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Bajour Magazin #1

Unsere journalistischen Perlen des ersten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

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<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#1</strong> | 2020<br />

▲ Ludovic hat Fragen: «Gehört die Schweiz eigentlich<br />

zur EU oder nicht?» (Foto: Roland Schmid)<br />

schütteln alle den Kopf und sagen: «Nein, nein,<br />

nein.» Er und seine Grossfamilie betteln für sich<br />

und ihre Kinder, sagt Ludovic. Die je rund dreissig<br />

Franken, auf die die einzelnen Bettler*innen an<br />

guten Tagen täglich kommen, geben sie gemeinsam<br />

fürs Essen und für die Reise aus. Möglichst<br />

viel sparen sie. Damit sie möglichst rasch genug<br />

haben, um nach Rumänien zurückzukehren und<br />

eine Zeitlang davon zu leben. «In Rumänien lebe<br />

ich mit meinen fünf Kindern und meiner Frau in<br />

einer kleinen Wohnung – zwei Zimmer, eine Küche.<br />

Wir bekommen Kindergeld, aber das reicht<br />

kaum zum Leben», sagt er. Ähnlich geht es seinen<br />

Verwandten. Arbeiten in Rumänien lohne<br />

sich nicht, wenn das Geld nachher noch immer<br />

nicht reiche, um den Hunger zu stillen und die<br />

Wohnung zu bezahlen.<br />

Ludovic leert vor uns einen Sack mit Medikamenten<br />

aus. «Ich habe Diabetes», sagt er. «Ich<br />

brauche das Geld auch, um meine Tabletten zu<br />

bezahlen. Wir sind keine Bande», sagt er. «Wir<br />

sind eine Familie, das ist alles. Warum sollten wir<br />

für jemand anderen auf der Strasse leben und<br />

nach Geld betteln, warum sollten wir uns das für<br />

jemand anderes antun? Das macht doch wirtschaftlich<br />

gar keinen Sinn.»<br />

Im Gegensatz zur Basler Öffentlichkeit glaubt<br />

Anna Tillack jedes Wort, das Ludovic sagt. Es<br />

deckt sich mit ihren Recherchen.<br />

Die preisgekrönte deutsche Journalistin hat ein<br />

Jahr lang eine Roma-Frau begleitet. Für ihren im<br />

Dezember 2019 im Bayerischen Rundfunk ausgestrahlten<br />

Dokumentarfilm «Die Bettler aus der<br />

Walachei: Bedürftige oder organisierte Bande?»<br />

reiste sie mit der Bettlerin und ihrer Familie von<br />

München zurück in ihr rumänisches Dorf.<br />

Tillack sagt: «Den bösen Bettelzuhälter im schwarzen<br />

SUV, der die Menschen ausbeutet und ihr Geld<br />

einsteckt, gibt es nicht.» Alle Bettler*innen, mit<br />

denen sie im Zuge ihrer Recherchen gesprochen<br />

hat, versicherten ihr glaubhaft, das erbettelte<br />

Geld behalten zu dürfen.<br />

Das sieht auch Jean-Pierre Tabin, Professor an der<br />

Fachhochschule für soziale Arbeit und Gesundheit<br />

in Lausanne, so. Er hat das Thema Betteln<br />

wissenschaftlich untersucht. Resultat: Die Ver-<br />

dienstmöglichkeit einer*eines Bettler*in liegt in<br />

der Schweiz zwischen zehn und 20 Franken pro<br />

Tag. Das spricht gegen mafiöses Betteln, oder<br />

wie Wissenschaftler Tabin gegenüber swissinfo.<br />

ch sagt: «Es existiert nicht, es ist eine Fantasie».<br />

Was es gebe, sei Familiensolidarität.<br />

«DEN BÖSEN BETTELZUHÄLTER<br />

IM SCHWARZEN SUV, DER DIE<br />

MENSCHEN AUSBEUTET UND<br />

IHR GELD EINSTECKT, GIBT ES<br />

NICHT.» Anna Tillack, Journalistin<br />

Die Einzige, die den rumänischen Bettler*innen<br />

vom Wettsteinpark erwiesenermassen das Geld<br />

abnimmt, ist die Basler Polizei. Wie <strong>Bajour</strong> bereits<br />

berichtete, zog sie das erbettelte Geld von Ludovic<br />

und seiner Familie wegen Verdachts auf «Bandenmässigkeit»<br />

jeweils wieder ein. Eine davon ist<br />

Katarina*. Sie ist im siebten Monat schwanger und<br />

sitzt neben ihrem Mann im Gras auf einem Kissen.<br />

Ihr hat die Polizei kürzlich vierzig Franken abgenommen.<br />

«Weisst du, ob wir unser Geld von der<br />

Polizei zurückbekommen können?», fragt sie uns.<br />

«Es ist eine Glaubensfrage»<br />

Wie kommen Politiker*innen und Medien dann<br />

auf die Idee, die Basler Bettler*innen seien Teil<br />

einer Mafia?<br />

Balz Herter, Präsident der CVP Basel-Stadt, etwa,<br />

ist überzeugt davon: «Es sind so viele Bettler –<br />

alleine zwischen dem Claraplatz und dem Marktplatz<br />

sah ich heute mehr als zehn Personen. Mir<br />

wurde von Anwohnern erzählt, dass ein Teil der<br />

-14- -15-<br />

Bettler täglich mit dem Bus in Basel ankommt.<br />

Sie treten in grossen Gruppen auf – das spricht<br />

für mich für eine Organisation. Aber in Basel sind<br />

vermutlich bloss die Mittelsmänner. Der Bandenboss<br />

sitzt womöglich woanders.»<br />

Journalistin Anna Tillack kennt Gedankengänge<br />

wie diese. «Der Vorwurf des bandenmässig<br />

organisierten Bettelns fällt meiner Ansicht nach<br />

deshalb so schnell, weil die Bettler morgens gemeinsam<br />

kommen und abends ihren Platz gemeinsam<br />

wieder verlassen», sagt sie. Häufig falle<br />

Passant*innen auf, dass sie sich kennen. Sie haben<br />

die gleichen Utensilien dabei, wie Pappteller oder<br />

Decken. Das mache misstrauisch.<br />

Wissenschaftler Tabin sagt es noch pointierter:<br />

«Es ist ein klar stereotypisierter Diskurs, der auf<br />

nichts basiert.» Aber dem könne man nicht mit<br />

Argumenten entgegenhalten, «denn ein Stereotyp<br />

ist nicht rational begründet, sondern es ist<br />

eine Glaubensfrage».<br />

Kaputter Wirtschaftszweig<br />

Die Vorurteile gegenüber Sinti und Roma sind<br />

uralt. «Die ethnische Gruppe der Roma leidet in<br />

ganz Europa unter Diskriminierung», sagt Journalistin<br />

Anna Tillack. Kinder haben deutlich weniger<br />

Zugang zu Schulbildung, leiden häufiger<br />

Hunger als andere Kinder und sind von weiten<br />

Teilen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen.<br />

Ein Teufelskreis. Der sich in einer nach wie vor<br />

hohen Analphabetismus-Rate, mangelnder Bildung<br />

und enormen Geburtenraten, gerade bei<br />

sehr jungen Frauen, niederschlägt.<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#1</strong> | 2020

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