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Christoph Tödter: Hoffnung auf Vollendung (Leseprobe)

Über Jahrhunderte hinweg gehörte die Seele im christlichen Europa untrennbar zum Selbstbild des Menschen. Heute ist sie wenigstens für eine wissenschaftliche Beschreibung des Menschseins kaum mehr relevant. An ihre Stelle treten Bewusstsein und Selbst, Geist und Denken, Identität und Person oder Erleben und Existenz. Aber die religiöse Innerlichkeit des Psalters zeigt, dass eine solche konzeptionelle Beschreibung dennoch den Seelenbegriff aufnehmen kann, auch wenn er kein quellensprachliches Korrelat hat. Wovon die Psalmen handeln und was sich im Seelebegriff abbildet, ist weder der Grund für Leben noch für Unsterblichkeit, sondern eine ehrfürchtige Betrachtung der zwischen Schuld und Widerfahrnis erlebten Gegenwart des individuellen Daseins vor Gott in seiner Hoffnung auf Vollendung.

Über Jahrhunderte hinweg gehörte die Seele im christlichen Europa untrennbar zum Selbstbild des Menschen. Heute ist sie wenigstens für eine wissenschaftliche Beschreibung des Menschseins kaum mehr relevant. An ihre Stelle treten Bewusstsein und Selbst, Geist und Denken, Identität und Person oder Erleben und Existenz. Aber die religiöse Innerlichkeit des Psalters zeigt, dass eine solche konzeptionelle Beschreibung dennoch den Seelenbegriff aufnehmen kann, auch wenn er kein quellensprachliches Korrelat hat. Wovon die Psalmen handeln und was sich im Seelebegriff abbildet, ist weder der Grund für Leben noch für Unsterblichkeit, sondern eine ehrfürchtige Betrachtung der zwischen Schuld und Widerfahrnis erlebten Gegenwart des individuellen Daseins vor Gott in seiner Hoffnung auf Vollendung.

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<strong>Christoph</strong> <strong>Tödter</strong><br />

<strong>Hoffnung</strong> <strong>auf</strong> <strong>Vollendung</strong><br />

Das Verständnis der Seele<br />

in der religiösen Innerlichkeit<br />

der Psalmen<br />

Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte


Vorwort<br />

Die vorliegende Arbeit ist die für den Druck geringfügig überarbeitet Fassung meiner<br />

Dissertation, mit der ich im Juli 2022 von der Theologischen Fakultät der Universität<br />

Leipzig promoviert wurde. Zeit, Danke zu sagen.<br />

An erster Stelle danke ich Prof. Dr. Dr. Andreas Schüle für seine wohlwollendkritische<br />

Betreuung und Begleitung meiner Studien sowie zuallererst für sein besonderes<br />

Vertrauen in die Wahl des gestellten Themas. Eine Betrachtung der Seele<br />

im Dazwischen, zwischen Wort und Begriff, zwischen alttestamentlicher Anthropologie<br />

und Systematischer Theologie, ist ein Versuch mit vielen Wendungen und<br />

Spannungen, dessen Verl<strong>auf</strong> sich zu Beginn nur viel zu vage abzeichnete. Die vorliegende<br />

Deutung wäre ohne eine große Freiheit hinter allen behutsamen Anfragen<br />

kaum denkbar gewesen. Ferner danke ich ihm sowie Prof. Dr. Beate Ego, Prof.<br />

Dr. Christof Landmesser und Prof. Dr. Susanne Luther für die Aufnahme meiner<br />

Arbeit in die Reihe »Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte« sowie den Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeitern der Evangelischen Verlagsanstalt für die gute verlegerische<br />

Betreuung.<br />

Prof. Dr. Roderich Barth danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens.<br />

Seine Gedanken und Arbeiten zum Verständnis der Seele haben das Werden dieses<br />

Buches schon in den allerersten Vorüberlegungen begleitet und mich nachhaltig<br />

zum Nachdenken über die Seele im Alten Testament angeregt.<br />

Weitere, ganz unterschiedliche Menschen sind <strong>auf</strong> verschiedene Art mit diesem<br />

Projekt verbunden. Landesbischof Dr. Karl-Hinrich Manzke hat mir Mut gemacht,<br />

Theologie zu studieren. Prof. Dr. Stefan Schorch hat während meines Studiums<br />

und meiner Mitarbeit am Samaritanus-Projekt die Faszination für die<br />

Vielfalt der hebräischen Sprache und ein genaues Textstudium angeregt. Prof. Dr.<br />

Anne Steinmeier brachte mich zuerst <strong>auf</strong> die Bedeutung der Frage nach der Seele<br />

im Alten Testament und Prof. Dr. Ulrich Barth danke ich für die anregenden Gespräche<br />

und Gedanken über die Seele. Alle genannten haben das ihre zu dem beigetragen,<br />

dessen Ergebnis hier vorliegt.<br />

Die Konrad-Adenauer-Stiftung hat mir mit der Gewährung eines Promotionsstipendiums<br />

ein freies Arbeiten ermöglicht und in der ideellen Förderung bereichernde<br />

Perspektiven <strong>auf</strong>gezeigt. Die Ev.-lutherische Landeskirche Hannovers


8<br />

Vorwort<br />

und die Evangelische Kirche Deutschlands haben die Veröffentlichung meiner Arbeit<br />

mit einem namhaften Druckkostenzuschuss unterstützt.<br />

Dem Lehrstuhlkolloquium in Leipzig verdanke ich wertvolle Hinweise und<br />

Anstöße für meine Arbeit, die zu mancher Klärung geführt haben. Denjenigen, die<br />

schließlich das Manuskript der Dissertation Korrektur gelesen haben, danke ich<br />

von Herzen für ihre Mühe. Das sind Jakob Dümchen, Kristian Goletz, Sophia Kähler,<br />

Nicole Kunkel, Anja Marschall, Johannes Müller und Clemens Schneider.<br />

Meinen Eltern, Hans-Jürgen und Birgit <strong>Tödter</strong>, danke ich für all ihre Unterstützung<br />

und das unermesslich große Vertrauen in meinen Weg durch das Studium<br />

und die Promotion. Sie haben mir mit einer großen Freiheit Mut gemacht<br />

<strong>auf</strong>zubrechen und loszugehen, die keinesfalls selbstverständlich ist. Dass meine<br />

Mutter noch den Beginn und das Werden der Dissertation, aber schließlich nicht<br />

mehr den nun vorliegenden Abschluss dieses Weges miterleben konnte, lässt eine<br />

tiefe Lücke.<br />

Der größte Dank schließlich lässt sich kaum angemessen in Worte fassen und<br />

gilt dem Menschen, »den meine Seele liebt« (Hld 3,4). Der mich hält und der mich<br />

trägt. Ohne Luise, die mich immer wieder ermutigt und irritiert, begeistert und<br />

durch die Zeit des Schreibens und Nachdenkens hindurch begleitet hat, wäre dieses<br />

Buch nicht möglich geworden. Ihre kritischen Anfragen und ihr Blick <strong>auf</strong> die<br />

