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Bajour Magazin #1

Unsere journalistischen Perlen des ersten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

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▼ Gehören zum Ortsbild wie jede*r andere auch: Bettler*innen in der Grazer Innenstadt. (Foto: Adelina Gashi)<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#1</strong> | 2020<br />

her diese offensichtliche Gelassenheit mit dem<br />

Thema kommt, das in Basel für Aufregung sorgt.<br />

Die Roma seien nicht etwa verschwunden, sagt<br />

er, sondern: «Die Bettler*innen gehören heute<br />

zum Stadtbild dazu.»<br />

Der Journalist, der bei den «Salzburger Nachrichten»<br />

arbeitet, hat in den letzten Jahren immer<br />

wieder über die Bettel-Diskussion, die auch<br />

in Graz hohe Wellen warf, berichtet. Behr hat<br />

mehrere der bettelnden Roma-Familien in ihrer<br />

slowakischen Heimat Hostice besucht und hielt<br />

den pauschalen Vorwürfen Reportagen über die<br />

individuellen Schicksale entgegen. Heute braucht<br />

es das nicht mehr. Seit einigen Jahren beobachte<br />

er ein einigermassen friedliches Miteinander von<br />

Bevölkerung und Bettler*innen, so Behr.<br />

«ICH HABE NICHTS DAGEGEN,<br />

DASS MENSCHEN BETTELN. ICH<br />

MAG ES NUR NICHT, WENN ICH<br />

DIREKT ANGEGANGEN WERDE.»<br />

Conni, Gast im Kunsthaus-Café<br />

Im Café Kunsthaus sitzt Conni an einem der kleinen<br />

Holztische und hat eben ein Clubsandwich<br />

bestellt. Auf den Bettler von eben angesprochen<br />

sagt sie: «Ich habe nichts dagegen, dass Menschen<br />

betteln. Ich mag es nur nicht, wenn ich<br />

direkt angegangen werde und aktiv nein sagen<br />

muss. Das ist mir unangenehm.» Aber eigentlich<br />

habe sie sich schon lange keine Gedanken mehr<br />

über die Bettler*innen gemacht, sagt sie. In ihrem<br />

Bekanntenkreis sei das mittlerweile kaum noch<br />

Gesprächsthema.<br />

Die Gelassenheit von Conni und dem Journalisten<br />

Martin Behr bestätigen auch andere Grazer*innen,<br />

mit denen wir im Verlaufe der Recherche geredet<br />

haben. Das Betteln ist kein Thema mehr. Die<br />

Bettler*innen gehören irgendwie dazu.<br />

Das war lange Zeit nicht so.<br />

Rückblende: 2011 in Graz. Die warmen Junitage<br />

kommen und damit die slowenischen Bettler*innen.<br />

Wie jedes Jahr. Und wie jedes Jahr überschlagen<br />

sich auch die Schlagzeilen. Die boulevardeske<br />

«Kronen Zeitung» zählt, neun Jahre vor «20 Minuten»<br />

in Basel, die Bettler*innen pro Kilometer<br />

in der Innenstadt.<br />

Dann geht in Graz die politische Diskussion los.<br />

Beizer*innen fürchten um ihre Kundschaft, rechtsnationale<br />

Politiker*innen aus FPÖ und die Bürgerlichen<br />

der ÖVP meinen, mafiöse Bettelstrukturen<br />

zu erkennen – ohne je Belege dafür zu haben. Wie<br />

in Basel. Und sie fordern: ein Bettelverbot. Wie<br />

rechtsbürgerliche Politiker*innen in Basel.<br />

2011 gibt sich Graz das Bettelverbot. Zuerst<br />

sieht es so aus, als ob die Bettler*innen tatsächlich<br />

deswegen verschwänden. «Bettelverbot in<br />

Graz zeigt Wirkung» schreibt die Regionalseite<br />

Steiermark des ORF 2012, ein Jahr nach dessen<br />

Erlass. Die Mehrheit der Roma habe Graz den<br />

Rücken gekehrt.<br />

Nur: Eine kleine Gruppe Bettler*innen ist in Graz<br />

geblieben. Sie haben sich etwas anderes einfallen<br />

lassen. Statt öffentlich in der Innenstadt zu<br />

betteln, gehen sie nun in den Quartieren von Tür<br />

zu Tür. So sagt der Grazer Polizeisprecher Joachim<br />

Huber gegenüber ORF: «Wir haben jetzt die<br />

Wahrnehmung, dass bettelnde Familien unterwegs<br />

sind, die bei der Bevölkerung anläuten und<br />

vor Ort Geld verlangen.»<br />

Für die Polizei sei diese Situation schwierig: Die<br />

grosse Problematik dabei? «Dass es meist zu<br />

keiner Anzeige kommt und wenn doch, dass die<br />

Betroffenen nicht mehr vor Ort sind und wir uns<br />

schwer tun einzuschreiten», erklärt Polizeisprecher<br />

Huber.<br />

-18- -19-<br />

Das Problem ist: Armut kann man verbieten. Weg<br />

ist sie deshalb nicht.<br />

Das Bettelverbot führt nur zu einer Verlagerung.<br />

Und es formiert sich Widerstand. Dem Pfarrer der<br />

katholischen Vinzenzkirche, Wolfgang Pucher, passt<br />

das Bettelverbot ganz und gar nicht. Er findet:<br />

«Betteln ist ein Menschenrecht.» Es könne nicht<br />

sein, dass man Menschen in Not kriminalisiere.<br />

Es ist dasselbe Argument, das linke Politiker*innen<br />

in Basel brauchen, wenn sie sich dafür einsetzen,<br />

dass Betteln erlaubt bleiben soll. Aber ist<br />

es nicht ein wenig naiv?<br />

«Vinzipfarrer» Pucher ist alles andere als naiv. Er<br />

holt sich juristischen Beistand und bringt das<br />

neue Gesetz bis vor Verfassungsgericht. Und das<br />

Gericht hält fest: Betteln ist ein Menschenrecht.<br />

Das Betteln zu verbieten ist verfassungswidrig. Im<br />

Jahr 2013 wird Betteln wieder erlaubt. Und nicht<br />

nur in Graz, sondern in der ganzen Steiermark.<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#1</strong> | 2020

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