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29. November 2022

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<strong>29.</strong><strong>November</strong> <strong>2022</strong><br />

Adventsgeschichte<br />

25<br />

sagte eine Stimme mit einem<br />

deutlichen Akzent. Da stand<br />

doch wahrhaftig Al Ain Ben Oit<br />

vor der Türe. Verdutzt, verdattert<br />

und verwundert blieben Annegreth<br />

und Ernesto eine ganze<br />

Weile stehen. «Ach backen wie<br />

wir können Sie auch noch»,<br />

meinte Annegreth wenig später.<br />

«Verzeihung, ich verstehe nicht<br />

ganz? Haben sie auch gebacken?»,<br />

fragte der Fremde nach<br />

und hielt noch immer den Teller<br />

mit drei verschiedenen Biscuitsorten<br />

auf der Hand. «Ja natürlich,<br />

aber bei ihnen ist das vermutlich<br />

ja nicht Teil ihrer Kultur»,<br />

sagte Ernesto und griff mit<br />

der linken Hand in seine Hose. Al<br />

Ain musterte diese Bewegung einigermassen<br />

amüsiert. Zweifelslos<br />

hätte man diese Hand im<br />

Schritt bei einem jüngeren Italiener<br />

vermuten können, aber bei<br />

einem Mann, dessen Jahrgang<br />

vermutlich weit ins vorherige<br />

Jahrhundert zurückreichte, sah<br />

das doch ziemlich witzig aus.<br />

«Naja, wir sind zwar nicht von<br />

hier, aber dort wo wir herkommen,<br />

bäckt man auch», antwor-<br />

von hier Ernesto und doch backen<br />

auch sie Weihnachtsguetzli».<br />

«Komme ich aus Italien, da ist<br />

Rom, da ist der Vatikan, da ist sozusagen<br />

die Weihnachtsbäckerei<br />

zuhause, eh» sagte er und presste<br />

alle fünf Finger zusammen, als er<br />

mit der rechten Hand umherfuchtelte.<br />

«Und ich komme aus<br />

Fribourg, zwar nur ein Bistum,<br />

aber immerhin mit einer schönen<br />

Kathedrale». «Non e vero, sie<br />

sind doch Muslime», stiess Ernesto<br />

wütend hervor und fuchtelte<br />

nun mit beiden Händen. Er hatte<br />

gar nicht bemerkt, dass er dabei<br />

seine Pistole aus dem Schritt zog<br />

und diese nun wild durch die<br />

Luft wirbelte. Alain Ben Oit wich<br />

erschrocken zurück. «Oh scusi,<br />

ist nur zu unserem Schutz»,<br />

stammelte Ernesto etwas verlegen.<br />

«Der Name, sie heissen doch<br />

Al Ain Ben Oit», versuchte Annegreth<br />

wieder etwas Ruhe ins Gespräch<br />

zu bringen. Da lachte der<br />

Nachbar laut auf. «Ja, man kann<br />

es auch so betonen, aber wir sagen<br />

Alain Benoit». Ernesto liess<br />

langsam die Pistole sinken. Die<br />

Peinlichkeit stand den beiden ins<br />

Furcht entschuldigen können»,<br />

bat Annegreth. Alain tat wie ihm<br />

geheissen und wenig später standen<br />

die vier Nachbarn versammelt<br />

in der Stube. Der Plattenspieler<br />

beschloss just in diesem<br />

Moment «Volare» zu krächzen,<br />

worauf alle sechs in das Lied einstimmten.<br />

Das Gelächter und der<br />

Gesang erfülten die sonst so ritualisierten<br />

Räume mit viel Lebensfreude<br />

oder wie Ernesto sagen<br />

würde: italianita. «Nie hätten<br />

wir gedacht, dass sie aus Fribourg<br />

sind», meinte Annegreth<br />

schliesslich in die Richtung von<br />

Aischa. «Naja, das bin ich auch<br />

nicht. Ursprünglich komme ich<br />

aus Syrien», sagte sie. Augenblicklich<br />

wurde es muskmäuschen<br />

still im Haus. Ernesto war<br />

es, der nun mit dem Weinglas in<br />

der Hand umherfuchtelte und<br />

meinte: «Nur ein Fremdling, sagt<br />

man mit Recht, ist der Mensch<br />

hier auf Erden. Jeder von uns»,<br />

