Demokratie lernen - Beteiligung erfahren
GSa 159 September 2022
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Thema: <strong>Demokratie</strong> <strong>lernen</strong> – <strong>Beteiligung</strong> <strong>erfahren</strong><br />
Hans Brügelmann<br />
Demokratische Bildung in einer<br />
demokratischen Grundschule 1<br />
„Ziel dieses Bildungsgangs ist die Fähigkeit zur Selbstbestimmung in der demokratischen<br />
Gesellschaft und dieses Ziel ist vom ersten Schultage ab anzustreben.“<br />
So formulierte Erwin Schwartz (1969, 49) bereits im Jahr der Gründung des<br />
(heutigen) Grundschulverbands einen zentralen Anspruch an die Grundschule,<br />
wie Horst Bartnitzky (2019, 31) in seinem Rückblick auf die Reformgeschichte<br />
der Grundschule berichtet. Es ging Erwin Schwartz schon damals um „ein<br />
demokratie-pädagogisches Leben und Lernen in der Klasse und an der Schule. Die<br />
Schule und eben auch schon deren Grundstufe solle zu einem Lernfeld für eine sich<br />
demokratisierende Gesellschaft werden“.<br />
In der Grundschulpädagogik und<br />
-didaktik nach dem zweiten Weltkrieg<br />
war demokratische Bildung<br />
allerdings lange Zeit kein Thema. Erste<br />
Veröffentlichungen erschienen Ende der<br />
1960er- (Düring 1968) und Anfang der<br />
1970er-Jahre (Beck 1972). Schmitt u. a.<br />
(1976) waren damals Pioniere mit ihrem<br />
Projekt zum sozialen Lernen, das als<br />
„Eine Welt in der Schule“ bis heute wirksam<br />
ist – mit dem Grundschulverband<br />
als Träger. Seine Leitideen („Toleranz –<br />
Kooperation – Solidarität“) machen<br />
deutlich, dass es in der demokratischen<br />
Bildung nicht nur um Wissen über politische<br />
Sachverhalte geht. Die Entwicklung<br />
grundlegender Konzepte und<br />
Einstellungen der Grundschulkinder<br />
sind wichtige Schritte auf dem Weg zu<br />
zunehmend differenzierteren politischen<br />
Vorstellungen und Haltungen.<br />
Dabei gibt es schon seit den reformpädagogischen<br />
Versuchen der 1920er–Jahre<br />
eine Tradition politischer Bildung in<br />
der Grundschule, die nicht über Inhalte<br />
des Heimatkunde- und Sachunterrichts,<br />
sondern in der Gestaltung des Schullebens<br />
sichtbar wird. Flitner (1992, Kap. 5)<br />
nennt zwei Ansätze: die Gemeinwesen-<br />
Schule, die sich zur politischen Gemeinde<br />
hin öffnet, auch an ihrem Leben teilhat<br />
– heute wiederbelebt bzw. re-importiert<br />
aus dem angelsächsischen Schulwesen<br />
als „community school“ –, und als<br />
zweites die Idee der Kinderrepublik, die<br />
als „embryonic society“ (Dewey) Formen<br />
echter Selbst- und Mitbestimmung<br />
der Schüler*innen erfahrbar macht.<br />
In diesen reformpädagogischen Ansätzen<br />
finden sich schon eine Reihe<br />
konkreter Einrichtungen, die heute für<br />
die Gestaltung des Schullebens (wieder)<br />
an Bedeutung gewinnen – auch in der<br />
Grundschule: der Klassenrat, die Schulgemeinde<br />
bzw. -versammlung, das Schülergericht.<br />
Verbreitet haben sich diese Formen<br />
einer stärkeren Selbst- und Mitbestimmung<br />
von Kindern in der Grundschule<br />
aber erst seit der Jahrhundertwende<br />
(Bartnitzky 2019, 563ff.) – mit wichtigen<br />
Impulsen aus dem BLK-Modellprogramm<br />
„<strong>Demokratie</strong> <strong>lernen</strong> und leben“<br />
(Edelstein/Fauser 2001), aus dem<br />
Projekt „Mit Kindern gemeinsam<br />
Schule entwickeln: <strong>Demokratie</strong> <strong>lernen</strong>“<br />
(Burk u. a. 2003) und von der Siegener<br />
Tagung „Demokratische Grundschule“<br />
und ihrer Dokumentation (Backhaus<br />
u. a. 2008).<br />
In den Richtlinien und Bildungsplänen<br />
der Bundesländer für den Sachunterricht<br />
finden sich auch noch nicht<br />
lange – und meist nur punktuell – Inhalte<br />
politischer Bildung. Inzwischen<br />
hat die Bundeszentrale für politische<br />
Bildung (2008) unter dem Titel „<strong>Demokratie</strong><br />
verstehen <strong>lernen</strong>“ elf Bausteine zur<br />
politischen Bildung in der Grundschule<br />
veröffentlicht und aktuell ist ein weiterer<br />
Band zu diesem Thema avisiert (Lange/<br />
Baumgardt 2021). Zudem wurden und<br />
werden heute in Konzeptionen für den<br />
Sachunterricht häufiger Machtfragen<br />
und Konflikte zum Thema gemacht, anders<br />
als im Heimatkundeunterricht in<br />
den ersten beiden Jahrzehnten nach dem<br />
2. Weltkrieg.<br />
Gehört demokratische Bildung<br />
schon in die Grundschule?<br />
Parallel hat sich eine Forschung zur<br />
politischen Sozialisation von Kindern<br />
etabliert (z. B. im Anschluss an van Deth<br />
u. a. 2007) und es wurden Konzepte zu<br />
ihrer Förderung entwickelt (vgl. die Beiträge<br />
zu Edelstein u. a. 2014), die für<br />
die Grundschulpädagogik und -didaktik<br />
einige grundlegende Einsichten<br />
erbracht haben (ausführlicher Brügelmann<br />
2019):<br />
● Schon Kinder entwickeln politisch<br />
relevante Vorstellungen und Haltungen<br />
– und diese können in der Grundschule<br />
Kinder sind nicht als zu „formende“ Objekte<br />
zu sehen, sondern sollen von der Schule bei der<br />
Entwicklung ihrer Haltungen und Kompetenzen<br />
unterstützt werden.<br />
über pädagogisch geplante Aktivitäten<br />
bzw. die Gestaltung der Lern- und Lebensbedingungen<br />
beeinflusst werden.<br />
Kinder sind dabei nicht als zu „formende“<br />
Objekte zu sehen, sondern als<br />
selbstständige Persönlichkeiten, die<br />
von der Schule bei der Entwicklung<br />
ihrer Haltungen und Kompetenzen<br />
unterstützt werden<br />
● Politische Bildung leistet einen Teil-<br />
Beitrag zum Zusammenspiel von expliziten<br />
und impliziten, intentionalen und<br />
beiläufigen Sozialisationsprozessen. Sie<br />
kann nur wirksam werden, wenn sie<br />
sich nicht auf fachliche Beiträge zum<br />
Sachunterricht beschränkt, sondern<br />
auch als Unterrichtsprinzip (in allen<br />
Fächern bzw. Lernbereichen) ausgelegt<br />
wird sowie selbst- bzw. mitbestimmte<br />
Arbeitsformen im Unterricht und<br />
ernsthafte Möglichkeiten zur Mitwirkung<br />
im Schulleben einschließt.<br />
GS aktuell 159 • September 2022<br />
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