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E&W Dezember 2010 - GEW

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Foto: Privat<br />

Foto: dpa Angst<br />

und Ignoranz<br />

Kommentar zum vierten Berliner Integrationsgipfel<br />

Es war ein<br />

merkwürdiges<br />

Interview, das<br />

die Leser im<br />

NiederbayerischenausgerechnetamTag<br />

des vierten Integrationsgipfels<br />

lesen durften.„Eigentlich“,<br />

sagte Bun-<br />

Jeannette Goddar deskanzlerin<br />

Angela Merkel<br />

(CDU) der Passauer<br />

Neuen Presse, sei Deutschland<br />

kein Einwanderungsland. „Eigentlich“<br />

nämlich sei es das „nur zwischen den<br />

1950er-Jahren und 1973“ gewesen:<br />

„Damals fehlten Arbeitskräfte und<br />

man warb gezielt um Gastarbeiter.“ Danach<br />

seien „nur noch“ Familienangehörige,<br />

Flüchtlinge und Asylbewerber<br />

zugezogen.<br />

Uneigentlich kamen am 3. November<br />

115 Vertreter aus Bundes- wie Länderministerien,<br />

Parteien, Wirtschaft und<br />

Medien mit Migrantenorganisationen<br />

zusammen, um über Integration in einem<br />

Land zu reden, in dem jeder Fünfte<br />

einen Migrationshintergrund hat.<br />

Und in dem nicht vier Millionen Gastarbeiter<br />

– sondern seit 1954 mehr als 31<br />

Millionen Menschen zugezogen sind.<br />

Nicht alle blieben, viele gingen wieder.<br />

Zu behaupten, Deutschland sei kein<br />

Einwanderungsland, ist eine ziemlich<br />

steile These. Wie auch, was die Bundeskanzlerin<br />

kurz zuvor den jungen<br />

Christdemokraten auf deren Bundestreffen<br />

zugerufen hatte: „Multikulti“<br />

sei „gescheitert“!<br />

Was soll diese diffamierende Bemer-<br />

Same procedure as every year: Auch<br />

der vierte Integrationsgipfel tat nur,<br />

was er immer getan hat: ankündigen.<br />

kung angesichts der Vielfalt in<br />

Deutschland wohl bedeuten? Ein Hinweis,<br />

dass das Miteinander von Menschen<br />

aus 180 Nationen kein ganzjähriger<br />

Salsa ist? Das wäre banal. Auch als<br />

Verweis auf eine Zeit, in der man dachte,<br />

„jetzt machen wir hier mal Multikulti<br />

und leben so nebeneinander her<br />

und freuen uns übereinander“ (Merkel),<br />

taugt die Behauptung kaum.<br />

Schon deswegen, weil sie historisch<br />

falsch ist.<br />

„Wir feiern das nicht. Wir stellen es nur<br />

fest“, schrieb schon einer der ersten,<br />

der in Deutschland überhaupt über die<br />

multikulturelle Gesellschaft redete.<br />

Und: „Sie (die multikulturelle Gesellschaft,<br />

Anm.d.Red.) hat zwei Seiten:<br />

eine vorteilhafte und eine, die Angst<br />

macht. Von beiden muss gesprochen<br />

werden.“ Der Verfasser: Daniel Cohn-<br />

Bendit (Grüne, heute für Frankreichs<br />

Grüne im Europaparlament), damals<br />

Leiter des Amtes für multikulturelle<br />

Angelegenheiten in Frankfurt am<br />

Main. 1993, also sechs Jahre bevor Roland<br />

Koch als selbsternannter „Anwalt<br />

des Volkes“ mit einer beispiellos skrupellosen<br />

Kampagne gegen die Einwanderungsgesellschaft<br />

Wahlkampf machte<br />

und hessischer CDU-Ministerpräsident<br />

wurde.<br />

Und es war dieselbe Zeit, in der sich die<br />

rot-grüne Koalition nach sage und<br />

schreibe 45 Jahren Zuwanderung ins<br />

Stammbuch geschrieben hatte, diese<br />

gesetzlich regeln zu wollen. Vier Jahre<br />

lang bewegten das Zuwanderungsgesetz<br />

ebenso wie die nach dem 11. September<br />

2001 eingeführten neuen Sicherheitsgesetze<br />

die Republik – jeder<br />

einzelne Absatz hart umkämpft; nahezu<br />

keiner davon am Ende zur Zufrie-<br />

denheit der Migrantenvertreter verabschiedet.<br />

Es war auch dieselbe Zeit, in<br />

der die erste PISA-Studie darauf aufmerksam<br />

machte, dass der statistische<br />

15-Jährige mit Migrationshintergrund<br />

seinem „herkunftsdeutschen“ Klassenkameraden<br />

in seinen Kompetenzen<br />

um zwei Jahre hinterherhinkt. PISA<br />

2001 wies allerdings auch darauf hin:<br />

Das muss nicht so sein – andere Industrieländer<br />

können es besser.<br />

Heute und somit 55 Jahre nach Beginn<br />

der gesteuerten Zuwanderung hätte eine<br />

Bundesregierung also Dringenderes<br />

zu tun, als sich in monoethnischen<br />

Träumereien einer Leitkultur-Debatte<br />

zu verlieren. Fakt ist: Die Bildungssituation<br />

in vielen Migrantenfamilien ist<br />

dramatisch: Schüler nichtdeutscher<br />

Herkunft brechen doppelt so häufig<br />

die Schule ab und machen nur halb so<br />

oft eine Ausbildung. Und während an<br />

Hauptschulen mehr als jeder zweite<br />

Schüler einer Zuwandererfamilie entstammt,<br />

ist es an Gymnasien nur jeder<br />

vierte. In den Innenstädten nehmen<br />

die Fluchtreflexe der Mittelschicht –<br />

der türkischen wie der deutschen – zu.<br />

Wer will schon sein Kind an einer<br />

Schule wissen, die für das heterogene<br />

Klassenzimmer nicht ausgestattet ist<br />

und deren Lehrkräfte auf die komplexe<br />

mehrsprachige Realität nicht vorbereitet<br />

werden?<br />

All dem zum Trotz tat aber auch der<br />

vierte Integrationsgipfel nur, was er immer<br />

getan hat: Ankündigen – dieses<br />

Mal die Fortschreibung des „Nationalen<br />

Integrationsplans“* von 2007 in einen<br />

„Aktionsplan“** bis 2012. Mit ihm<br />

soll, so vage blieb es dann auch, die Integration<br />

durch „Ziel- und Zeitvorgaben“<br />

beschleunigt werden. Die Bundeskanzlerinsicherte<br />

außerdem zu, bis<br />

2015 allen Migranten<br />

einen Integrationskursanzubieten.<br />

Bis dahin sind<br />

es 60 Jahre seit dem<br />

ersten Vertrag über<br />

den Zuzug dringend<br />

benötigter Arbeitskräfte<br />

aus dem<br />

Ausland.<br />

Jeannette Goddar,<br />

freie Journalistin<br />

GESELLSCHAFTSPOLITIK<br />

* www.bundesregierung.de/<br />

Content/DE/Archiv16/<br />

Artikel/2007/07/Anlage/<br />

2007-10-18-nationaler-integrationsplan,property=<br />

publicationFile.pdf<br />

**www.bundesregierung<br />

.de/nn_1272/Content/<br />

DE/Pressemitteilungen/<br />

BPA/<strong>2010</strong>/11/<strong>2010</strong>-11-<br />

03-ib-integrations<br />

gipfel.html<br />

12/<strong>2010</strong> Erziehung und Wissenschaft 23

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