Das Erlebnis Journal_2_2022
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und berühmt zu werden. Den Gedanken hatte ich nie, weil es sehr anstrengend
ist, populär zu sein. Es hat viele Vorteile, aber auch sehr viele Nachteile.
DIE ESSENER SONGTAGE VON 1968 – MIT GURU GURU GROOVE,
TANGERINE DREAM UND AMON DÜÜL – GELTEN ALS COMING OUT
DER ROCK-KULTUR IN DEUTSCHLAND. SIND SIE DABEI GEWESEN?
Westernhagen: Nein, ich bin erst durch meine Filmerei aus Düsseldorf
wirklich rausgekommen. Ich bin das erste Mal geflogen mit 17 Jahren
für einen Dreh im italienischen Touristenort Alassio. Ich spielte einen
Sporttaucher, obwohl ich gar nicht schwimmen konnte.
UM DAS NEUE ALBUM „DAS EINE LEBEN“ ZU SCHREIBEN, MUSS-
TEN SIE AUCH FLIEGEN – UND ZWAR NACH SÜDAFRIKA. WIE
HABEN SIE DORT DIE PANDEMIE ERLEBT?
Westernhagen: Der Lockdown war strenger in Südafrika, man durfte
noch nicht einmal Spazieren gehen, geschweige denn einen Hund
ausführen. Man saß also im Haus und wurde gezwungen, über sein
Leben zu reflektieren. Irgendwann fing ich an aufzuschreiben, was
ich so beobachtete. Ich bin jemand, der sehr genau und tief über Dinge
nachdenkt. Wenn Songs in einem gewissen Zeitraum entstehen,
entsteht auch eine Dramaturgie. Ich finde, es ist die Aufgabe von
Künstlern, sich einzumischen und die Realität zu reflektieren.
„GOTT HAT ES NIE GEGEBEN/ER IST NUR EINE ILLUSION/UM
SICH SELBER ZU VERZEIHEN ... GLAUBT SELBSTVERLIEBT AN DIE
SCHAMLOSEN LÜGEN DERER, DIE ÜBER DIE MACHT VERFÜGEN“.
DIESE ZEILEN AUS „ACHTERBAHNGEDANKEN“ WIRKEN SEHR
AKTUELL, ABER DEN KRIEG IN DER UKRAINE KONNTEN SIE
JA NICHT AHNEN, ODER?
Westernhagen: Ich habe das schon vor über einem Jahr geschrieben. Es
sieht erst einmal aus, als wäre es prophetisch, aber das ist Blödsinn. Ich
kann einfach nur diese Entwicklungen sehen. Ich glaube nicht, dass die
Politik die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat, aber sie hat sie ignoriert.
ABER WAS JETZT GERADE PASSIERT, HAT SICH NIEMAND IN
SEINEN DUNKELSTEN FANTASIEN VORSTELLEN KÖNNEN.
Westernhagen: Die Politik muss sich davon verabschieden, zu denken,
dass alles, was diese Herrschaften machen auch wirklich Sinn ergibt.
Alle Amerikaner, die ich persönlich kenne, haben damals gesagt,
Trump werde niemals gewählt werden. Aber er ist gewählt worden,
was absolut keinen Sinn ergibt. Der Krieg in der Ukraine macht für
die Russen geopolitisch Sinn, weil sie unbedingt den Zugang zum
Meer wollen, aber ihre Zerstörungswut ist durch nichts zu rechtfertigen.
Vom Westen sind aber auch klare Fehler gemacht worden. Warum hat
er nie vorgeschlagen, dass die Ukraine ein neutraler Staat bleibt und
darüber verhandelt? Der Westen begreift das von Putin verkörperte
russische Machotum nicht. Dass eine einzige Person das ganze Weltgefüge
durcheinanderbringen kann, ist viel zu gefährlich.
DER SONG „SPIEGLEIN, SPIEGLEIN AN DER WAND/WER IST
DER MÄCHTIGSTE IN DIESEM LAND“ LIEST SICH WIE
DAS PSYCHOGRAMM EINES AUTOKRATEN. HABEN SIE BEIM
SCHREIBEN AN EINE KONKRETE PERSON GEDACHT?
Westernhagen: Nein. Was mich wütend macht ist, wenn Impfgegner
erzählen, uns werde ein Chip unter die Haut gelegt, damit man
uns total überwacht. Die Überwachung ist ja längst passiert – durch
Facebook und andere Tech-Companies. Wir sind gläsern. Es gibt
nichts, was sie von jedem einzelnen nicht wissen. Mehr überwacht,
durchleuchtet und manipuliert zu werden als wir geht gar nicht.
In der Politik passiert das genauso. Wir waren alle nicht vorbereitet
auf die digitale Revolution. Die Menschen verlieren ihre Aufmerksamkeit
und können keinen Film mehr konzentriert gucken. Die
sozialen Medien überfordern uns. Man kann gar nicht so viel speichern,
wie man eigentlich müsste und vergisst wichtige Dinge. Kein Mensch
formuliert mehr eigene Gedanken; es ist alles zitiert, weil man irgendwo
irgendwelchen Mist gelesen hat und sich dann da dranhängt. Das
könnte durchaus das Ende der Demokratie sein.
GIBT ES IHRER MEINUNG NACH EINEN WEG ZURÜCK?
Westernhagen: Man kann sich dem kaum entziehen, weil es einen
Weg zurück nicht gibt. Die sozialen Medien brauchen Regeln, weil man
durch sie eine rechtsfreie Zone geschaffen hat. Da, wo keine Regeln
sind, gibt es Chaos.
SIND SIE SELBER AUF FACEBOOK UND CO AKTIV?
Westernhagen: Es gibt von der Plattenfirma diese Portale, aber ich
verlange, dass sie rein als Werbung genutzt werden. Ich habe auch
kein Interesse an dem Privatleben anderer. Privatsphäre ist für mich
das höchste Gut. Posts wie „Ich bin gerade auf Mallorca“ produzieren
negative Gefühle wie Neid, aber auch Narzissmus oder Voyeurismus.
KANN MAN DIESE CHAOTISCHEN ZEITEN NUR ERTRAGEN,
INDEM MAN SICH BESÄUFT, WIE SIE ES IN „SCHNEE VON GESTERN“
SO ANSCHAULICH BESCHREIBEN?
Westernhagen: (lacht) Man kann es ertragen, indem man neugierig
und ehrlich bleibt und sich da informiert, wo man glaubt, Tatsachen
geliefert zu bekommen. Indem man bei sich bleibt und sich nicht
in diesen Strom hinein begibt. Es hat auch etwas mit dem extremen
Kapitalismus zu tun. So wie der Kommunismus gescheitert ist,
wird auch der Kapitalismus irgendwann scheitern. Ich bin nicht der
Meinung, dass alle Menschen das Gleiche besitzen sollten, aber
was mich in der Welt insgesamt stört, ist die extreme Unfairness. Wir
sind einfach eine verwöhnte degenerierte Gesellschaft. Zum Beispiel
das Theater um die Masken. Masken haben nichts mit Freiheitsbeschränkung,
sondern mit Notwendigkeit zu tun. Die Leute sollten
mal anfangen nachzudenken und gesunden Menschenverstand zu
entwickeln. »
the finest lifeart | 89