E&W Dezember 2010 - GEW

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GASTKOMMENTAR Warum regt sich niemand auf? Vor knapp zehn Jahren entfachte die PISA-Studie in Deutschland eine Diskussion über die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems, vergleichbar nur mit derjenigen in den 1960er-Jahren, die der Pädagoge Georg Picht mit seinem Begriff der „Bildungskatastrophe“ angezettelt bzw. auf den Punkt gebracht hatte. PISA hatte festgestellt, dass ein Viertel der Jugendlichen die Schule ohne ausreichende Grundbildung verlässt (PISA 2001). Überraschend war dies wiederum nicht: Bereits 1996 hatte die OECD im International Adult Literacy Survey (IALS) ermittelt, dass in Deutschland 14,4 Prozent der Erwachsenen (zirka 7,7 Millionen!) lediglich das niedrigste Niveau der Lesekompetenz erreichten. Die 15-Jährigen des Jahres 2000 sind heute erwachsen. Jährlich haben seit damals bis heute zwischen 65 000 und annähernd 80 000 Jugendliche ohne Hauptschulabschluss und mit höchstwahrscheinlich gravierenden Mängeln im Schreiben und Rechnen die Schule verlassen. Bei einer engen Definition ist davon auszugehen, dass heute in Deutschland etwa vier Millionen Menschen (fünf Prozent der Gesamtbevölkerung) Analphabeten sind. Doch was geschah mit den Jugendlichen von damals, der „PISA-Generation“? Was ist 2010 aus ihnen geworden? Warum fragt niemand danach, warum diskutiert das niemand (s. S. 9/10)? Wir wissen, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund seltener einen Ausbildungsplatz finden, ihr Anteil im dualen System rückläufig und ihre Abbrecherquote hoch ist. Und wir wissen, dass die Zahl der Arbeitsplätze für Ungelernte erheblich abnimmt. Bis heute ist fast die Hälfte aller Jobs, die es noch vor zehn Jahren für Menschen ohne Berufsabschluss gab, abgebaut. Wir wissen, dass wir es hier mit einer bedeutsamen Minderheit Erwachsener zu tun haben, die für berufliche und gesellschaftliche Teilnahme einer angemessenen Bildung bedürfen. Die Jugendlichen von damals sind heute zwar Adressatengruppen in der Erwachsenen- und Weiterbildung. Es ist aber hinreichend belegt, dass die Wahrscheinlichkeit der Teilnahme an einer Fortbildung mit dem Bildungsniveau steigt. Dies gilt sowohl für organisierte Weiterbildung als auch für informelle Bildung, und dies trifft auch auf andere Länder zu. Obwohl die Teilnahmequoten wieder seit einigen Jahren ansteigen (auch bei den Niedrigqualifizierten), vergrößert sich der Bil- 2 Erziehung und Wissenschaft 12/2010 dungsabstand zwischen Höher- und Geringerqualifizierten eher. Denn: Die Erkenntnis der PISA- Studie, dass das Verfehlen grundlegender Kompetenzen gleichsam sozial „vererbt“ wird, kann auch die Weiterbildung nicht aufheben. Die Hoffnung, hier könnten Nachteile aus dem Schulsystem kompensiert werden, hat sich bis heute nicht erfüllt. Dabei sind viele Aktivitäten erkennbar, diese Situation zu verbessern: Bildungsabschlüsse lassen sich nachholen bei Volkshochschulen, Abendschulen und Kollegs sowie Fernunterrichtsinstituten (etwa 180 000 Teilnehmende pro Jahr). Seit einigen Jahren werden auch informell erworbene Kompetenzen erfasst (z.B. im „Profilpass“) und verwertet. Projekte wie „Brücke von der Schule zur Ausbildung“, „Deutsch für Personen mit Migrationshintergrund“, „Elternweiterbildung“ sind oft gute Ansätze, denen es jedoch an Förderung und systematischer Verbreitung fehlt. Vor allem mangelt es an einer verbindlichen Realität dessen, was mit dem Begriff „Lebenslanges Lernen“ gemeint ist – an einer systematischen Vernetzung Foto: ?????????????????? der