05.09.2022 Aufrufe

Pico della Mirandola (Herausgegeben und kommentiert von Jörg Lauster): Über die Würde des Menschen (Leseprobe)

»Phönix der Geister« nannten ihn seine Zeitgenossen, von einem Mozart für Philosophen spricht einer seiner besten Kenner in der Gegenwart. Pico della Mirandola wurde in seinem kurzen Leben vor allem für eine Rede berühmt, die ihn der Papst nie halten ließ, die »Oratio de hominis dignitate«. Sie gilt als ein Glanzpunkt des Menschenverständnisses der Renaissance, das tief in der christlichen Tradition wurzelt. Pico interpretiert die Erschaffung zur Gottebenbildlichkeit als Auftrag, das Menschsein in freier Selbsttätigkeit als Angleichung an Gott zu gestalten. Seine Einsichten zu Menschenbild und idealer Lebensführung stützt er auf ein umfassend philosophisch-theologisches Programm, das nicht nur Christentum, antike Philosophie und Weisheitstraditionen, sondern auch Christentum und Judentum miteinander versöhnen will.

»Phönix der Geister« nannten ihn seine Zeitgenossen, von einem Mozart für Philosophen spricht einer seiner besten Kenner in der Gegenwart. Pico della Mirandola wurde in seinem kurzen Leben vor allem für eine Rede berühmt, die ihn der Papst nie halten ließ, die »Oratio de hominis dignitate«. Sie gilt als ein Glanzpunkt des Menschenverständnisses der Renaissance, das tief in der christlichen Tradition wurzelt.
Pico interpretiert die Erschaffung zur Gottebenbildlichkeit als Auftrag, das Menschsein in freier Selbsttätigkeit als Angleichung an Gott zu gestalten. Seine Einsichten zu Menschenbild und idealer Lebensführung stützt er auf ein umfassend philosophisch-theologisches Programm, das nicht nur Christentum, antike Philosophie und Weisheitstraditionen, sondern auch Christentum und Judentum miteinander versöhnen will.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Über</strong> <strong>die</strong> <strong>Würde</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> (De hominis dignitate)<br />

gung alles unterscheidet, kannst du ihn verehren: er ist ein<br />

himmlisches Lebewesen, kein irdisches. Wenn du aber einen<br />

reinen Betrachter siehst, der <strong>von</strong> seinem Körper nichts weiß,<br />

ins Innere seines Geistes zurückgezogen, so ist der kein irdisches,<br />

kein himmlisches Lebewesen; er ist ein erhabeneres,<br />

mit menschlichem Fleisch umhülltes göttliches Wesen.<br />

Sollte also irgendjemand den <strong>Menschen</strong> nicht bew<strong>und</strong>ern?<br />

Der mit vollem Recht in der mosaischen <strong>und</strong> der christlichen<br />

Heiligen Schrift bald durch <strong>die</strong> Nennung „alles Fleisch“,<br />

bald „alle Kreatur“ bezeichnet wird, da er sich selbst doch zur<br />

Gestalt jeden Fleisches, in <strong>die</strong> Eigenart jeder Kreatur ausformt,<br />

verfertigt <strong>und</strong> in sie verwandelt. Deswegen schreibt<br />

der Perser Euantes, wo er <strong>die</strong> chaldäische Theologie erklärt,<br />

der Mensch habe keine eigene <strong>und</strong> angeborene Gestalt, aber<br />

viele fremde <strong>und</strong> <strong>von</strong> außen kommende. Daher das Wort<br />

der Chaldäer: „Enōsh hu shǐnnūim vekammah teˇbhāo c th baa c l<br />

haj“ das heißt der Mensch ist ein Lebewesen <strong>von</strong> verschiedenartiger,<br />

vielgestaltiger <strong>und</strong> sprunghafter Natur. Aber wozu<br />

<strong>die</strong>s? Damit wir verstehen: da wir unter der Bedingung geboren<br />

worden sind, dass wir das sind, was wir sein wollen, müssen<br />

wir am ehesten dafür sorgen, dass man nicht <strong>von</strong> uns sagt,<br />

als wir in Ansehen standen, hätten wir nicht erkannt, dass<br />

wir dem vernunftlosen Vieh ähnlich geworden seien. Sondern<br />

vielmehr das Wort <strong>des</strong> Propheten Asaph: „Ihr seid alle Götter<br />

<strong>und</strong> Söhne <strong>des</strong> Höchsten“, damit wir uns <strong>die</strong> freie Wahl,<br />

<strong>die</strong> uns Gottvater gegeben hat, nicht durch Missbrauch seiner<br />

gütigen Großzügigkeit <strong>von</strong> etwas Heilsamem zu etwas<br />

Schädlichem machen. Ein heiliger Ehrgeiz dringe in unsere<br />

Seele, dass wir, nicht zufrieden mit dem Mittelmäßigen, nach<br />

dem Höchsten verlangen <strong>und</strong> uns mit ganzer Kraft bemühen,<br />

es zu erreichen — denn wir können es, wenn wir wollen. Lasst<br />

uns das Irdische verschmähen, das Himmlische verachten,<br />

19

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!