XPLR Magazin 02/2021
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HELLO FROM EVERYWHERE<br />
Julia Leeb<br />
Menschlichkeit in<br />
Zeiten der Angst<br />
Reportagen über die Kriegsgebiete<br />
und Revolutionen unserer Welt<br />
Suhrkamp<br />
Julia Leeb wurde in<br />
München geboren.<br />
Heute lebt sie abwechselnd<br />
dort und<br />
in Potsdam. 2<strong>02</strong>1<br />
erschienen ihre Reportagen<br />
„Menschlichkeit<br />
in Zeiten der Angst“<br />
im Suhrkamp Verlag.<br />
Sie sagten in einem Interview, Mama Masika sei die Person,<br />
die Sie in Ihrem Leben am meisten beeindruckt hat.<br />
Wer ist sie?<br />
Mama Masika aus dem Kongo hat das Schlimmste erlebt, was<br />
man als Mensch und als Frau erleben kann. Sie wurde mehrfach<br />
vergewaltigt und musste zusehen, wie ihre Kinder vergewaltigt<br />
wurden und ihr Mann umgebracht wurde. Eine Vergewaltigung<br />
ist nicht nur eine körperliche Misshandlung, sondern auch eine<br />
seelische Vernichtungstat. Mama Masika hätte allen Grund gehabt,<br />
für den Rest ihres Lebens zu hassen, sich zu rächen oder wie<br />
viele andere Frauen Autoaggressionen aufzubauen. Aber sie hat<br />
sich entschieden, sich dem Guten zuzuwenden, und ein Heim für<br />
Tausende Vergewaltigungsopfer gebaut, die dort sicher und stark<br />
sein können. Mama Masika hat ein Tabu gebrochen: Sie hat begonnen,<br />
die Täter zu stigmatisieren und nicht die Opfer.<br />
„Für Frauen ist der Krieg nicht vorbei, wenn die letzte Bombe<br />
gefallen ist“, schreiben Sie in Ihrem Buch. Warum interessieren<br />
Sie vor allem die Frauen in Kriegsgebieten?<br />
Extremsituationen verstärken die guten und schlechten Seiten<br />
aller Menschen. Im Krieg gibt es Leute, die töten, und Leute, die<br />
heilen und trösten, die lehren, Geschichten erzählen, Zuversicht<br />
spenden, die vergeben können. Letztere denken ans Große und<br />
Ganze. Und meiner Erfahrung nach gehören zu dieser Gruppe viele<br />
Frauen. Sie haben bei Verhandlungen meist nichts zu melden,<br />
das ist für mich nicht nachvollziehbar. Es sind meist die Täter, die<br />
das Sagen haben. Die, die zerstört haben, und nicht die, die aufrechterhalten.<br />
Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, diese Menschen<br />
ins Licht zu stellen und die echten Held:innen zu zeigen.<br />
Zu Ihren Vorbildern zählt unter anderem die Fotografin Anja<br />
Niedringhaus. Sie kam bei der gleichen Arbeit, die Sie tun,<br />
um. Ist die Angst vor dem Tod in Ihrer Arbeit präsent?<br />
Julia Leeb<br />
dokumentiert<br />
Schicksale wie<br />
das von Mama<br />
Masika. Sie<br />
hat im Kongo<br />
ein Heim für<br />
Vergewaltigungsopfer<br />
gegründet<br />
– und dabei<br />
übermenschliche<br />
Kräfte<br />
bewiesen.<br />
Jeder will überleben, das haben Menschen so an sich. Man muss<br />
einen Weg finden, mit der Angst umzugehen, sonst ist man gehemmt.<br />
Ich hätte nie gedacht, dass Anja<br />
Niedringhaus etwas passiert. Sie wurde<br />
2014 einen Tag vor der afghanischen Präsidentschaftswahl<br />
umgebracht. Die Wahl<br />
galt nicht als sehr gefährlich. Das zeigt,<br />
dass dieser Beruf unkontrollierbar ist, egal,<br />
wie lange man ihn ausübt und wie gut<br />
man sich auskennt.<br />
Sie schreiben auch, Sie reisen nicht,<br />
um vom Krieg zu erzählen, sondern um<br />
davon zu erzählen, was der Krieg mit<br />
den Menschen macht. Was haben alle<br />
Konflikte gemein?<br />
Was man sagen kann, ist, dass die meisten<br />
Kriege mit Ressourcen und Macht zu tun<br />
haben. Menschen sind überall wunderbar<br />
und brutal, sie können vergeben und vernichten,<br />
verunsichern und trösten. Dem<br />
Geheimnis Mensch komme ich einfach<br />
nicht auf die Schliche.<br />
Kennen Sie auch kreative Krisen,<br />
Prokrastination und Passivität?<br />
In meinem Kopf zumindest geht es immer<br />
voran, ich habe tausend Ideen und<br />
viele Projekte. Das ist manchmal ein Fluch,<br />
aber meistens ein Geschenk. Was mich<br />
frustriert, ist, wenn Projekte an der Bürokratie<br />
scheitern. Ich arbeite aber international<br />
mit tollen Leuten zusammen, die<br />
fast immer einen Weg finden.<br />
Wie gehen Sie mit Widerständen um?<br />
Mein ganzes Leben wurde mir gesagt:<br />
„Das geht nicht.“ Ich kann keine 360-Grad-<br />
Filme machen, ich kann dort nicht hinfahren,<br />
weil es keine Infrastruktur gibt oder<br />
weil ich eine Frau bin. Wenn ich darauf<br />
gehört hätte, würde ich heute noch warten.<br />
Ich wollte zum Beispiel in die Nuba-<br />
Berge im Sudan. Das geht nicht, es gibt<br />
keine Flüge, hieß es. Ein Frachtflugzeug<br />
brachte aber Medikamente in die Region.<br />
Und dann ging es eben doch.<br />
Sie haben unzählige Länder bereist.<br />
Wie würden Sie Heimat für sich beschreiben?<br />
W<br />
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