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Bajour Magazin #1

Unsere journalistischen Perlen des ersten Jahres zusammengefasst in einem Magazin.

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<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#1</strong> | 2020<br />

Geschlecht oder das biologische Geschlecht<br />

betreffen. Es gibt Uneindeutigkeiten.<br />

▷ Ich kenne persönlich Leute, die das Geschlecht<br />

gewechselt haben. Eine non-binäre Person<br />

kenne ich nicht bewusst. Ist denn dieses Thema<br />

überhaupt Teil der Feminismus-Debatte?<br />

▶ Die Gleichstellung aller Geschlechter ist ein<br />

Teil der Feminismus-Debatte.<br />

▷ Aber der Begriff Feminismus ist ja auch wieder<br />

binär.<br />

▶ Es gibt nicht den Feminismus, es gibt vielleicht<br />

Feminismen. So wie ich ihn verstehe,<br />

versucht der Feminismus, alle Gruppen von<br />

Menschen zu berücksichtigen.<br />

▷ Warum nennt man es dann Feminismus und<br />

nicht Maskulinismus?<br />

▶ Weil der Feminismus auch eine Kritik ist an<br />

einer männerdominierten Gesellschaftsordnung.<br />

Fühlen Sie sich von Symbolen wie dem<br />

Gendersternchen irgendwie in Frage gestellt?<br />

▷ Ich fühle mich überhaupt nicht bedroht, jeder<br />

darf das Sternchen benutzen, solange niemand<br />

muss. Ich frage mich nur, ob man am Schluss<br />

all dieser Debatten jemandem hilft oder ob die<br />

Debatten zum Selbstzweck werden und man<br />

dann mehr Probleme hat als vorher. Ein wirkliches<br />

Problem kriege ich da, wo die Politik<br />

effektive statt gesetzliche Gleichheit, nicht Gerechtigkeit,<br />

erreichen will. Das finde ich falsch.<br />

Totale Gleichheit politisch durchgesetzt, davon<br />

bin ich überzeugt, ist am Schluss ein moralisches<br />

Verbrechen. Die Welt lebt von der Vielfalt.<br />

▶ Das ist natürlich wahnsinnig einfach zu sagen<br />

für Sie. Sie sind in einer privilegierten<br />

Position und stehen damit auf der sonnigen<br />

Seite der Vielfalt.<br />

▷ Wenns einem gutgeht, man erfolgreich und<br />

gesund ist, dann lässt sich das einfacher sagen.<br />

Da haben Sie sicher recht. Lustig ist aber<br />

auch, dass Sie mir als Mann den Feminismus<br />

erklären. Stellt sich auch immer die Frage, wer<br />

hier den Advokat spielt für wen.<br />

▶ Naja, Sie haben mich danach gefragt. Ausserdem<br />

geht der Feminismus auch Sie und<br />

mich etwas an, wie ich bereits versucht habe<br />

zu sagen.<br />

▷ Wirkliche Ungerechtigkeit werden wir mit solchen<br />

Symbolen nicht lösen. Denken wir zum Beispiel<br />

an die USA. Die unterprivilegierten Trump-Wähler<br />

fühlen sich durch die Nutzung eines Gendersternchens<br />

nicht besser abgebildet, ganz im<br />

Gegenteil. Unsere Debatte mag interessant sein,<br />

ist aber auch etwas kopfig. Das hilft denen nicht.<br />

Verflucht. Ich hab einen ganz zentralen Einsatz<br />

in dieser Auseinandersetzung leider einfach verpasst.<br />

Das Privileg, die Welt lebe von der Vielfalt<br />

zu sagen und damit zu meinen, alles solle bleiben,<br />

wie es ist. Das muss man erst mal haben. Dürr<br />

sagt einfach, das mag sein.<br />

Und trifft mich dann mit einem linken Haken da,<br />

wo Typen wie ich am einfachsten zu treffen sind.<br />

Dass ich als Mann hier sitze und ihm den Feminismus<br />

erkläre, das ist natürlich scheisse. Darum<br />

will ich ja lieber über Männer reden, aber irgendwie<br />

sind wir damit durch. Ab in die Schlussrunde.<br />

