erlaubnis. Ich hörte meine Stimme,
aber es war nicht ich, der sprechen wollte. Fabian
war dabei, die fünfte Flasche zu öffnen. Für mich
wurde in diesem Moment klar, ich hatte die Wette
verloren und wollte tun, was die meisten Verlierer
nach einer Niederlage tun: heimgehen. „Wo willst
du hin?“, fragte Fabian verwundert. „Ins Quartier.
Danke, dass du mich zum Fortgehen mitgenommen
hast. Es war nett!“ „Was Fortgehen? Wir
sind noch nicht fortgegangen. Es war nur Vorglühen“,
lachten Fabian und seine Freund*innen aus
vollem Hals.
Robert Herbe
62 / MIT SCHARF /
VIENNA BLOOD
PREMIERE IN DREI TEILEN
SA 30. OKT | SO 31. OKT | MO 1. NOV | 20:15
DIE ERFOLGSSERIE GEHT WEITER – FORTSETZUNG VON
ROBERT DORNHELMS INTERNATIONALER KRIMI-BESTSELLER-VERFILMUNG.
EINE PRODUKTION DES ORF.
Mehr davon auf Flimmit.at
Zeit, es anzupacken.
Und unsere Zukunft neu zu gestalten.
Willst auch du Teil des #TeamÖBB werden, auf das sich alle Menschen in unserem Land verlassen können?
Jetzt für deinen Job mit Sinn bewerben unter karriere.oebb.at
HEUTE. FÜR MORGEN. FÜR UNS.
unsereoebb.at
@unsereOEBB