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Bajour Magazin #1

Unsere journalistischen Perlen des ersten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

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Puchers Ratschläge<br />

Dass Betteln durchaus als lästig empfunden werden kann, stellt<br />

der Grazer Pfarrer Pucher nicht in Abrede. «Niemand muss einem<br />

Bettler etwas abgeben», sagt er. Aber für den täglichen Umgang<br />

mit Bettler*innen hat er drei Tipps bereit:<br />

1. Sprich mit einem*einer Bettler*in. «Ein ‹Wie gehts?› verstehen<br />

alle», sagt er.<br />

2. «Such dir einen aus und gib nur ihm.» Allen Bettler*innen<br />

helfen zu wollen sei illusorisch. Aber es bringe schon viel,<br />

wenn man einer Person regelmässig zu etwas Geld und<br />

Essen verhelfe.<br />

3. Wer den Bettler*innen, die aus osteuropäischen Ländern<br />

anreisen, nicht glauben will, dass sie keine andere Wahl haben,<br />

als so ihr Geld zu verdienen, soll sie in der Heimat besuchen<br />

gehen. «Man kehrt verändert zurück», sagt Pucher.<br />

Journalist Martin Behr erzählt, dass viele Grazer*innen sich Puchers<br />

Ratschläge zu Herzen genommen haben: «Ich sehe immer<br />

wieder Menschen, die den Bettlern und Bettlerinnen etwas in den<br />

Becher werfen, von denen ich das nicht erwartet hätte. Manche<br />

meiner Bekannten haben sozusagen ihren persönlichen Bettler,<br />

dem sie regelmässig etwas Geld geben.» ●<br />

▲ Das Rathaus thront hinter dem Hauptplatz. (Foto: Adelina Gashi)<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#1</strong> | 2020<br />

Auf die augenfällige Gelassenheit zwischen Grazer<br />

Öffentlichkeit und bettelnden Roma angesprochen,<br />

will Pfarrer Pucher nichts von einem<br />

Wunder wissen. «Reden, reden, reden – mit allen.<br />

Immer.» Nur das helfe, sagt er. Und immer zwischen<br />

die Fronten gehen, das müsse man. «Ein<br />

Grazer Polizist hatte es vor ein paar Jahren auf<br />

die Roma abgesehen und nahm ihnen das Geld<br />

ab. Er glaubte, es seien Kriminelle. Ich sagte ihm,<br />

er solle sie in der Vinzi-Unterkunft besuchen<br />

kommen und mit ihnen sprechen.» Das habe er<br />

dann getan, erzählt Pucher. Die Roma erhielten<br />

die Gelegenheit, dem Polizisten ihre Situation zu<br />

erklären. «Die Schikanen hörten auf.»<br />

Vor einem Supermarkt in der Grazer Innenstadt<br />

steht ein Mann. Kurzes weisses Haar, runder Bauch<br />

und freundliche braune Augen. Er trägt einen<br />

moosgrünen Pullunder, braune Lederschuhe und<br />

bittet Passant*innen und Ladenbesucher*innen<br />

um Geld. Hier steht er fast jeden Tag, sagt er.<br />

Vor ein paar Wochen ist er mit seiner Familie aus<br />

Hostice angereist. Nachts schlafe er im Vinzinest.<br />

«Die Leute sind sehr freundlich zu mir», sagt er<br />

über die Grazer*innen. Ein Mann läuft an ihm<br />

vorbei und grüsst den Bettler, der ihm prompt<br />

die Hand entgegenstreckt. Lachend sagt er zu<br />

ihm: «Na, ich habe dir heute schon was gegeben.<br />

Nächstes Mal wieder», und läuft weiter.<br />

In Graz ist die Bettel-Debatte<br />

in den Hintergrund gerückt<br />

– bald auch in Basel?<br />

Der Pfarrer nimmt auch die Bettler*innen selbst<br />

ins Gebet. «Wir erklären den Bettler*innen immer<br />

wieder, dass sie die Gesetze beachten müssen. Da<br />

bin ich streng», sagt der 81-Jährige. «Ich sage ihnen,<br />

dass es nichts bringt, wenn sie aufdringlich<br />

sind. Die, die ihnen etwas geben wollen, tun das<br />

nämlich auch, wenn sie still betteln», sagt Pucher.<br />

«Bei den Wahlen 2017 ging es jedenfalls zum ersten<br />

Mal nicht um die Bettler und Bettlerinnen in<br />

Graz», sagt Journalist Martin Behr. Für die Bevölkerung<br />

und darum auch für die Politik war das<br />

Thema in den Hintergrund gerückt.<br />

Wer auch immer in Basel nach einem Wahlkampf,<br />

der sich stark um Bettler*innen drehte, gewählt<br />

wird: Damit das Thema in Zukunft nicht quasi<br />

zur festen Wahlkampf-Folklore wird, ist allen<br />

künftigen Ratsmitgliedern eine Reise nach Graz<br />

zu empfehlen.<br />

*Name von der Redaktion geändert<br />

▼ Hinter diesem Tor bietet Pfarrer Puchers Vinzinest jedes Jahr einer<br />

slowakischen Roma-Familie Unterschlupf. (Foto: Adelina Gashi)<br />

-22- -23-<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#1</strong> | 2020

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