Theologie haben zu manch klärendem Gedanken geführt und mir geholfen, nicht<br />

die Sicht <strong>auf</strong> diese Welt und ihre Tatsachen zu verlieren. Moritz und Johanna haben<br />

dasselbe <strong>auf</strong> ihre Weise vermocht und mich immer wieder neu und ganz unerwartet<br />

zum Staunen gebracht. Unser Miteinander und unser Alltag haben die<br />

verschiedenen Phasen der Entstehung dieser Arbeit geprägt und begleitet und<br />

mein Leben in besonderer Weise bereichert.<br />

Ich widme dieses Buch Luise, der ich diese Familie verdanke.<br />

Hildesheim, Neujahr 2023<br />

<strong>Christoph</strong> <strong>Tödter</strong>


Inhalt<br />

Abbildungsverzeichnis ............................................................................................ 13<br />

Tabellenverzeichnis ................................................................................................. 15<br />

Einleitung<br />

1 Hinführung zum Thema ................................................................................... 19<br />

2 Zum Aufbau der Arbeit .................................................................................... 27<br />

3 Forschungs- und Auslegungsgeschichte ....................................................... 31<br />

3.1 Gegenwärtiger Stand alttestamentlicher Anthropologie .................. 31<br />

3.2 Annäherungen zwischen »Seele« und »inneren Tiefen« ................... 35<br />

3.3 Zusammenfassung ................................................................................... 60<br />

4 Hermeneutische Vorüberlegungen ................................................................ 65<br />

4.1 Metasprachliche Konzepte gegenwärtiger Identitätsdiskurse ........ 65<br />

4.1.1 Innerlichkeit und Emotionalität ................................................ 66<br />

4.1.2 Selbst und Selbstbewusstsein .................................................... 69<br />

4.1.3 Identität und Individualität ........................................................ 71<br />

4.1.4 Zusammenfassung ....................................................................... 74<br />

4.2 Individualpsalmen als Orte religiöser Innerlichkeit ......................... 76<br />

4.3 Metonymie und Metapher als philosophische Denkfiguren ............ 78<br />

4.4 Zu Gegenstand und Methodik ............................................................... 85<br />

4.4.1 Aspekte einer diachron reflektierter Endtextanalyse ........... 85<br />

4.4.2 Dimensionen hebräischer Poesie .............................................. 89<br />

4.4.3 Rabbinische Literatur und Alttestamentliche<br />

Schriftauslegung .......................................................................... 91<br />

4.4.4 Textauswahl .................................................................................. 93<br />

Erster Teil<br />

Die religiöse Innerlichkeit des betenden Ich in den Psalmen<br />

5 Psalm 16<br />

»Du überlässt meine nefesh nicht der sheol« ............................................... 99<br />

5.1 Übersetzung mit Anmerkungen zu Aufbau und Struktur................ 99<br />

5.2 Motiv- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen .................... 104<br />

5.3 Innerlichkeit in erlebter Gottesgegenwart ........................................ 117<br />

Exkurs: נפש und npš‏/נבש im Sterben und im Totenkult ................ 126<br />

5.4 Tod und Theodizee im Weisheitspsalm 73 ........................................ 132<br />

5.4.1 Text und Motivik mit sprachlicher Analyse .......................... 132<br />

5.4.2 Unsterblichkeit der Gottesbeziehung ..................................... 145


10<br />

Inhalt<br />

6 Psalm 38<br />

»Ich brülle vom Tosen meines Herzens« ..................................................... 151<br />

6.1 Übersetzung mit Anmerkungen zu Aufbau und Struktur ............. 151<br />

6.2 Motiv- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen ................... 157<br />

6.3 Innerlichkeit zwischen Sündenbewusstsein und<br />

Selbstentfremdung ................................................................................ 164<br />

6.4 Eine ältere Version von Psalm 38: 4QPs a Ps 38/71 ......................... 171<br />

6.4.1 Text und Motivik mit sprachlicher Analyse ......................... 172<br />

6.4.2 Innerlichkeit zwischen Sünde und Vertrauen ...................... 180<br />

Zwischenfazit<br />

Religiöse Innerlichkeit zwischen Wort und Begriff .................................. 183<br />

7 Psalm 42/43<br />

»Meine nefesh dürstet nach Gott, dem lebendigen Gott« ........................ 189<br />

7.1 Übersetzung mit Anmerkungen zu Aufbau und Struktur ............. 189<br />

7.2 Motiv- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen ................... 193<br />

7.3 Religiöse Innerlichkeit im Bezug des Menschen zum Tempel ...... 201<br />

7.4 Universalisierung des Gottesbezugs in der Tora: Psalm 19 .......... 209<br />

7.4.1 Text und Motivik mit sprachlicher Analyse ......................... 209<br />

7.4.2 Erlebte Geborgenheit in der Tora ............................................ 218<br />

8 Psalm 51<br />

»Ein reines Herz erschaffe mir Gott« ........................................................... 225<br />

8.1 Übersetzung mit Anmerkungen zu Aufbau und Struktur ............. 225<br />

8.2 Motiv- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen ................... 229<br />

8.3 Transformation der Sündenerkenntnis im Gottesverhältnis ......... 234<br />

9 Psalm 139<br />

»Erforsche mich, Gott und erkenne mein Herz« ........................................ 245<br />

9.1 Übersetzung mit Anmerkungen zu Aufbau und Struktur ............. 245<br />

9.2 Motiv- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen ................... 250<br />

9.3 Unbedingte Innerlichkeit und umfassende<br />

Schöpfungsanthropologie ..................................................................... 262<br />

9.4 Die ambivalente Nähe Gottes in Psalm 143 ...................................... 272<br />

9.4.1 Text und Motivik mit sprachlicher Analyse ......................... 272<br />

9.4.2 Innerlichkeit in ambivalenten Gottesverhältnissen ............ 278<br />

Übertrag<br />

Auf dem Weg zu einem differenzierten Verständnis von »Seele«.......... 289<br />

Zweiter Teil<br />

Der Begriff »Seele« in Geschichte und Gegenwart<br />

10 Altgriechische Seelendiskurse ..................................................................... 303<br />

10.1 Vorsokratische Begriffsrekonstruktionen ......................................... 305<br />

10.1.1 Grundlegung: Die homerische ψυχή ....................................... 305


Inhalt 11<br />

10.1.2 Orphisch-pythagoreische Traditionen .................................... 309<br />

10.1.3 Vorsokratische Philosophie und Lyrik ................................... 312<br />

10.2 Platon ....................................................................................................... 317<br />

10.2.1 Prinzipielle Aspekte platonischer Seelenlehre ..................... 318<br />

10.2.2 Unsterblichkeit der Seele ......................................................... 319<br />

10.2.3 Seelenteilung .............................................................................. 321<br />

10.2.4 Das Verhältnis von Seele und Körper .................................... 323<br />

10.3 Aristoteles ............................................................................................... 325<br />

