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Bajour Magazin #1

Unsere journalistischen Perlen des ersten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

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*<br />

Die Urteile gegen die zahlreichen Teilnehmer<br />

an einer unbewilligten Protestdemonstration<br />

gegen den bewilligten Aufmarsch einer<br />

handvoll rechtsextremer Pnos-Anhänger*innen<br />

sorgt landesweit für Aufsehen und auch unter<br />

Jurist*innen oft für Kopfschütteln. Eine über<br />

die Schulter geworfene, halbvolle Bierbüchse<br />

wurde nicht als vorsätzliche Körperverletzung<br />

gegen gepanzerte Polizeibeamte taxiert. Trotzdem<br />

kassieren die ersten verurteilten Protestierenden<br />

monatelange Gefängnisstrafen. Für<br />

was? Für die Teilnahme an einer unbewilligten<br />

Demonstration. Beim dritten Urteil war der <strong>Bajour</strong>-Journalist<br />

der einzige Gerichtsreporter. Es<br />

dürften noch Dutzende Verhandlungen folgen.<br />

Die halbe Schweiz wundert sich über die Basler<br />

Urteile. Wir bleiben dran.<br />

Prozess) und nicht fotografiert (90 Tagessätze<br />

à 30 Franken für einen anderen Angeklagten).<br />

Sie trug an diesem 24. November 2018 eine helle<br />

Jeans und hatte sich zeitweise ihren Schal unter<br />

die Nase gebunden. Der zentrale Satz in der Anklage<br />

der Staatsanwaltschaft lautet: «Der Beschuldigten<br />

können im Rahmen des vorgeschilderten<br />

Landfriedensbruchs keine eigenhändigen<br />

Gewaltdelikte zum Nachteil von Polizisten nachgewiesen<br />

werden.»<br />

Das bedeutet: Das Strafgericht Basel verurteilte<br />

an diesem Montagnachmittag eine Person zu acht<br />

Monaten Freiheitsentzug, weil sie sich an einer<br />

unbewilligten Demonstration aufgehalten hatte.<br />

So zumindest musste das Urteil gelesen werden,<br />

wenn man den hier verhandelten Sachverhalt,<br />

nämlich die Teilnahme an der Anti-Pnos-Demo,<br />

zur Grundlage nahm.<br />

Die Staatsanwaltschaft führte in ihrer Anklage<br />

aber weitere Hinweise an, um die Angeklagte<br />

als Wiederholungstäterin erscheinen zu lassen.<br />

Und wieder die Frage: Wo bleibt die Unschuldsvermutung?<br />

Erstaunlich war, dass es sich bei diesen Hinweisen<br />

auf die angeblich justiziable Vergangenheit der<br />

Angeklagten (es geht um Sachbeschädigungen<br />

im Rahmen einer früheren Demonstration in Basel<br />

sowie einen durch Einspruch sistierten Strafbefehl<br />

wegen Farbschmierereien) um hängige Verfahren<br />

handelte, deren Urteile noch ausstehen. Das<br />

heisst: Zur Zeit der Strafverfolgung sowie der an<br />

diesem Montag geführten Gerichtsverhandlung<br />

galt die Unschuldsvermutung.<br />

Und so steht das beinahe auch in der Anklageschrift.<br />

«DIE BESCHULDIGTE HAT KEINE<br />

RECHTSKRÄFTIG BEDINGTEN<br />

VORSTRAFEN, JEDOCH ZWEI<br />

HÄNGIGE VERFAHREN WEGEN<br />

EINSCHLÄGIGEN DELIKTEN.»<br />

Jedoch? Ob durch diesen Zusatz die Unschuldsvermutung<br />

von der Strafverfolgungsbehörde nicht<br />

mindestens angekratzt wird, ist fraglich.<br />

Das Gericht nahm den Ball auf. Gerichtspräsident<br />

René Ernst (SP) begründete das Strafmass<br />

mit Verweis auf die hängigen Verfahren mit der<br />

Bemerkung, das Urteil in Sachen Sachbeschädigungen<br />

sei zwar eingestellt, aber grundsätzlich<br />

nachgewiesen. Uns fehlt das juristische Knowhow,<br />

um diesen Satz lupenrein einzuordnen, aber<br />

mit gebührender Sachlichkeit müssen wir auch<br />

hier darauf hinweisen: Es bleiben Fragen offen.<br />

Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrer Anklage 12<br />

Monate unbedingt gefordert.<br />

Das Urteil von acht Monaten unbedingt hätte<br />

formell auch auf bedingte Freiheitsstrafe lauten<br />

können, sagte der Gerichtspräsident zum Schluss<br />

der Urteilsbegründung. Allerdings habe die Angeklagte<br />

durch ihr Auftreten und ihr Statement<br />

vor Gericht klargemacht, dass sie aus Überzeugung<br />

an der antifaschistischen Demonstration<br />

teilgenommen habe und dass in Bezug auf ähnliche<br />

Delikte weiteres Ungemach drohe, sollte sich<br />

wieder «so eine Situation» ergeben.<br />

Das Urteil von acht Monaten unbedingt sei darum<br />

angemessen.<br />

▲ Die Demonstration auf dem Weg auf die Dreirosenbrücke. (Foto: Daniel Faulhaber)<br />

Nach der Urteilsverkündung kam es am Montagabend<br />

zu einer spontanen Solidaritätsdemonstration<br />

von Sympathisant*innen. Zirka 200 Personen<br />

versammelten sich gegen 20.00 Uhr auf dem Claraplatz,<br />

liefen dann die Klybeckstrasse entlang und<br />

über die Dreirosenbrücke zum Voltaplatz. Nach<br />

einer Stunde löste sich die Demonstration auf.<br />

Die Polizei hielt sich während des Umzugs ausser<br />

Sichtweite. Vereinzelt wurden Bengalos gezündet,<br />

die Demonstration blieb friedlich. Es kam zu<br />

Verkehrsverzögerungen und einer zwischenzeitlichen<br />

Störung des Tramverkehrs. ●<br />

▲ Am Haus gegenüber dem Strafgericht hängt eine solidarische Fahne. Rund 100 Sympathisant*innen hatten<br />

sich schon am frühen Montagmorgen vor dem Gericht versammelt. (Foto: Daniel Faulhaber)<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#1</strong> | 2020<br />

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<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#1</strong> | 2020

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