Johann Wolfgang von Göthe.<br />

«Ah, hört hört», lachte Alain und<br />

klopfte dem alten Mann auf die<br />

Schulter bis alle wieder lachen<br />

mussten. Es sollte nicht die letzte<br />

trachten», kommentierte sie. Ernesto<br />

stand auf und zeigte auf<br />

seinen Bademantel, an dessen<br />

Gürtel heute die Pistole fehlte.<br />

«Ich selbst war einmal fremd in<br />

diesem Land, es waren unsere<br />

Gewohnheiten, die uns so engstirnig<br />

gemacht haben. Lass uns<br />

für die verbleibenden Jahre tanzen»,<br />

sagte er stand auf und ging<br />

Richtung Plattenspieler. «La donna<br />

e mobile», schepperte ähnlich<br />

laut wie die Türklingel durch das<br />

Haus. Annegreth liess das Frühstück<br />

einfach auf dem Tisch stehen<br />

und begab sich Richtung Stube.<br />

Beim vorbeigehen am Eingang,<br />

erspähte sie kurz das Kalenderblatt<br />

23 und beschloss,<br />

dieses ab zu reissen und den<br />

Spruch vom 24. Dezember zu lesen,<br />

ehe sie in den Armen ihres<br />

Mannes tanzen wollte. Wa darauf<br />

stand, rief sie mit ihrer Sonoren<br />

Stimme aber laut durch die<br />

musikbeschallten Räume ihrem<br />

Mann zu: «Weihnachten kennt<br />

keine Grenzen. Es verbindet Kulturen,<br />

Geschlechter, Kinder und<br />

Erwachsene, Arm und Reich»,<br />

Gudrun Kropp. Sacha Jacqueroud<br />

tete er. «Ja aber sicherlich keine<br />

Weihnachtsguetzli», erwiderte<br />

Annegreth. «Wie kommen sie darauf?»,<br />

wollte Al Ain wissen.<br />

«Muslime sind keine Christen,<br />

die kennen keine Weihnachten».<br />

Die alte Frau nahm nun richtig<br />

Fahrt auf und Ernesto wurde immer<br />

nervöser. Einzig, die Pistole<br />

im Schritt gab ihm ein wenig Sicherheit.<br />

Doch die Biscuits konnten<br />

vielleicht vergiftet sein, eine<br />

Art Biowaffe und sie wären nun<br />

quasi die Testpersonen. Al Ain<br />

Ben Oit erkannte die Skepsis und<br />

Angst der beiden und wollte gerade<br />

umkehren, als er sich ein<br />

letztes Mal ein Herz fasste und<br />

meinte: «Sie sind doch auch nicht<br />

Gesicht geschrieben. In diesem<br />

Moment erblickte der Nachbar<br />

im Gang an der Wand den Spruch<br />

auf dem Zettel des 23. Dezembers:<br />

«Nur ein Fremdling, sagt<br />

man mit Recht, ist der Mensch<br />

hier auf Erden. Jeder von uns»,<br />

Johann Wolfgang von Göthe, las<br />

er vor. Ernesto beschloss, dass er<br />

nur mit viel italienischem Flair<br />

diese Peinlichkeit noch retten<br />

könnte, er nahm den Teller mit<br />

den Biscuits ab und bat den Gast<br />

ins Haus. Annegreth wusste, was<br />

zu tun war und schnitt den Panetone<br />

in ein paar Stücke, während<br />

Ernesto den Lambrusco öffnete.<br />

«Holen sie doch noch ihre Familie<br />

her, damit wir uns für unsere<br />

Flasche Lambrusco bleiben und<br />

am darauffolgenden Morgen, am<br />

24. Dezember, standen Annegreth<br />

und Ernesto für ihre Verhältnisse<br />

viel zu spät auf. Es war<br />

schon viertel nach sieben.<br />

«Gibst du mir mal die Butter»,<br />

sagte Ernesto wenig später am<br />

Frühstückstisch. «Nein», erwiderte<br />

Annegreth vergnügt. Als er<br />

sie verdutzt ansah und selbst<br />

versuchte die Butter zu erreichen,<br />

realisierte er den Witz. Sie<br />

hatte das kostbare Gut für die<br />

erste Schicht seines turmhohen<br />

Brotgebäudes bereits deutlich<br />

näher an seinen Teller geschoben.<br />

«Es ist nie zu spät, die Dinge<br />

zu ändern oder sie anders zu be-

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