10.3.1 Die aristotelisch-funktionale Definition der Seele ............... 325<br />

10.3.2 Das Verhältnis von Seele und Körper bei Aristoteles ......... 327<br />

10.4 Zusammenfassung ................................................................................. 330<br />

11 Innerlichkeit und Seele in Augustins Confessiones ................................. 335<br />

12 Seele nach der Aufklärung ............................................................................ 345<br />

12.1 Bewusstseinstheoretischen Grundlinien (K. Huxel) ....................... 346<br />

12.2 Identitätstheoretische Begriffsdimensionen von »Seele« ............... 350<br />

12.2.1 Theologiegeschichtliche Grundlegung (K. Stock) ................ 351<br />

12.2.2 Identitätsstreben der Seele (C. Gestrich) ............................... 353<br />

12.3 Moderne Emotionspsychologie und die religiöse Seele .................. 358<br />

12.3.1 Gestimmtes Selbstbewusstsein (U. Barth)............................. 358<br />

12.3.2 Erleben und Deuten (R. Barth) ................................................. 362<br />

12.4 Sprach- und bildtheoretische Zugänge zu »Seele« ........................... 368<br />

12.4.1 Sprachphilosophische Aspekte (D. Evers) ............................. 369<br />

12.4.2 Seelsorge als Sinnerschließung der Seele (A. Dietz) ........... 372<br />

12.4.3 Bildhermeneutische Überlegungen (M. Krüger) .................. 375<br />

12.5 Zusammenfassung ................................................................................. 379<br />

Übertrag<br />

Die Seele als Begriff des Lebendigen und der Differenz .......................... 385<br />

Dritter Teil<br />

Die menschliche Seele zwischen Wort und Begriff<br />

13 Elementarisierung<br />

Der Begriff »Seele« in den Psalmen.............................................................. 391<br />

Exkurs: Alttestamentliche Bildhermeneutik .................................... 399<br />

14 Entfaltung<br />

Grenzen paradigmatischer Innerlichkeit .................................................... 417<br />

14.1 Leben in kreatürlicher Fragmentarität .............................................. 417<br />

14.2 Leiblichkeit und Tod .............................................................................. 421<br />

15 Semantische Verhältnisse im Wortfeld »Seele«......................................... 431<br />

15.1 Schwellen und Grenzen von Ganzheitlichkeit<br />

............................................................................ 431 ) ; קרב ; ; עצם (<br />

כ ס ל כליות<br />

............. 434 ‏(נפש ; לב ( Weltdeutung 15.2 Selbstbewusstsein und resonante


12<br />

Inhalt<br />

).......................................................... 446 ; גלם ; רוח ( Dasein 15.3 Erfülltes<br />

כבוד<br />

)..... 448 ; שפה ; פה ( Verweis 15.4 Sprachvermögen als nachgeordneter<br />

ל ש ו ן<br />

Zusammenfassung und Schlussgedanken ......................................................... 455<br />

Abkürzungen .......................................................................................................... 463<br />

Literaturverzeichnis............................................................................................... 465<br />

Textausgaben biblischer, rabbinischer und antiker Literatur ................ 465<br />

Hilfsmittel (Wörterbücher, Grammatiken, Konkordanzen) ..................... 468<br />

Kommentare ..................................................................................................... 468<br />

Lexikonartikel .................................................................................................. 470<br />

Aufsätze, Monographien ................................................................................ 473<br />

Abbildungsnachweise ........................................................................................... 499<br />

Register .................................................................................................................... 501<br />

Stellenregister (Auswahl) .............................................................................. 501<br />

Sachregister ..................................................................................................... 507<br />

Wortregister (Hebräisch) ............................................................................... 510<br />

Autorenregister (Auswahl) ............................................................................ 511


Einleitung


1 Hinführung zum Thema<br />

Das Verständnis von der Seele ist vielfach verwickelt. Über Jahrhunderte hinweg<br />

wurde sie selbstverständlich als Teil des Menschen betrachtet und kann doch<br />

nicht <strong>auf</strong> einen Begriff gebracht werden. Was die Seele ist, grenzt an Unsagbarkeit<br />

und hält das Nachdenken über sie in Bewegung. Denn was sie ihrem Wesen nach<br />

ist, vermag auch im immer neuen Ausdruck kaum in hinreichender Klarheit gefasst<br />

zu werden. Gegenwärtig findet sich darum ein ambivalentes Bild: Während<br />

die Seele einerseits in Dichtung und Frömmigkeit wenig ihrer einstigen Bedeutung<br />

verloren hat, ist der Begriff für die wissenschaftliche Anthropologie andererseits<br />

kaum mehr von Bedeutung. Von der Seele zu reden ist keineswegs so üblich,<br />

wie sich etwas von der Seele zu reden. Ihrem tieferen Sinn nachzuspüren, unternehmen<br />

die folgenden Studien darum exemplarisch anhand des biblischen Psalters.<br />

Auf der Suche nach sich selbst zwischen individueller Vergangenheit und persönlicher<br />

Zukunft wendet das lyrische Ich da in Psalm 139 im poetischen Anblick<br />

der Weite des Himmels in einmaliger Weise den Blick in sein Innerstes:<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

Würde ich Flügel der Morgendämmerung nehmen,<br />

würde ich mich niederlassen am Ende des Meeres:<br />

Auch dort würde mich deine Hand führen<br />

und deine Rechte mich halten.<br />

Und würde ich sprechen: Wenn mich doch Finsternis ergreife<br />

und Nacht Licht für mich wäre.<br />

Auch Finsternis verfinstert nicht vor dir<br />

und Nacht leuchtet wie der Tag:<br />

Wie die Finsternis, so ist das Licht.<br />

(Ps 139,9---12) 1<br />

1<br />

Soweit nicht anders vermerkt, gehen alle Übersetzungen biblischer, qumranischer und<br />

rabbinischer Textzeugnisse in dieser Studie <strong>auf</strong> d.Vf. zurück. Die Wiedergabe griechischer<br />

und lateinischer Textbeispiele samt deren Übersetzung folgt in aller Regel den im Literaturverzeichnis<br />

angeführten Ausgaben zu den jeweiligen Autorinnen und Autoren.


20<br />

1 Hinführung zum Thema<br />

Der bildgewaltigen Tiefe dieser Verse vermag kein sinnliches Bild zu entsprechen.<br />

Im Gang bis an die Grenzen des Horizonts geht der Mensch höchst weit aus sich<br />

heraus und ist doch ganz bei sich, er ist »in-sich-außer-sich«. Ungläubig staunend<br />

erkennt er, dass er zwischen zerbrochenen <strong>Hoffnung</strong>en und unvollendeten Plänen<br />

ein Fragment bleiben muss und sich zu verlieren droht, wenn nicht Gott ihn hält.<br />

Das Menschsein erscheint vor seinem Angesicht als ein erschreckend-wunderbares<br />

Geheimnis. Untrennbar steht darin die anthropologische Grundfrage mit dem<br />

Sinn zusammen, zu dem sie sich verhält. Was der Mensch ist (Ps 8,5), hebt sich<br />

aus der Bedeutung ab, die er seinem Leben beimisst. Diese anthropologische Verhältnisbestimmung<br />

zwischen Sein und Sinn ist keine feststehende Verbindung,<br />

sondern unterliegt einem zeitgeschichtlichen Wandel. 2<br />

Wie sich der Mensch selbst sieht und versteht, ist abhängig von den sich stetig<br />

verändernden sozialen, kulturellen und ökonomischen Bezügen, in denen er lebt.<br />

