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syndicom magazin Nr. 33

Das syndicom-Magazin bietet Informationen aus Gewerkschaft und Politik: Die Zeitschrift beleuchtet Hintergründe, ordnet ein und hat auch Platz für Kultur und Unterhaltendes. Das Magazin pflegt den Dialog über Social Media und informiert über die wichtigsten Dienstleistungen, Veranstaltungen und Bildungsangebote der Gewerkschaft und nahestehender Organisationen.

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Dossier<br />

«Wohl die grösste historische Leistung der Gewerkschaften<br />

war es, das Spiel der Arbeitsmigration durchschaut und die<br />

Fremdenfeindlichkeit bekämpft zu haben.» Oliver Fahrni<br />

11<br />

sende vor Hunger, Arbeitslosigkeit und Not, vor politischer<br />

Repression und Enge aus der Schweiz nach Europa<br />

und Übersee. Allein von 1880 bis 1890 waren es 90 000, danach<br />

pro Jahrzehnt rund 50 000. Private Auswanderungsbüros<br />

machten mit den Emigrant:innen und den Schweizer<br />

Kolonien fette Geschäfte. So bot etwa eine Basler<br />

«Agentur Zwilchenbart» 1883 per Inserat im Neuenburger<br />

Anzeiger «Transporte nach New York (1. September), Kanada<br />

(8. September), Labrador (15. September) und in die<br />

Normandie (22. September)» an. Ein «Eidgenössisches<br />

Auswanderungsamt» überwachte diese Migrationsbewegungen.<br />

Heute leben rund 800 000 Schweizer:innen im<br />

Ausland.<br />

Sie taten und tun, was Migrant:innen immer tun: Mit<br />

Fleiss bauten sie eine neue Existenz, kurbelten also die<br />

Ökonomie ihres neuen Lebensortes an. Immigration und<br />

Innovation waren schon immer eng verknüpft. So hätte es<br />

etwa ohne die geflüchteten französischen Hugenotten nie<br />

eine Schweizer Uhrenindustrie gegeben.<br />

Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte von<br />

Wanderungsbewegungen. Migration ist ein mächtiger<br />

Motor, sie ist die historische Normalität, seit sich der moderne<br />

Mensch aus Afrika aufgemacht hat, die Welt zu besiedeln.<br />

Eine neue Wissenschaft, die Archäogenetik, zieht<br />

heute aufregende Schlüsse wie den Nachweis, dass wir<br />

Europä er:innen alle mal sehr dunkelhäutig waren oder<br />

dass Einwanderungswellen aus Anatolien uns grundlegend<br />

geprägt haben. Nebenbei durchschauen wir den blutigen<br />

Schwindel aller Rassentheorien, weil es wissenschaftlich<br />

keine Rassen gibt. Und dass fast alle Menschen<br />

genetisch gut durchgemischt sind. Im Falle des Autors:<br />

1/4 Hugenotte. 1/4 Ostschlesier. 1/4 Roma (Zigeuner). 1/4<br />

Emmentaler. Ein ganz gewöhnlicher «Schweizer» also.<br />

Aber das ist eigentlich egal, Abstammung und Identitäten<br />

sind blosse Halluzinationen.<br />

Nicht die Rasse, die Klasse ist die Frage<br />

Migration wird oft erzwungen, durch Kriege, mörderische<br />

Regime und heute zunehmend durch Klimakatastrophen.<br />

Doch Migration regulierte auch Konflikte und minderte<br />

Hungersnöte. Alte Erzählungen und Gründermythen zeigen<br />

uns Emigration als Chance, als ein menschliches<br />

Grundrecht, in die Welt aufzubrechen und sich frei niederzulassen,<br />

wo das Leben milder oder interessanter<br />

scheint. Grenzen und Pässe sind neuere Erfindungen.<br />

Ab den 1950er-Jahren holten sich Konzerne massenweise<br />

billige Arbeitskräfte für Industrie und Bau, die<br />

Schweiz wandelte sich zum Einwanderungsland. Anwerbe-Büros<br />

in Italien, Jugoslawien, Spanien sorgten für den<br />

steten Nachschub an Arbeitenden, die eine neue Schweiz<br />

bauten. Diskriminierende Gesetze wie das Saisonnier-Statut<br />

und Kontingente drückten derweil die Löhne und hielten<br />

die Migrant:innen in der «Baracken-Schweiz» unterm<br />

Joch. Gleichzeitig begann der Aufstieg der ultrarechten<br />