Bildungsbereiche, die den biografischen Lernweg beglei- Ekkehard Nuissl ten, unterstützen und ermöglichen: Kita, Schule, Berufliche Bildung, Hochschule, Weiterbildung. In solch einem vernetzten System könnte Weiterbildung wichtige Beiträge leisten: in der Elternbildung, der beruflichen Bildung, der Migrantenfortbildung, der Öffnung von Schule, der Fachdidaktik, dem Lernen am Arbeitsplatz und im sozialen Umfeld. Wenn unterschiedliche Bildungsbereiche sich aufeinander beziehen und über die Lernenden definieren, kann es auch nicht passieren, dass ganze Kohorten „vergessen“ werden. Man geht heute mit Blick auf ganz Europa davon aus, dass der Anteil der Menschen mit mangelnder Grundbildung perspektivisch bei einem Viertel der gesamten europäischen Bevölkerung liegt. Es wäre fatal, wenn man diese Gruppe immer wieder vernachlässigt. Und es wäre fatal, wenn sich das Bildungssystem nicht insgesamt verantwortlich für einen lebenswerten Alltag und Beruf dieser Menschen einsetzen würde. Und das möglicherweise wiederum, ohne dass sich jemand aufregt. Ekkehard Nuissl, wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung (DIE) und Professor für Erwachsenenbildung an der Universität Duisburg-Essen Prämie des Monats Seite 5 Engagement kommt anderen zugute. Werben Sie im Dezember ein neues GEW-Mitglied und spenden Sie 30 Euro für ein internationales Hilfsprojekt. Es danken Ihnen: die GEW und ein Mensch, der Unterstützung braucht! Impressum Erziehung und Wissenschaft Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung · 62. Jg. Herausgeber: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund. Vorsitzender: Ulrich Thöne. Redaktion: Ulf Rödde (verantwortlich), Helga Haas-Rietschel. Redaktionsassistenz: Renate Körner. Postanschrift der Redaktion: Reifenberger Straße 21, 60489 Frankfurt a. M., Telefon (0 69) 7 89 73-0, Telefax (0 69) 7 89 73-202. Internet: www.gew.de Redaktionsschluss ist der 10. eines jeden Monats. Erziehung und Wissenschaft erscheint elfmal jährlich, jeweils am 5. des Monats mit Ausnahme der Sommerferien. Gestaltung: Werbeagentur Zimmermann, Heddernheimer Landstraße 144, 60439 Frankfurt Druck: apm AG, Kleyerstraße 3, 64295 Darmstadt. Für die Mitglieder ist der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten. Für Nichtmitglieder beträgt der Bezugspreis jährlich Euro 7,20 zuzüglich Euro 11,30 Zustellgebühr inkl. MwSt. Für die Mitglieder der Landesverbände Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saar, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen werden die jeweiligen Landeszeitungen der E&W beigelegt. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Rezensionsexemplare wird keine Verantwortung übernommen. Die mit dem Namen des Verfassers gekennzeichneten Beiträge stellen nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers dar. Verlag mit Anzeigenabteilung: Stamm Verlag GmbH, Goldammerweg 16, 45134 Essen, Verantwortlich für Anzeigen: Mathias Müller, Tel. (0201) 84300-0,Telefax (0201) 472590, anzeigen@stamm.de; www.erziehungundwissenschaft.de, gültige Anzeigenpreisliste Nr. 37 vom 1. 1. 2009, Anzeigenschluss ca. am 5. des Vormonats. E&W wird auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. ISSN 0342-0671