▶ Was verstehen Sie denn unter Gleichheit?<br />

▷ Das Ameisenprinzip. Alle sind genau gleich.<br />

Es ist bemerkenswert, dass jene, die überall<br />

Ungerechtigkeiten entdecken, hier noch ein<br />

Förderprogramm aufstellen und da noch ein<br />

Verbot einrichten wollen – das sind dieselben,<br />

die sich eine vielfältige Gesellschaft wünschen.<br />

Vielfalt und Gleichheit, zu Ende gedacht, sind<br />

Antonyme. Und merkwürdigerweise gelten<br />

beide als linke Begriffe.<br />

▶ Sprechen wir von Chancengleichheit. Was<br />

tun Sie in Ihrem Departement dafür?<br />

▷ Wir schreiben seit einigen Jahren alle Stellen<br />

grundsätzlich 80 bis 100 Prozent aus, meines<br />

Wissens als erstes Departement. Wir haben<br />

angefangen mit einer Rekrutierungsquote. Das<br />

heisst, zumindest in der ersten Runde müssen<br />

zwingend mindestens ein Mann und eine Frau<br />

eingeladen werden. Dazu kommen neu sogenannte<br />

Bias-Trainings, damit Vorgesetzte ihre<br />

Verhaltensmuster bei der Anstellung reflektieren.<br />

Die Gefahr besteht, immer die gleichen<br />

anzustellen, übrigens auch in Bezug auf das<br />

Alter, nicht nur das Geschlecht. Zudem setzt<br />

die Kantonspolizei einen Rekrutierungsfokus<br />

hin zu mehr Frauen. Insgesamt hat sich der<br />

Kaderanteil der Frauen seit meiner Amtszeit<br />

um ein Drittel erhöht.<br />

▶ Das ist doch toll. Würden Sie sich denn als<br />

Feminist bezeichnen?<br />

▷ Wenn ich mir anhöre, was Sie hier als Definition<br />

vorschlagen – ist man dann ein Feminist,<br />

solange man ein guter Mensch ist, oder wie?<br />

▶ Möglicherweise. Aber das war nicht die Frage.<br />

▷ Ich versuche ein guter Mensch zu sein, deswegen<br />

würde ich mich aber nicht als feministisch<br />

bezeichnen. Wie auch immer: Meine Hauptbotschaft<br />

ist, dass die Politik nicht alles lösen soll<br />

und darf. Ich glaube auch nicht an den Satz<br />

«Das Private ist politisch». Das ist ein ganz gefährlicher<br />

Satz. Wenn die Politik anfängt, in das<br />

Private, in die Gemeinschaft hinein zu befehlen,<br />

kann das ganz gewaltig nach hinten losgehen.<br />

Ich habe mich dazu auch im Zusammenhang<br />

mit 1968 schon geäussert.<br />

«SIE WOLLEN VON MIR WISSEN,<br />

OB ICH IN MEINER ROLLE<br />

ABSICHTLICH MÄNNLICHE<br />

HÄRTE ZEIGEN MUSS? ICH<br />

HABE MIR DIESE FRAGE<br />

NOCH NIE GESCHLECHTLICH<br />

GESTELLT, BEVOR SIE MIT<br />

DEM GEKOMMEN SIND.»<br />

Baschi Dürr<br />

▶ Finden Sie gut, was die MeToo-Bewegung<br />

erreicht hat?<br />

▷ Wenn dies langfristig zu mehr Selbstbewusstsein<br />

und einer Entkrampfung der Geschlechterverhältnisse<br />

führt, dann ja.<br />

▶ Ihr politischer Auftrag ist ja eng an Macht<br />

und die Durchsetzung von Staatsgewalt geknüpft.<br />

Können Sie überhaupt ein Mann sein,<br />

der Schwächen zulässt, oder werden Sie dann<br />

öffentlich zerfleischt?<br />

▷ Ich habe mir diese Frage noch nie geschlechtlich<br />

gestellt, bevor Sie mit dem gekommen sind.<br />

Also Sie wollen von mir wissen, ob ich in meiner<br />

Rolle absichtlich männliche Härte zeigen<br />

muss? Nein, ich glaube nicht.<br />

▶ Wirklich nicht? Als Polizeidirektor waren Sie<br />

doch bestimmt schon in einer Lage, in der<br />

von Ihnen verlangt wurde, wie man so sagt,<br />

dass Sie «Ihren Mann» stehen?<br />

▷ Nein. Ich verfolge meine Polizeipolitik mit<br />

Augenmass konsequent, was immer mal wieder<br />

Kritik von links wegen zu viel und von rechts<br />

