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Wilfried Härle: Aus ethischer Sicht (Leseprobe)

»Was sollen wir tun?« Das ist die Frage, die den ethischen Blick auf das Leben leitet. Orientiert man sich bei der Beantwortung dieser Frage allein an in den Massenmedien vertretenen Meinungen, wird man nicht zu einer eigenverantwortlichen ethischen Auffassung gelangen. Denn um die zu erreichen, muss man sich einerseits Klarheit über ethische Grundbegriffe wie »Freiheit«, »Verantwortung«, »Menschenwürde« und »Gewissen« verschaffen, andererseits ist es unverzichtbar, konkrete ethische Herausforderungen zu analysieren, die sich uns im Leben stellen: zum Beispiel »Altersdemenz«, »Schuld und Vergebung«, »Krieg und Frieden« oder »Beihilfe zur Selbsttötung«. Diese Güstrower Vorträge bieten zu beidem ihren Beitrag, und zwar so, dass dabei erhellende Zusammenhänge sichtbar werden. Sie wurden zwischen 2015 und 2021 anlässlich der Güstrower Herbstgespräche gehalten und fanden beachtliche positive Resonanz.

»Was sollen wir tun?« Das ist die Frage, die den ethischen Blick auf das Leben leitet. Orientiert man sich bei der Beantwortung dieser Frage allein an in den Massenmedien vertretenen Meinungen, wird man nicht zu einer eigenverantwortlichen ethischen Auffassung gelangen. Denn um die zu erreichen, muss man sich einerseits Klarheit über ethische Grundbegriffe wie »Freiheit«, »Verantwortung«, »Menschenwürde« und »Gewissen« verschaffen, andererseits ist es unverzichtbar, konkrete ethische Herausforderungen zu analysieren, die sich uns im Leben stellen: zum Beispiel »Altersdemenz«, »Schuld und Vergebung«, »Krieg und Frieden« oder »Beihilfe zur Selbsttötung«.
Diese Güstrower Vorträge bieten zu beidem ihren Beitrag, und zwar so, dass dabei erhellende Zusammenhänge sichtbar werden. Sie wurden zwischen 2015 und 2021 anlässlich der Güstrower Herbstgespräche gehalten und fanden beachtliche positive Resonanz.

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1 Verständigung über den Gewissensbegriff<br />

1.3 Kants entgegengesetzter Irrtum<br />

Kant hat demgegenüber in aller Deutlichkeit gesagt, dass<br />

das Gewissen nicht zuständig sei für die Frage, ob eine<br />

Handlung oder eine Handlungsregel ethisch richtig ist,<br />

das sei vielmehr eine Aufgabe der praktischen Vernunft.<br />

Beim Gewissen gehe es hingegen nur um die Frage, ob ich<br />

eine Handlung „mit meiner praktischen ... Vernunft zum<br />

Behuf [= Zweck] jenes Urteils verglichen habe“ – und darin<br />

„kann ich nicht irren, weil ich alsdann praktisch gar nicht<br />

geurteilt haben würde“ 7 .<br />

Kant zielt mit dieser <strong>Aus</strong>sage meines Erachtens zwar<br />

in die richtige Richtung, geht dabei aber einen entscheidenden<br />

Schritt zu weit, und zwar dadurch, dass bei ihm der<br />

Anschein entsteht, als beurteile das Gewissen nur, ob eine<br />

innere Prüfung der Handlung anhand des eigenen Normbewusstseins<br />

(der praktischen Vernunft) überhaupt stattgefunden<br />

habe und ob diese gründlich, d. h. „mit aller Behutsamkeit“,<br />

vorgenommen worden sei. 8 Aber wenn Kant<br />

damit Recht hätte, dann müssten wir zum Beispiel dann<br />

ein gutes Gewissen haben, wenn wir eine Handlung sorgfältig<br />

auf ihr ethisches Gutsein hin geprüft hätten, auch<br />

wenn wir dabei zu einem negativen Ergebnis gekommen<br />

wären. Denn das hieße ja: Ich habe die Handlung sorg-<br />

7) I. Kant, Metaphysik der Sitten, (s. Anm. 1), Tugendlehre A 38.<br />

8) So I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (s.<br />

Anm. 1), A 288. Schon durch den Zusatz, dass diese Prüfung „mit aller<br />

Behutsamkeit“ stattgefunden haben müsse, nennt Kant freilich eine<br />

Bedingung, im Blick auf deren Erfülltsein man sich sehr wohl irren kann.<br />

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