Dass derselbe Blick <strong>auf</strong> den weiten Himmel und das offene Meer unter anderen<br />

Umständen oder von einem anderen Menschen in gleicher Weise gedeutet wird,<br />

ist unwahrscheinlich. Sinn und Sinnlichkeit stehen in keinem eindeutigen Verweiszusammenhang<br />

und rufen immer wieder neu die Frage nach dem Menschsein<br />

<strong>auf</strong>. Wo den Psalm die Stellung des Menschen coram Deo et in mundo bewegt,<br />

kapriziert die interpretatio Christiana dies <strong>auf</strong> die Bedeutung der Seele, ohne die<br />

auch Paul Gerhard (1607---1676) der spirituellen Tiefe seines Glaubens an Jesus<br />

kaum Ausdruck verleihen könnte:<br />

Ich sehe dich mit Freuden an<br />

und kann mich nicht satt sehen;<br />

und weil ich nun nichts weiter kann,<br />

bleib ich anbetend stehen.<br />

O daß mein Sinn ein Abgrund wär<br />

und meine Seel ein weites Meer<br />

daß ich dich möchte fassen!<br />

(EG 37,4)<br />

2<br />

»Das Sein des Menschen ist nicht abzutrennen von dem Sinn, zu dem er sich versteht,<br />

oder auch: zu dem er sich objektiv zu verstehen hätte und den er subjektiv womöglich gar<br />

nicht trifft. Sprechen, Handeln, Gestalten heißt nicht nur, über bestimmte Objekte verfügen,<br />

sondern über einen Sinn; so bestimmt Helmuth Plessner diesen Sachverhalt; sie sind nicht<br />

starre Vermögen, die hinterrücks ihr Werk tun, sie sind Vermögen nur insoweit, als der<br />

Mensch sie vermag, als er sich <strong>auf</strong> sie versteht und zu ihnen versteht. Und dieser Sinn ist<br />

nicht ein für allemal der gleiche. Menschen verstehen sich je in ihrer Gesellschaft und in<br />

ihrer geschichtlichen Lage <strong>auf</strong> eine andere Weise; und wenn es so ist, daß sie in diesem<br />

Sinnverständnis ihr Wesen erst feststellen, dann hat der Mensch viele Wesen; es sei denn,<br />

man sieht das Wesen des Menschen eben darin, daß er mitwirken muß, es jeweils zu finden.<br />

Der Mensch, sagte F. Nietzsche, ist das nicht-festgestellte Wesen.« --- Habermas, Anthropologie,<br />

32 (Herv. d.Vf.); vgl. Janowski, Anthropologie, 521.


1 Hinführung zum Thema 21<br />

Die strukturelle Nähe zum Psalter ist greifbar (vgl. Ps 84,3): Gleich dessen lyrischem<br />

Ich will die Seele betrachten und in sich <strong>auf</strong>nehmen, was ihr widerfährt<br />

und muss doch zugleich ihre Grenzen erkennen. Dass die facettenreiche Sprache<br />

der Bibel und in besonderer Weise die alttestamentliche Poesie Gerhard beeinflussen,<br />

ist bei Weitem keine Ausnahme. Wie kaum eine zweite Gruppe haben die<br />

Psalmen eine Wirkung entfaltet, deren Grund sich in einer berührenden Äußerung<br />

Rainer Maria Rilkes (1875---1926) anbahnt, wenn er schreibt: »Ich habe die<br />

Nacht einsam hingebracht in manch innerer Abrechnung und habe schließlich […]<br />

die Psalmen gelesen, eines der wenigen Bücher, in dem man sich restlos unterbringt,<br />

mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein.« 3 Und<br />

wie bei dem in der lutherischen Orthodoxie beheimateten Autor, so trägt auch für<br />

den modernen Lyriker die Seele das religiöse Leben des Menschen:<br />

Nennt ihr das Seele, was so zage zirpt<br />

in euch? Was, wie der Klang der Narrenschellen,<br />

um Beifall bettelt und um Würde wirbt,<br />

und endlich arm ein armes Sterben stirbt<br />

im Weihrauchabend gotischer Kapellen, ---<br />

nennt ihr das Seele?<br />

Schau ich die blaue Nacht, vom Mai verschneit,<br />

in der die Welten weite Wege reisen,<br />

mir ist: ich trage ein Stück Ewigkeit<br />

in meiner Brust. Das rüttelt und das schreit<br />

und will hin<strong>auf</strong> und will mit ihnen kreisen ...<br />

Und das ist Seele.<br />

(Rilke, Gaben an verschiedene Freunde) 4<br />

Die eigentümliche Bedeutsamkeit der Seele in derart unterschiedlichen Zeilen wie<br />

denen Rilkes oder Gerhards wirft die Frage <strong>auf</strong>, ob die wiederkehrend bildgebenden<br />

althebräischen Psalmendichtungen konzeptionell ähnliche Gedanken über<br />

das Menschsein widerspiegeln.<br />

Sollen die Psalmen aber <strong>auf</strong> einen Begriff von Seele hin verstanden werden,<br />

obwohl ihr Sinn dann gewiss nicht dem heutigen entspricht, ist zu klären, ob dieses<br />

Verhältnis angemessen ist. Wird der biblische Befund also sinngemäß interpretiert,<br />

wenn er im unmittelbaren Bezug zum Verständnis der Seele erscheint?<br />

Bevor sachgemäß nach dem Grund für die Rede von der Seele gefragt werden<br />

kann, bedarf diese Aufgabe einer formalen Eingrenzung. Wie stellt sich also überhaupt<br />

die Frage nach der Seele?<br />

Um das Verständnis der Seele für den alttestamentlichen Psalter angemessen<br />

zu erfassen, ist durchsichtig zu machen, wonach gefragt ist. Dazu sind grundsätz-<br />

3<br />

4<br />

Rilke, Briefe, 247.<br />

Rilke, Gedichte, 111.


22<br />

1 Hinführung zum Thema<br />

lich zwei Ebenen zu unterscheiden: zum einen das Wort, die elementarste sprachliche<br />

Einheit, und zum anderen der Begriff, der stark vereinfacht eine logischmentale<br />

Einheit beschreibt. Als Bezeichnung einer abstrakten Einheit der Kognition,<br />

die unterschiedliche Erfahrungsmomente miteinander verbindet, sind »Begriff«<br />

und »Konzept« damit gleichbedeutend. 5 Der Begriff »Seele« benennt also ein<br />

gedankliches Konzept, das durch das Wort Seele <strong>auf</strong>gerufen wird. Der Unterschied<br />

zwischen diesen zwei Alternativen ist keineswegs banal, nachdem die fachwissenschaftliche<br />