«Wir Europäer:innen<br />

waren alle mal sehr<br />

dunkelhäutig.»<br />

Parteien, die eine angebliche «Überfremdung» zum Feindbild<br />

erklärten. Die Seuche Nationalismus und der Rassenwahn<br />

gedeihen im globalisierten Kapitalismus besonders<br />

prächtig. Das Kapital zirkuliert frei, die Menschen aber ersaufen<br />

im Mittelmeer oder bleiben in osteuropäischen<br />

Grenzzäunen hängen. Ex-Bundesrat und Milliardär Christoph<br />

Blocher verkörpert diese Schizophrenie: Bei jeder<br />

SVP-Initiative gegen Migration und Personenfreizügigkeit<br />

versicherte er seinen Kapitalistenfreunden in kleinem<br />

Kreis, sie würden selbstverständlich jede und jeden<br />

ausländischen Arbeitenden bekommen, den sie bräuchten.<br />

Die Ökonomie macht die Migration.<br />

Wohl die grösste historische Leistung der Gewerkschaften<br />

war es, dieses Spiel früh durchschaut und die<br />

Ausländerfeindlichkeit bekämpft zu haben – bis in die eigenen<br />

Reihen hinein. Sie haben nicht nur das Saisonnier-Statut<br />

gekippt, sie haben deutlich gemacht, dass die<br />

Politik der Rechten gegen die Migrant:innen in Wahrheit<br />

darauf zielte, sämtliche Arbeitenden, egal welcher Nationalität,<br />

unter Druck und die Löhne tief zu halten. Einziges<br />

Gegenrezept: Freier Personenverkehr und grenzüberschreitende<br />

Solidarität aller Arbeitenden – Klasse statt<br />

Herkunft.<br />

Die Rückkehr der Anwerbe-Büros<br />

Wie hart dieser Streit geführt wird, enthüllte ein Zwischenfall<br />

im Sommer 2022. Die Eidgenössische Finanzaufsicht,<br />

die den Interessen des Kapitals ganz ergeben ist,<br />

ritt einen scharfen Angriff auf die Lohnkontrollen im Rahmen<br />

der Flankierenden Massnahmen (FLAM). Die FLAM<br />

sollen Lohn- und Sozialdumping der Firmen verhindern<br />

(«Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort»). Das<br />

sichert die Zustimmung der Bevölkerung zur Personenfreizügigkeit.<br />

Internationale Konzerne, aber auch die<br />

Lobbyverbände Economiesuisse und Avenir Suisse wollen<br />

die Lohnkontrollen kippen.<br />

Kurz vor Jahresende reiste ein Manager des Kantonsspitals<br />

Aarau nach Rom, um dort per Casting Pflegepersonal<br />

und Ärzt:innen zu rekrutieren. Nicht erst seit der Covid-Epidemie<br />

laviert unsere Gesundheitsversorgung am<br />

Rande des Zusammenbruchs. Tausende ausländischer<br />

Spezialist:innen haben ihn bisher verhindert. In manchen<br />

Kantons- und Unispitälern sind eingewanderte Mediziner:innen<br />

in der Mehrzahl. Ursache ist die neoliberale<br />

Sparpolitik – die Schweiz bildet zu wenig Fachpersonen<br />

aus. Derzeit fehlen zudem 4000 Hausärzte und Hausärztinnen.<br />

Und jeden Monat verlassen 300 Pflegende den Beruf,<br />

weil die Arbeitsbedingungen zu mörderisch sind.<br />

Mit hohen Löhnen zu winken, löst das Problem nicht<br />

mehr. Manche europäischen Länder haben es satt, teuer<br />

Leute auszubilden, die dann in Basel, Genf oder Zürich arbeiten.<br />

Deutschland hat mit Anreizen schon so viele Fachleute<br />

zurückgeholt, dass sich dies in der Ausländerstatistik<br />

mit einem negativen Wanderungssaldo der Deutschen<br />

niederschlägt.<br />

Ähnlich ist die Lage in IT-Berufen, Mathematik und<br />

Technik. Die Ökonomen der Grossbank UBS schätzten<br />

2019 den zusätzlichen Bedarf an Fachpersonen auf «mehrere<br />

Hunderttausende». Die Lage ist akut und brisant. Sie<br />

ruft einerseits nach hohen Investitionen in die Ausbildung.<br />

Vor allem aber reisst gerade ein scharfer politischer<br />

Konflikt auf – zwischen Entfesselung der Migration und<br />

Abschottung. In Marseille haben wir das Problem gelöst:<br />

hier sind alle fremd, also ist es keiner.

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