31.03.2023 Aufrufe

Christoph Tödter: Hoffnung auf Vollendung (Leseprobe)

Über Jahrhunderte hinweg gehörte die Seele im christlichen Europa untrennbar zum Selbstbild des Menschen. Heute ist sie wenigstens für eine wissenschaftliche Beschreibung des Menschseins kaum mehr relevant. An ihre Stelle treten Bewusstsein und Selbst, Geist und Denken, Identität und Person oder Erleben und Existenz. Aber die religiöse Innerlichkeit des Psalters zeigt, dass eine solche konzeptionelle Beschreibung dennoch den Seelenbegriff aufnehmen kann, auch wenn er kein quellensprachliches Korrelat hat. Wovon die Psalmen handeln und was sich im Seelebegriff abbildet, ist weder der Grund für Leben noch für Unsterblichkeit, sondern eine ehrfürchtige Betrachtung der zwischen Schuld und Widerfahrnis erlebten Gegenwart des individuellen Daseins vor Gott in seiner Hoffnung auf Vollendung.

Über Jahrhunderte hinweg gehörte die Seele im christlichen Europa untrennbar zum Selbstbild des Menschen. Heute ist sie wenigstens für eine wissenschaftliche Beschreibung des Menschseins kaum mehr relevant. An ihre Stelle treten Bewusstsein und Selbst, Geist und Denken, Identität und Person oder Erleben und Existenz. Aber die religiöse Innerlichkeit des Psalters zeigt, dass eine solche konzeptionelle Beschreibung dennoch den Seelenbegriff aufnehmen kann, auch wenn er kein quellensprachliches Korrelat hat. Wovon die Psalmen handeln und was sich im Seelebegriff abbildet, ist weder der Grund für Leben noch für Unsterblichkeit, sondern eine ehrfürchtige Betrachtung der zwischen Schuld und Widerfahrnis erlebten Gegenwart des individuellen Daseins vor Gott in seiner Hoffnung auf Vollendung.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

20<br />

1 Hinführung zum Thema<br />

Der bildgewaltigen Tiefe dieser Verse vermag kein sinnliches Bild zu entsprechen.<br />

Im Gang bis an die Grenzen des Horizonts geht der Mensch höchst weit aus sich<br />

heraus und ist doch ganz bei sich, er ist »in-sich-außer-sich«. Ungläubig staunend<br />

erkennt er, dass er zwischen zerbrochenen <strong>Hoffnung</strong>en und unvollendeten Plänen<br />

ein Fragment bleiben muss und sich zu verlieren droht, wenn nicht Gott ihn hält.<br />

Das Menschsein erscheint vor seinem Angesicht als ein erschreckend-wunderbares<br />

Geheimnis. Untrennbar steht darin die anthropologische Grundfrage mit dem<br />

Sinn zusammen, zu dem sie sich verhält. Was der Mensch ist (Ps 8,5), hebt sich<br />

aus der Bedeutung ab, die er seinem Leben beimisst. Diese anthropologische Verhältnisbestimmung<br />

zwischen Sein und Sinn ist keine feststehende Verbindung,<br />

sondern unterliegt einem zeitgeschichtlichen Wandel. 2<br />

Wie sich der Mensch selbst sieht und versteht, ist abhängig von den sich stetig<br />

verändernden sozialen, kulturellen und ökonomischen Bezügen, in denen er lebt.<br />

Dass derselbe Blick <strong>auf</strong> den weiten Himmel und das offene Meer unter anderen<br />

Umständen oder von einem anderen Menschen in gleicher Weise gedeutet wird,<br />

ist unwahrscheinlich. Sinn und Sinnlichkeit stehen in keinem eindeutigen Verweiszusammenhang<br />

und rufen immer wieder neu die Frage nach dem Menschsein<br />

<strong>auf</strong>. Wo den Psalm die Stellung des Menschen coram Deo et in mundo bewegt,<br />

kapriziert die interpretatio Christiana dies <strong>auf</strong> die Bedeutung der Seele, ohne die<br />

auch Paul Gerhard (1607---1676) der spirituellen Tiefe seines Glaubens an Jesus<br />

kaum Ausdruck verleihen könnte:<br />

Ich sehe dich mit Freuden an<br />

und kann mich nicht satt sehen;<br />

und weil ich nun nichts weiter kann,<br />

bleib ich anbetend stehen.<br />

O daß mein Sinn ein Abgrund wär<br />

und meine Seel ein weites Meer<br />

daß ich dich möchte fassen!<br />

(EG 37,4)<br />

2<br />

»Das Sein des Menschen ist nicht abzutrennen von dem Sinn, zu dem er sich versteht,<br />

oder auch: zu dem er sich objektiv zu verstehen hätte und den er subjektiv womöglich gar<br />

nicht trifft. Sprechen, Handeln, Gestalten heißt nicht nur, über bestimmte Objekte verfügen,<br />

sondern über einen Sinn; so bestimmt Helmuth Plessner diesen Sachverhalt; sie sind nicht<br />

starre Vermögen, die hinterrücks ihr Werk tun, sie sind Vermögen nur insoweit, als der<br />

Mensch sie vermag, als er sich <strong>auf</strong> sie versteht und zu ihnen versteht. Und dieser Sinn ist<br />

nicht ein für allemal der gleiche. Menschen verstehen sich je in ihrer Gesellschaft und in<br />

ihrer geschichtlichen Lage <strong>auf</strong> eine andere Weise; und wenn es so ist, daß sie in diesem<br />

Sinnverständnis ihr Wesen erst feststellen, dann hat der Mensch viele Wesen; es sei denn,<br />

man sieht das Wesen des Menschen eben darin, daß er mitwirken muß, es jeweils zu finden.<br />

Der Mensch, sagte F. Nietzsche, ist das nicht-festgestellte Wesen.« --- Habermas, Anthropologie,<br />

32 (Herv. d.Vf.); vgl. Janowski, Anthropologie, 521.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!