Debatte umfänglich die Schwierigkeit herausgestellt hat, in den<br />

Psalmen ein quellensprachliches Äquivalent zu »Seele« <strong>auf</strong>zuweisen. Damit<br />

musste die Verortung der Frage <strong>auf</strong> der Wortebene ausscheiden. Ein Begriff dagegen<br />

ist als Vorstellung nicht in jedem Fall lexikalisiert. Die sich anbahnende Verortung<br />

der Frage <strong>auf</strong> der begrifflichen Ebene hebt sich so hinreichend deutlich von<br />

der Wortebene ab. Dass etwa ein Adjektiv entsprechend zu »taub« oder »blind« für<br />

olfaktorische und taktile Wahrnehmungen fehlt, heißt nicht, dass das Konzept<br />

nicht bekannt wäre. 6 Diese Beobachtung zum Phänomen der lexikalischen Lücke<br />

kann <strong>auf</strong> den vorliegenden Problemzusammenhang übertragen werden: Obwohl<br />

im Psalter ein Wort fehlt, dessen Bedeutung der von »Seele« entsprechend nahekommt,<br />

muss sich damit nicht eine Leerstelle im Begriffsrepertoire verbinden. Die<br />

Frage nach der Seele in den Psalmen kann also sinnvoll gestellt werden. Warum<br />

aber stellt sie sich?<br />

Die Frage nach der Seele stellt sich, weil das Wort und sein Sinngehalt heute<br />

nicht mehr selbstverständlich sind. Wenigstens für eine wissenschaftliche Beschreibung<br />

des Menschen ist die Seele kaum mehr von Bedeutung und findet sich<br />

als ein anachronistisch bewertetes Konzept fast durchgehend durch verschiedene<br />

Paradigmen ersetzt. Dies betrifft fast alle Felder der Forschung. Die entscheidende<br />

Entwicklung hin zu einer »Psychologie ohne Seele« hat Albert Lange dabei bereits<br />

1886 diagnostiziert. 7 Mit der humanwissenschaftlichen Debatte macht sich auch<br />

die theologische Forschung dieses Urteil zu eigen, sodass Begriffe wie Bewusstsein<br />

und Selbst, Geist und Denken, Identität und Person oder Erleben und Existenz<br />

zunehmend an die Stelle der Seele treten. 8 Nach einem längeren Schweigen von<br />

der Seele mehren sich indes die Zeichen eines Wandels. Zunehmend erscheinen<br />

Beiträge, die nicht nur die historische Dimension des Begriffs abdecken, sondern<br />

wieder neu dessen gegenwartsrelevanten Sinngehalt zu entfalten suchen. Gleichwohl<br />

gilt dies zuerst für systematisch-theologische und praktisch-theologische Arbeiten.<br />

9 Jedenfalls wird man wenigstens für die deutschsprachige alttestamentliche<br />

Wissenschaft bislang kaum von einer ähnlichen »Renaissance« der Seele<br />

5<br />

Zur weiteren Ausführung der Differenz zwischen Wort und Begriff s. unten S. 78 ff.<br />

6<br />

Behelfsweise wird daher etwa »geruchsblind« angeführt. Zur Bedeutung von lexikalischen<br />

Lücken s. unten S. 63 f.<br />

7<br />

Vgl. Barth, Schicksal, 122.<br />

8<br />

Vgl. Dierken, Leibbezogene Seele?, 1; Sauter, Seele, 309; Gestrich, Menschliche<br />

Seele, 156.<br />

9<br />

Vgl. zuletzt Dietz, Sinnerschließungen, passim.


1 Hinführung zum Thema 23<br />

sprechen können. 10 Umso dringender stellt sich die Frage, welche Denk-Erfahrungen<br />

und welche ästhetischen Erfahrungen mit der Preisgabe des Begriffs verloren<br />

gingen. 11 Was fehlt also, wenn in der Übersetzung und in der Deutung alttestamentlicher<br />

Texte ganz <strong>auf</strong> die Seele verzichtet wird?<br />

Einen ersten Hinweis gibt das zuvor eingebrachte Zitat aus Psalm 139. Wäre<br />

die »Seele« eine Substanz, präexistent oder unsterblich, wären die Kritik und der<br />

Abschied nachvollziehbar. Was sich in den Versen aber abzeichnet, ist nicht dies,<br />

sondern ein eigentümlicher Prozess individueller Sinnerschließung. Ein lyrisches<br />

Ich ist <strong>auf</strong> der Suche nach sich selbst und deckt im Blick <strong>auf</strong> die Weite des Himmels<br />

einen individuell-unergründlichen Sinn <strong>auf</strong>, der sich nicht monokausal <strong>auf</strong><br />

eine funktionale Begegnung mit der Welt zurückführen lässt. In individuellen und<br />

traditionellen Bildern beschreiben die Gebete Stationen und Einsichten dieser Bewegung,<br />

<strong>auf</strong> die sich der Seelebegriff bezieht. In diesem bildhaft sich vermittelnden<br />

Selbstverhältnis hat die Seele ihren Ort.<br />

Die Psalmen reden von der Seele, weil die Menschen sich in ihren Gebeten<br />

etwas von der Seele reden müssen, weil sie Kontingenzerfahrungen machen. Sie<br />

wahren darin die Einsicht, dass menschliches Dasein sich nicht in Diskursivität<br />

erschöpfen kann, wenn das betende Ich anhebt und klagt:<br />

Was bist du <strong>auf</strong>gelöst, meine nefesh 12<br />

und warum so unruhig in mir?<br />

Warte <strong>auf</strong> Gott, denn ich will ihn wieder preisen,<br />

die Hilfe meines Angesichts und mein Gott.<br />

(Ps 42,12)<br />

Wird der Seelebegriff fallengelassen, neigen solche Sätze im Verlust anthropologischer<br />

Tiefenschärfe einer eindimensional verstandenen Leiblichkeit zu. Die dem<br />

zum Trotz zu beobachtende Entwicklung einer kritischen Distanznahme zur Seele<br />

ist keinesfalls neu. Bereits 1959 hat Erich Fascher dar<strong>auf</strong> hingewiesen, dass sich<br />

die »Entseelung« auch <strong>auf</strong> dem Gebiet alttestamentlicher Forschung vollzieht. 13 In<br />

seiner kurzen Studie Seele oder Leben? stellt er heraus, wie das Wort »Seele« in<br />

Übersetzungen und jüngeren Revisionen derselben zunehmend vermieden wird<br />

und נפש oder ψυχή entweder als »Leben« im Sinne von Vitalität oder als Personalpronomen<br />

wiedergegeben werden. 14 Neuere Übersetzungen wie die Bibel in gerechter<br />

Sprache (2006) bestätigen die fortdauernde Aktualität seiner Thesen und auch<br />

10<br />

Gegen Becker u.a., die die steigende Zahl von Veröffentlichungen zur »Seele« in der<br />

jüngeren Vergangenheit allgemein als Hinweis <strong>auf</strong> eine neue Bedeutung des Begriffs in der<br />

Theologie werten, dies., Seelen-Verständnisse, 11.<br />

11<br />

Vgl. Sauter, Seele, 319.<br />

12<br />

Zur Möglichkeit der Übersetzung von נפש in Ps 42,12 als »Seele« s. unten S. 444.<br />

13<br />

Vgl. Fascher, Seele, 5.<br />

14<br />

Vgl. a.a.O. 17 f.