wegen zu wenig Härte gibt. Dass diese Kritik<br />

aber mit meinem Geschlecht verbunden worden<br />

wäre, etwa ich sei kein ganzer Mann oder<br />

gegenteilig voll toxischer Männlichkeit – nein,<br />

daran mag ich mich nicht erinnern.<br />

▶ Als Sie 2012 für den Regierungsrat kandidierten,<br />

haben Sie für sich einen halben Tag für<br />

Familienarbeit eingefordert, Sie haben das<br />

Waschtag genannt. Die ganze Stadt lachte<br />

darüber. Waschi-Baschi reimten die Schnitzelbänke,<br />

Sie wurden als Frau karikiert. Glauben<br />

Sie, dass Sie heute 2020 immer noch für<br />

eine Forderung nach einem Waschtag ausgelacht<br />

würden?<br />

▷ Ich komme ja aus der Kommunikation und<br />

gebe zu, dass ich diese Reaktionen auch bewusst<br />

hervorgerufen habe. Aber ich war dann<br />

doch erstaunt, dass es so viele Reaktionen<br />

gab. Der Waschtag war Thema in jedem einzelnen<br />

Schnitzelbank. Das hat gezeigt, dass<br />

das noch weniger eine Selbstverständlichkeit<br />

ist, als ich dies vermutet hatte. Jetzt wo ich so<br />

drüber nachdenke, könnte ich mir vorstellen,<br />

-50- -51-<br />

dass das heute, acht Jahre später, nicht mehr<br />

ganz so heftig wäre.<br />

▶ Zum Beispiel dafür setzt sich der Feminismus<br />

ein. Dass Männer Wäsche waschen können,<br />

ohne dafür ausgelacht zu werden.<br />

▷ Das ist auch gut so. Die Frage ist nur, ob es dafür<br />

die ganz grosse Bewegung braucht. Wenn ich<br />

am Donnerstagnachmittag für die drei Söhne<br />

zuhause bin, und das ist ja übrigens auch nicht<br />

so viel, muss ich mich deswegen nicht als Feminist<br />

fühlen.<br />

Dürr begleitet mich zur Tür. Am nächsten Tag bedankt<br />

er sich per Mail für das interessante Gespräch<br />

und schickt einen Artikel, den er im «Schweizer<br />

Monat» über 1968 und den Satz «Das Private ist<br />

Politisch» geschrieben hat. Titel: Der Sündenfall.<br />

Zwei Tage später telefoniere ich mit einer Freundin<br />

und sie erzählt mir, wie ihr an einer Geburtstagsparty<br />

wieder irgendwer an den Arsch gefasst<br />

habe. Zum x-ten Mal, sagt sie, sei das passiert,<br />

und dann erzählt sie, wie sie immer und immer<br />

wieder sexualisiert werde und die Tatsache, dass<br />

sie eine Frau ist, angesprochen werde («Für eine<br />

Frau spielst du aber gut Fussball»), oder dass sie<br />

mit Blicken und übergriffigem Verhalten ausgestellt<br />

werde.<br />

Mir passiert das wirklich nicht oder sehr selten,<br />

denke ich.<br />

Und weiter: Dass dieses Interview auch darum so<br />

kopfig und ich so wenig parat war, zupackender<br />

dagegenzuhalten. Weil ich als weisser cis-Mann,<br />

weil Baschi Dürr als weisser cis-Mann, weil wir<br />

so gütlich durch unseren Alltag surfen und das<br />

Geschlecht allermeistens keine Rolle spielt. Wir<br />

weissen Männer haben die Welt so eingerichtet,<br />

dass wir uns nicht daran stossen.<br />

Aber das ändert sich gerade. Am Frauenstreik<br />

2019 hab ich ein Banner gelesen, auf dem stand:<br />

«Dem Patriarchat die Kniescheibe rauswummern».<br />

Aua. ●<br />

Disclaimer: Dieses Gespräch<br />

wurde vor dem Frauen*streik<br />

am 14. Juni 2020 und der<br />

hitzigen Konfrontation zwischen<br />

den Teilnehmer*innen einer<br />

unbewilligten Demonstration<br />

und der Polizei geführt.<br />

<strong>Bajour</strong> <strong>Magazin</strong> <strong>#1</strong> | 2020

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