29. November 2022
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>29.</strong><strong>November</strong> <strong>2022</strong> Kultur 39<br />
EIN HKB-PROFESSOR GIBT EINBLICK IN DIE WELT DER ÄSTHETIK UND KÜNSTE<br />
«Ohne Kunst verlieren<br />
wir uns»<br />
BETHLEHEM / BÜMPLIZ – In der<br />
ehemaligen Tuchfabrik an der<br />
Fellerstrasse 11 in Bethlehem ist<br />
die Hochschule der Künste Bern<br />
HKB einquartiert. Als einer von<br />
neun Berner Standorten beherbergt<br />
er die Direktion und Verwaltung,<br />
das interdisziplinäre Y<br />
Institut und die Fachbereiche<br />
Konservierung und Restaurierung<br />
sowie Gestaltung und<br />
Kunst. Auf der Bümplizer Seite<br />
der Bahnlinie Bern-Neuenburg,<br />
an der Schwabstrasse 10, ist der<br />
Standort des HKB-Masterstudiengangs<br />
Contemporary Arts<br />
Practice angesiedelt. Prof. Dr.<br />
Thomas Strässle ist Co-Leiter<br />
dieses Studiengangs sowie des<br />
Y Instituts. Im Interview lässt er<br />
die Lesenden in die Welt der Ästhetik<br />
eintauchen und verrät,<br />
welchen Stellenwert die Kunst<br />
für eine Gesellschaft hat.<br />
Thomas Strässle, was bedeutet<br />
Ästhetik für Sie?<br />
Der ursprüngliche Wortsinn von<br />
Ästhetik, «aisthesis», zeigt eine<br />
Ambivalenz: Es ist eine Form von<br />
Rezeption, von Wahrnehmung,<br />
aber auch die Lehre von den<br />
schönen Gegenständen. Die beiden<br />
Pole befruchteten sich gegenseitig.<br />
Ich bewegte mich schon<br />
immer in diesem Spannungsfeld<br />
zwischen der produzierenden<br />
Kunst und der rezeptiven, analytischen<br />
Wissenschaft. Und irgendwann<br />
merkte ich, wie wichtig<br />
die Darstellungsweise ist – die<br />
Art, wie etwas vermittelt wird.<br />
Wie kann ein Thema einem breiten<br />
Publikum zugänglich gemacht<br />
werden, ohne Konzessionen<br />
beim Inhalt und beim Anspruch<br />
zu machen? Ästhetik hat<br />
viel mit Stil zu tun, mit Klarheit<br />
und Schlankheit. Als Professor<br />
ermutige ich die Studierenden,<br />
ab und zu die Perspektive zu<br />
wechseln. So liess ich Germanistikstudierende<br />
zum Beispiel<br />
selbst Texte schreiben.<br />
Auch Laien lesen Ihre Publikationen.<br />
Wie kommt das?<br />
Ich merkte, dass ich als Kulturund<br />
Literaturwissenschaftler<br />
Themen bearbeite, die eigentlich<br />
ein grösseres Publikum ansprechen.<br />
Es gibt einen Echoraum, der<br />
reagiert. Anders, als wenn nur<br />
Thomas Strässle im hauseigenen Restaurant «Buffet nord».<br />
Wissenschaftler wissenschaftliche<br />
Publikationen lesen. Denn<br />
mit der Art der Darstellung kann<br />
viel gemacht und einem breiteren<br />
Publikum ein Zugang ermöglicht<br />
werden. Und da sind wir wieder<br />
bei der Ästhetik: Meine Publikationen<br />
müssen möglichst klar und<br />
schlank sein. Bei jedem Fremdwort<br />
überlege ich mir, ob es nicht<br />
ein deutsches Wort dafür gibt. Ein<br />
letzter Arbeitsschritt lautet «jäten»:<br />
Jedes Wort wird darauf geprüft,<br />
ob es wirklich gebraucht<br />
wird oder nicht. Es kommt nämlich<br />
nicht nur darauf an, was man<br />
vermittelt, sondern auch, wie<br />
man es tut.<br />
Welche Rolle spielt dieser gesellschaftliche<br />
Echoraum für die<br />
Kunsthochschule?<br />
Wir beschäftigen uns mit Fragen,<br />
die ins Zentrum der Gesellschaft<br />
hineinweisen. Nicht Schönheit,<br />
nicht künstlerische Konzepte,<br />
sondern Themen. Was heisst<br />
Wahrheit, was heisst Wahrhaftigkeit,<br />
was ist Lüge? So oft wurde<br />
den Leuten etwas vorgegaukelt.<br />
Mir gefällt an der Hochschule der<br />
Künste Bern, dass sehr viele Angestellte<br />
kleine Pensen haben. Somit<br />
haben wir eine permeable<br />
Struktur: Sie bringen alles aus ihren<br />
anderen Engagements mit<br />
rein und nehmen auch wieder<br />
vieles mit raus.<br />
Haben Kunstschaffende einen<br />
Aussenblick oder sind sie Teil der<br />
Welt?<br />
Bei der Kunst meint man oft, die<br />
Inspiration fliege einem im stillen<br />
Ausstellung im Obergeschoss.<br />
Kämmerlein zu. Das ist Quatsch.<br />
Sie hat viel mit Analyse zu tun,<br />
mit Üben, mit Technik und Organisation.<br />
Um Kunst zu produzieren,<br />
ist die Rezeption von Kunst<br />
wichtig – es ist Material, mit dem<br />
man gefüttert wird, woraus man<br />
schöpfen kann. Durch die Analyse<br />
erhält man ein Traditionsbewusstsein.<br />
Kunst ist eigentlich ein<br />
grosser Verdauungsvorgang der