24<br />

1 Hinführung zum Thema<br />

die letzte Revision der Lutherbibel (2017) scheint sich dieser Bewegung wenigstens<br />

nicht zu widersetzen. 15<br />

Dieselbe Tendenz zu eliminativen Deutungen bestimmt ebenso die fachwissenschaftlichen<br />

Veröffentlichungen, wo die Übersetzungen alttestamentlicher<br />

Texte heute fast durchgehend <strong>auf</strong> das Wort Seele verzichten. 16 Sie verzichten dafür<br />

allerdings zumeist auch <strong>auf</strong> eine differenziertere Betrachtung des Begriffs in seiner<br />

historischen wie systematischen Bedeutung. Ohne Rücksicht <strong>auf</strong> ihren Kontext<br />

und ihre Genese wird altgriechische Philosophie <strong>auf</strong> die platonische Form eines<br />

starren Leib-Seele-Dualismus reduziert und zu oft mit dem modernen Verständnis<br />

gleichgesetzt, welches dann zur Kontrastfolie für die Entfaltung alttestamentlicher<br />

Anthropologie wird. 17 Damit bleibt jedoch die enorme synchrone wie<br />

diachrone Bedeutungsvarianz des Wortes ψυχή unberücksichtigt, das sich kaum<br />

als stereotype Gegenüberstellung zur Weite alttestamentlicher Anthropologie eignet.<br />

18 Die Frage nach der Seele im Alten Testament zu beantworten bedeutet auch,<br />

das Verhältnis zwischen »griechischem« und »hebräischem« Denken eingehender<br />

zu berücksichtigen.<br />

Dabei wird das Bewusstsein für die Unhintergehbarkeit der hermeneutischmethodischen<br />

Problematik zu wahren sein, dass das Verständnis alttestamentlicher<br />

Aussagen nicht unbeeinflusst von neuzeitlichen Konzeptionen sein kann.<br />

Aus dem vorgestellten Befund darf also ebenso wenig eine vorkritische Vereinnahmung<br />

des Seelebegriffs für den Psalter abgeleitet werden, wie er nicht ohne<br />

Verzicht <strong>auf</strong> bedeutungskonstitutive Momente des Menschseins vorschnell fahren<br />

zu lassen ist. Weil er ebenso unerlässlich wie zugleich entbehrlich anmutet, kann<br />

das Verständnis der Seele nur dem betreffenden Diskurs entstammen. Die Offenheit<br />

der Frage lenkt die Untersuchung weg von linguistischen Einzelstudien hin<br />

zu einer übergeordneten Betrachtung des erweiterten Bedeutungszusammenhang,<br />

wie sie <strong>Christoph</strong> Wulf angemahnt hat:<br />

»Da unser Wissen von der Seele an die Rede über sie gebunden ist, hat möglicherweise<br />

die Seele außerhalb der Sprache keinen Ort, so daß die Erforschung der Seele eine<br />

Analyse des Seelendiskurses erfordert. Untersucht wird dann nicht mehr, ob der Seele<br />

transzendente Bedingungen zugrunde liegen oder ob Seele lediglich bestimmte emoti-<br />

15<br />

Vgl. u.a. Ps 11,5; 22,21; 35,17, in denen die Revision von 1984 noch »Seele« liest, 2017<br />

diese Belege aber anders wiedergegeben sind. Es findet sich indes auch der umgekehrte<br />

Fall, vgl. Ps 33,19.<br />

16<br />

Vgl. zuletzt beispielsweise Sarah Riegert zu Ps 25,1: »Zu Jhwh, will ich meine Lebenskraft<br />

‏[נפש]‏ erheben.« --- Riegert, Ich-Sphäre, 51<br />

17<br />

»Die platonische Unterscheidung eines Innen und Außen, eines Leib und einer unsterblichen<br />

Seele, versteht sich allen voran nicht als konnektiv.« --- Riegert, Ich-Sphäre, 54 (Herv.<br />

i.O.). Weiter: נפשי«‏ ist an dieser Stelle [sc. Ps 42,2] im atl. Sinne zu verstehen und darf nicht<br />

dazu verleiten, einen modernen Seelebegriff zu übertragen.« --- a.a.O. 59. Was nun aber gerade<br />

unter eben diesem »modernen Seelenbegriff« zu verstehen ist, bleibt offen. S. unten S.<br />

345 ff.<br />

18<br />

Vgl. Dietz, Selbsterschließungen, 9.


1 Hinführung zum Thema 25<br />

onale Erfahrungen bezeichnet. Wie sich die Seele im Diskurs konstituiert, ist dann die<br />

entscheidende Frage, die die Frage nach der Wahrheit der im L<strong>auf</strong>e der Jahrhunderte<br />

über die Seele hervorgebrachten Vorstellungen, Gedanken, Sichtweisen und Erkenntnisse<br />

relativiert. «19<br />

Woran sich die Annäherung an das Verständnis der Seele im biblischen Psalter<br />

orientieren muss, ist nicht die Abbildung merkmalskonstitutiver Aspekte aus der<br />

Begriffsgeschichte, sondern ihre sprachliche Darstellung in einzelnen Gebeten.<br />

Anstelle von substanzontologisch geprägten Rekonstruktionsversuchen einer dichotomisch<br />

oder trichotomisch bestimmten Anthropologie steht eine eingehende<br />

Auseinandersetzung des Ausdrucks der inneren Regungen des lyrisch-betenden<br />

Ich. Um deren eigentümliche Tiefe für den Darstellungszusammenhang angemessen<br />

zu berücksichtigen, sind die Ausführungen <strong>auf</strong> ihren erweiterten Kontext zu<br />

beziehen und dürfen sich nicht <strong>auf</strong> semantische Einzelstudien beschränken. Sinnentscheidend<br />

ist der Gesamtzusammenhang der Psalmen, deren innere Dynamik<br />

die Frage nach dem Verständnis von »Seele« evoziert. Weil sie sich als Begriff aus<br />

der Sprache erschließt, bedarf ihre Entfaltung also einer differenzierenden Betrachtung<br />

der religiösen Innerlichkeit der Psalmen, aus deren Grenzen später die<br />

Bedeutung der Seele sichtbar werden kann.<br />

Der besondere Ort innerhalb der Sprache wiederum, an dem die Bedeutung<br />

der Seele hervortritt, ist deren Bildlichkeit. Das lyrisch-betende Ich sucht nach<br />

Spuren von Sinn in seinem Leben und findet sie, wie in Psalm 139, in Bildern.<br />

Metaphern und Metonymien erweisen sich als der hermeneutische Schlüssel zum<br />

Verständnis der religiösen Innerlichkeit im Psalter. Sie sind keine dekorativen<br />

Sprachfiguren, sondern bergen einen spezifischen Sinnüberschuss, den eine diskursiv-abstrahierende<br />

Reflexion nicht vollständig einzuholen vermag. Wenn sich<br />

im Bildvermögen so im Wechselspiel zwischen Individualität und Kollektivität das<br />