Zehn Jahre PISA – vor einer Dekade versetzte die erste PISA-Studie die Nation in Schockzustand. Nun liegt mit den Ergebnissen des PISA-Tests 2009, in dessen Zentrum erneut die Lesekompetenz steht, eine aktuelle Analyse unter dem Weihnachtsbaum der Kultusminister. Abzusehen ist: Frohe Botschaften werden darin kaum verkündet. Nach wie vor hat die Kultusministerkonferenz (KMK) ihre Hausaufgaben nur mangelhaft erledigt. Der größte Skandal des deutschen Schulsystems, die Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Herkunft der Kinder, besteht weiterhin. Schwerpunkt PISA Seite 6 ff. Gastkommentar Warum regt sich niemand auf? Seite 2 Impressum Seite 2 Auf einen Blick Seite 4 Titel: PISA 1. Zehn Jahre PISA: Auf das falsche Pferd gesetzt Seite 6 2. Interview mit Cordula Artelt: „Es liegt noch ein weiter Weg vor uns“ Seite 9 3. Wo bleibt das Positive? Interpretations-Wirrwarr um die PISA-Daten Seite 11 4. GEW-Mitgliederbefragung zur Lesekompetenz: „Viel geredet – wenig getan!“ Seite 12 Bildungspolitik 1. Ganztagsschulkongress: „Alle reden von ,Revolution‘“ Seite 13 2. Interview mit Eckhard Klieme: „Ein Coach an jede Schule“ Seite 14 3. Schulpsychologen: Warum weint ein Kind nach der Schule? Seite 18 4. Deutschland verstößt gegen UN-Sozialpakt Seite 25 Inklusion 1. Interview mit Vernor Muñoz: „Deutschland braucht ein inklusives Bildungswesen!“ Seite 15 2. GEW-Tagung „Profession braucht Inklusion“ Seite 17 Dialog: Zeitschrift für Seniorinnen und Senioren Seite 19 Foto: imago Liebe Leserin, lieber Leser! Wir wünschen Ihnen ein friedvolles und fröhliches, ein heiteres und besinnliches Weihnachtsfest – mit aufmerksamem und achtendem Blick für den Anderen. Möge das Jahr gut für Sie enden und 2011 mit Hoffnung und Zuversicht neu beginnen. Ihre E&W-Redaktion Gesellschaftspolitik 1. Kommentar zum Integrationsgipfel: Angst und Ignoranz Seite 23 2. Massiver Protest gegen Sozialabbau Seite 24 3. GEW-Kommentar: „Für einen politischen Kurswechsel“ Seite 24 Weiterbildung Herbstakademie: Was bringt Regionalisierung? Seite 26 Internationales Interview mit Jucara Maria Dutra Vieira und Fátima Aparecida da Silva: „Wir wollen die Schulpflicht verlängern“ Seite 27 Tarifpolitik 1. Interview mit Werner Balfer: „Einkommenssituation verbessert“ Seite 28 2. L-ego: Sondierungsgespräche vereinbart Seite 29 3. Leserdebatte: Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit! Seite 30 GEW-Intern 1. Mitgliederservice Seite 32 2. Immer noch ein Vorbild: Heinrich Rodenstein Seite 35 3. Spendenaufruf: Hilfe für Burkina Faso Seite 35 Leserforum Seite 36 Diesmal Seite 40 Titel: Werbeagentur Zimmermann Foto: zplusz Auf ein Wort ... DieGEWhatimvergangenen Jahr per Saldo über 6000 Mitglieder gewonnen. Auch 2010 hat sich die positive Entwicklung fortgesetzt. Vor allem während der Tarifauseinandersetzungen sind viele Kolleginnen und Kollegen in die Bildungsgewerkschafteingetreten. Damit geben wir uns aber nicht zufrieden. Die Verhandlungen über die Länder-Entgeltordnung (L-ego) für Lehrkräfte, aber auch das Engagement für ein inklusives Bildungssystem erfordern eine starke GEW. Denn wir wollen diese Auseinandersetzungen gewinnen! Dafür brauchen wir Ihre, Deine Unterstützung. In den nächsten Monaten werden jeder Ausgabe der „Erziehung und Wissenschaft“ zwei Flugblätter der Serie „Auf ein Wort, liebe Kollegin, lieber Kollege“ beigeheftet. Wir bitten alle Leserinnen und Leser, die Blätter herauszutrennen und über die Inhalte das persönliche Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsplatz oder im Bekanntenkreis zu suchen und diese für eine Mitgliedschaft in der GEW zu gewinnen. Herzlichen Dank für Ihre, Deine Unterstützung! Ulf Rödde, Redaktionsleiter der „Erziehung und Wissenschaft“ 12/2010 Erziehung und Wissenschaft 3
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Seite 31 und 32: setzt würde. Ein weiterer Grund, d
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