Forschungsreport Daten – Innovation – Privatheit
Mit Inverser Transparenz das Gestaltungsdilemma der digitalen Arbeitswelt lösen. Forschungsreport von Andreas Boes, Thomas Hess, Alexander Pretschner, Tobias Kämpf, Elisabeth Vogl (Hrsg.)
Mit Inverser Transparenz das Gestaltungsdilemma der digitalen Arbeitswelt lösen. Forschungsreport von Andreas Boes, Thomas Hess, Alexander Pretschner, Tobias Kämpf, Elisabeth Vogl (Hrsg.)
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
neuen Gefahren von Überwachung und Kontrolle wie auch
die gesellschaftlichen Potenziale einer neuen Qualität datenbasierter
Transparenz.
2.1 Was ist Informatisierung?
Das, was wir heute landläufig als „Transparenz“ oder „gläserne
Gesellschaft“ bezeichnen, ist soziologisch gefasst, Ausdruck
eines immer weiter fortschreitenden gesellschaftlichen
Prozesses der Informatisierung. Informatisierung beschreibt
zunächst sehr allgemein die Materialisierung von individuellem,
an einzelne Personen gebundenem Wissen in allgemein
nutzbare Informationen und deren systematische Erfassung
und Weiterverarbeitung in Informationssystemen (vgl. dazu
auch Boes 7 ). Frühe Beispiele dafür sind die Verschriftlichung
und der Buchdruck oder auch die Entwicklung der doppelten
Buchführung in den Handelsgesellschaften des ausgehenden
Mittelalters. Was auf den ersten Blick wie ein akademisches
Nischenthema erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung
als eine grundlegende Triebkraft der Entwicklung von
Arbeit und der gesellschaftlichen Produktivkräfte. Wie der
Einsatz immer neuer Werkzeuge – vom Hammer bis zu den
komplexen Maschinensystemen der „großen Industrie“ (Marx)
– die Handarbeit revolutionierte, bildet die Informatisierung
das Pendant für die historische Entfaltung der Produktivkräfte
von Kopfarbeit.
Im Kern geht es dabei darum, geistige Tätigkeiten zu
vergegenständlichen und in eine materielle Form zu bringen,
damit das, was – salopp formuliert – im Kopf eines Menschen
passiert, auch für andere Menschen anschlussfähig, nutzbar
und zugänglich wird: Aus personengebundenem Wissen wird
überindividuell nutzbare Information, aus situativen Beobachtungen
werden kontinuierliche Aufzeichnungen über die
Vorgänge in der Welt, die schließlich in Informationssystemen
immer weiter systematisiert werden und ein immer genaueres
Abbild der Welt erzeugen. Diese „Materialisierung des Informationsgebrauchs“
(Boes 7 , 215) schafft so zum Beispiel die Voraussetzung
dafür, dass auch geistige Tätigkeit „transparent“
und zu einem kollektiven Arbeitsprozess wird. Informatisierung
macht so kollektives Lernen, das systematische Aufbauen auf
den Erkenntnisfortschritten anderer und damit eine gesellschaftlich
organisierte Weiterentwicklung von Produktivkräften
erst möglich. Auch ihre Methoden, Verfahren und Techniken
selbst werden in der Folge immer wieder zum Gegenstand von
Innovation, Rationalisierung und Produktivitätsschüben.
2.2 Informatisierung und die Entwicklung
von Arbeit
Folgt man diesem Ansatz, hat der gesellschaftliche Prozess
der Informatisierung und die Erzeugung von Transparenz nicht
erst mit der Digitalisierung begonnen. Seine grundlegende
historische Bedeutung wird zum Beispiel deutlich im Zusammenspiel
mit der Herausbildung des Kapitalismus. Diese
ist eng verknüpft mit wichtigen Entwicklungsschüben auf
Seiten der Informatisierung wie etwa der Herausbildung der
doppelten Buchführung (siehe dazu z.B. Sombart 24 ). b Zugespitzt
formuliert: Ohne die Fortschritte der Informatisierung
sind der Aufstieg des Kapitalismus, die damit verbundenen
gesellschaftlichen Umwälzungen und die damit einsetzende
Entfaltung der Produktivkräfte kaum denkbar.
Auch die mit dem Kapitalismus einhergehende Industrialisierung
ist eng verbunden mit der Informatisierung. Sie
basiert nicht allein auf der sprichwörtlichen „Dampfmaschine“,
sondern zugleich auf einer sich parallel vollziehenden Informatisierung
der Wertschöpfungsprozesse. Komplementär zu
den gigantischen Maschinensystemen der „großen Industrie“
(Marx) wächst in der von Max Weber beschriebenen „bürokratischen
Organisation“ (1967) der Industrieunternehmen
ein regelrechter „papierner Apparat“ (Jeidels 18 ). In immer komplexer
werdenden Informationssystemen werden hier Daten
über die materielle Welt wie zum Beispiel die Auslastung der
Produktion oder die Fehlerhäufigkeit aufgezeichnet, systematisiert
und zu nutzbaren Informationen ausgewertet. Die
Informationssysteme werden so zu einem informatorischen
„Spiegel“ der Abläufe in der Organisation, die „Ströme aus Papier“
(Braverman 11 ) zum Pendant der Fließbänder in der Fabrik.
Sie dienen nun einer neu entstehenden und rasch wachsenden
Beschäftigtengruppe – den Angestellten in den Büros – dazu,
die Arbeitsprozesse ausgehend von der Informationsebene zu
planen, zu rationalisieren und zu kontrollieren. Der damalige
Präsident von General Motors, Alfred Sloan, verkündete schon
Anfang des 20. Jahrhunderts, auf dieser Grundlage das Unternehmen
„rein nach den Zahlen gesteuert zu haben“ (Womack
et al. 26 , 44 ).
Auch für die Gestaltung der Arbeitsabläufe selbst wird
die Informatisierung in den industriellen Großunternehmen zu
einem zentralen Ausgangspunkt. Dafür steht insbesondere die
„wissenschaftliche Betriebsführung“ des US-amerikanischen
Ingenieurs Frederick Taylor. Folgt man den Analysen von Harry
Braverman (siehe Braverman 11 ), geht es im „Taylorismus“ um
weit mehr als die berühmt gewordene „Zergliederung“ von
Arbeit. Vielmehr fußt Taylors Konzept auf drei eng mit der
Informatisierung verknüpften Grundprinzipien: der Loslösung
des unmittelbaren Arbeitsprozesses von den individuellen
Fertigkeiten der Arbeitenden, der Trennung von Planung und
27
II – BERICHTE