Gefühlserleben erschließt, benennt letzteres wohl den Ankerpunkt des Verständnisses<br />

von »Seele«, das sich so allein bildhermeneutisch erschließt.<br />

Weil diese Suchbewegungen <strong>auf</strong>grund hermeneutischer Erwägungen nie<br />

ohne Bezug zu modernen Konzeptionen sind, können die Ausführungen nicht in<br />

der historischen Dimension verharren, sondern sind unabweislich <strong>auf</strong> den Diskurs<br />

mit anderen theologischen Disziplinen verwiesen. Die also gestellte Aufgabe<br />

gleicht darin dem, was Franz Delitzsch als Umriss einer »biblischen Psychologie«<br />

gilt. Bisher ist eine solche Darstellung offen. 20 Geht es ihr aber nicht um den Aufweis<br />

eines oder mehrerer bestimmter Worte für »Seele«, sondern um die Angemessenheit<br />

eines Begriffs für das Textverständnis, macht sie ernst mit dem von<br />

Karl Barth angemahnten Verweis <strong>auf</strong> die dogmatische Verantwortung der<br />

19<br />

Wulf, Präsenz, 11.<br />

20<br />

»Es fehlt uns dringend eine Psychologie des Alten Testaments --- nicht zuletzt wegen<br />

der ungeheuren Wirkung des Psalters in der Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des<br />

Christentums.« --- Barth, Selbstbewußtsein, 442 Anm. 5.


26<br />

1 Hinführung zum Thema<br />

Exegese. 21 Sie verständigt sich über die eigenen Verstehensvoraussetzungen und<br />

fragt von hier aus nach der anthropologischen Hermeneutik antiker Schriftzeugnisse.<br />

Dieser Anforderung erwächst die Struktur dieser Studie.<br />

21<br />

»Aber die Zeit scheint noch nicht da zu sein, wo der Dogmatiker sich darum mit gutem<br />

Gewissen und Vertrauen <strong>auf</strong> die Ergebnisse seiner alt- und neutestamentlichen Kollegen<br />

beziehen können wird, weil es dann vielleicht <strong>auf</strong> beiden Seiten wieder klar sein wird: der<br />

Dogmatiker hat auch exegetische, aber der Exeget hat auch dogmatische Verantwortung! Solange<br />

so viele Exegeten ihren Teil dieser gemeinsamen Lektion noch nicht besser gelernt<br />

oder jedenfalls noch nicht besser in Übung gesetzt haben, solange es Manche von ihnen<br />

noch für einen Ruhm zu halten scheinen, hinsichtlich der dogmatischen Voraussetzungen<br />

und Konsequenzen ihrer Aufstellungen möglichst unbefangen, weil ahnungslos in die<br />

Landschaft hineinzureden, bleibt dem Dogmatiker nichts übrig, als sich seinen ›Schriftbeweis‹<br />

--- seinerseits in der ganzen Gefährdung des Nichtfachmanns --- selber zu erarbeiten.«<br />

--- Barth, KD III/2, VII (Herv. d.Vf.).


Erster Teil<br />

Die religiöse Innerlichkeit des betenden<br />

Ich in den Psalmen


5 Psalm 16<br />

»Du überlässt meine nefesh nicht der sheol«<br />

Der Umgang des Menschen mit der Herausforderung, die ihm durch Tod und Sterben<br />

gestellt ist, gehört zu den anthropologischen Grundfragen. Sie sucht Psalm 16<br />

zu beantworten, indem das lyrische Ich ebenso wie in Psalm 49 und 73 Leben und<br />

Tod als untrennbar mit der Gottesbeziehung zusammenstehend durchdenkt. Dass<br />

Jhwh ein »Gott des Lebens« sei (Ps 42,3), wird den Psalmen angesichts des Todes<br />

zur Aufgabe und lässt sie nach ihrem »Weg des Lebens« (Ps 16,11) fragen.<br />

5.1 Übersetzung mit Anmerkungen zu Aufbau und<br />

Struktur<br />

1<br />

Ein miktam 1 Davids<br />

I<br />

2<br />

Bewahre mich Gott, denn ich berge mich bei dir.<br />

Ich spreche 2 zu Jhwh:<br />

Mein Herr bist du, mein Gutes ist allein bei dir<br />

[wörtl. nicht über dich hinaus] 3 .<br />

1<br />

297; ‏,מִכְתָּם s.v. (vgl. Psalm 56---60) ist unklar, vgl. KAHAL, מכתם Die Bedeutung von<br />

Gesenius 18 , s.v. ‏,מִכְתָּם 675. Zur gebräuchlichen Übersetzung als »Aufschrift« vgl. LXX<br />

στηλογραφία (»Inschrift«).<br />

2<br />

Die 2. Pers. Sg. fem. אָ‏ מַ‏ רְ‏ תְּ‏ bezeugt neben MT allein der Targum und fügt vielleicht mit<br />

Blick <strong>auf</strong> V.10 ergänzend hinzu: אנת נפשי ‏,מלילת vgl. Rashi ad loc. Fast alle anderen Textzeugen<br />

lesen demgegenüber die 1. Pers. Sg. AK q., die sich besser in den Verl<strong>auf</strong> des Psalms<br />

fügt und von Parallelstellen gestützt wird (Ps 31,15; 140,7; 142,6), vgl. Liess, Weg, 36 f.;<br />

Zenger, Psalmen I NEB, 110. Als Perfekt declarativum besitzt das Wort präsentische Bedeutung,<br />

vgl. Liess, Weg, 41; Weber, Notizen, 25.<br />

3<br />

Zum Zusammenhang von V.1 und 2 s. unten S. 102. Die Wortverbindung בל־עליך war<br />

על Anlass für unterschiedliche Konjekturvorschläge, die jedoch die Bedeutungsvielfalt von<br />

unberücksichtigt lassen. Die Präposition bezeichnet hier etwas Überragendes, vgl. Delitzsch,<br />

Psalmen, 153; Liess, Weg, 39 f.; KAHAL, s.v. ‎2‎‏ַל II, 406, ferner auch MidTeh 16,1.<br />

Die klassisch rabbinische Exegese deutet die Wendung als Hinweis <strong>auf</strong> die rein aus Gnade<br />

erfolgende Zuwendung Jhwhs: es ist »nicht an ihm« ‏(בל־עליך)‏ für das Gute des betenden Ich


100<br />

5 Psalm 16<br />

3<br />

4<br />

Bezüglich der Heiligen, die sie im Lande 4 sind:<br />

Sie sind die Herrlichen, an denen ich meinen ganzen Gefallen habe. 5<br />

Zahlreich werden die Schmerzen derjenigen,<br />

die einen anderen [Gott] umworben 6 haben.<br />

Ich will ihre 7 Trankopfer von Blut nicht spenden,<br />

und ich will ihre Namen nicht <strong>auf</strong> meine Lippen nehmen.<br />

5<br />

6<br />

Jhwh, Anteil meines Teils und meines Bechers,<br />

du bist es, der mein Schicksal hält.<br />

Schnüre fielen für mich <strong>auf</strong> Angenehmes [Land],<br />

auch mein Erbbesitz gefällt mir.<br />

II<br />

7<br />

Ich will Jhwh segnen, der mich beraten hat;<br />

auch nächtelang 8 haben mich meine Nieren unterwiesen.<br />

zu sorgen, vgl. Rashi, Ibn Esra ad loc. Radak versteht sie als Hinweis dar<strong>auf</strong>, dass gute<br />

Taten ‏(טובתי)‏ Gott nicht nahekommen, d.h. ihn nicht beeinflussen, vgl. Radak ad loc. Die<br />

‏,טוב o.g. Deutung entspricht jedoch besser dem Fortgang von V.1 wie der Verwendung von<br />

s. unten S. 105 f.<br />

4<br />

LXX mit Suffix 3 Pers. Sg. m.<br />

5<br />

Der Satz ist in unterschiedlicher Hinsicht schwierig, kommt allerdings ohne Konjekturen<br />

aus, wenn das zu‏-ל Beginn als allgemeine Relation zur Einführung eines pendierenden<br />

Subjekts verstanden wird, wobei die Konstruktion in der Folge mit ו eingeleitet -<br />

und das Subjekt nicht erneut <strong>auf</strong>genommen wird, vgl. Liess, Weg, 49 f.; dagegen zuletzt<br />

Botha, Happiness, 67 f. mit Emendation von ואדירי zu ואדירים und כל zu ‏.בל Möglich ist<br />

auch die Interpretation als noch von אמרתי (V.2) abhängige Redeeinleitung, bei der die<br />

Präposition ל zwischen beiden Versen keine Funktionsverschiebung erfährt, der Redeinhalt<br />

folgt dann im zu V.3 hinzuzuziehenden V.4a, vgl. Weber, Notizen, 27---29. Aus inhaltlichen<br />

Gründen ist jedoch die von Liess dargestellte syntaktische Interpretation als Pendenskonstruktion<br />

vorzuziehen: »In V.2---4 legt der Beter somit ein dreifaches Bekenntnis<br />

vor Gott ab: Er bekennt sich zu Jhwh, zu den Heiligen, und er bekennt sich --- in negativer<br />

Richtung --- zur Ablehnung der Fremdgötterverehrung. [Herv. getilgt]« --- Liess, Weg, 50.<br />

6<br />

Der Konsonantenbestand מהרו kann sich <strong>auf</strong> מהר I pi. oder מהר II q. beziehen; LXX<br />

liest die erste Variante, während MT nach der letzteren vokalisiert. Die Ableitung als Denominativum<br />

von מֹהַ‏ ר (»Brautgeld«) nach KAHAL, s.v. מהר II, 282 wird plausibilisiert durch<br />

eine Studie Kottsiepers, der für das Verb ursprünglich eine breitere Bedeutung annimmt,<br />

vgl. Kottsieper, Versuch, 103; Liess, Weg, 55---57.<br />

7<br />

שמותם Der Bezug des Pronominalsuffixes 3. Pers. Pl. ist ebenso wie beim folgenden<br />

unklar: richtet es sich an fremde Götter, von denen allerdings bisher nur im Singular die<br />

Rede war, oder <strong>auf</strong> deren Verehrer? Am wahrscheinlichen dürfte hier mit Liess ein Bezug<br />

<strong>auf</strong> אחר als Kollektivsingular sein, vgl. Liess, Weg, 59 f.<br />

8<br />

Der Plural לילות dürfte wiederum mit Liess als Pluralis intensitatis zu lesen sein, vgl.<br />

Liess, Weg, 85; JM § 136b.


5.1 Übersetzung mit Anmerkungen zu Aufbau und Struktur 101<br />

8<br />

Ich habe Jhwh ständig vor mir platziert,<br />

ja, ist [er] 9 zu meiner Rechten, werde ich nicht ins Wanken gebracht.<br />

9<br />

Daher freut sich mein Herz und es jauchzt mein kavod [meine Seele] 10 ,<br />

auch mein Fleisch wird in Sicherheit wohnen.<br />

10<br />

Denn du überlässt meine nefesh [Seele] 11 nicht der sheol 12 ,<br />

du lässt es nicht zu, dass dein Frommer die Grube sieht.<br />

11<br />

Du tust mir kund den Weg des Lebens,<br />

Freude in Fülle bei deinem Angesicht,<br />

Angenehmes bei deiner Rechten für immer.<br />

Eine ausführliche Darstellung zur Textkritik gibt Kathrin Liess in ihrer Dissertation<br />

über Psalm 16, deren Ergebnisse hier nicht in extenso zu wiederholen sind. 13<br />

Im Hinblick <strong>auf</strong> die Diskussion um die Einheitlichkeit des Psalms ist jedoch in<br />

Ergänzung zu den mit der Übersetzung gegebenen Anmerkungen <strong>auf</strong> ein Zitat in<br />

4QCatena a<br />

hinzuweisen, das aller Wahrscheinlichkeit nach Ps 16,3 entstammt<br />

und auch in seinem fragmentarischen Zustand die Lesart des masoretischen Textes<br />

stützt: ‏.לקדושים אשר]‏ בא[רץ ה]מה ואדי[ר]י כול חפצי[‏ בם]‏ 14 In der grammatischen<br />

Analyse von V.3---4 kann Liess zeigen, dass die Verse sich zwar von ihrem Kontext<br />

abheben, textinterne wie redaktionsgeschichtliche Gründe jedoch dafürsprechen,<br />

den Psalm insgesamt als einheitlich zu betrachten. 15<br />

Für die poetische Gestalt des Psalms sind eine Vielzahl unterschiedlicher Gliederungsmodelle<br />

diskutiert worden. 16 Aufgrund von Struktursignalen, wie Wortund<br />

Motivwiederholungen, die im Folgenden kurz darzustellen sind, soll für den<br />

9<br />

Eine Ergänzung des Personalpronomens הוא nach מימיני ist nicht notwendig, da es sich<br />

bei מימיני um einen eingliedrigen Nominalsatz handelt, in dem dieses fehlen kann, vgl.<br />

Liess, Weg, 66; JM § 154c.<br />

10<br />

Zur Möglichkeit der Übersetzung von כ ב ו ד als »Seele« s. unten S. 447; zur Bedeutung<br />

von כבוד s. unten S. 122---124 sowie zur Problematik in der Übersetzung ferner auch Anm.<br />

12.<br />

11<br />

Zur Möglichkeit der Übersetzung von נפש als »Seele« s. unten S. 442.<br />

כי<br />

12<br />

Da die zumeist erfolgende Widergabe als »Unterwelt« nur unzureichend die Bedeutungsdimensionen<br />

des Lexems שאול zu erfassen vermag, bleibt das Wort hier, wie auch<br />

etwa גלמי in Ps 139,16 als terminus technicus unübersetzt. Zum Motiv s. unten S. 110 f. mit<br />

Anm. 79.<br />

13<br />

Vgl. Liess, Weg, 32---73.<br />

14<br />

Vgl. a.a.O. 49; 71; 105. DJD V, 72 f. Zur Problematik in der Übersetzung s. oben Anm.<br />

5. Textkritische Änderungen finden sich etwa bei Zenger, Psalmen I NEB, 110.<br />

15<br />

S. oben Anm. 5, vgl. Liess, Weg, 105. Anders dagegen Zenger, Psalmen I NEB, 110;<br />

Loretz, Theoxenie, 464 f. LXX ist von MT in verschiedener Hinsicht charakteristisch unterschieden,<br />

indem sie etwa vermehrt Aussagen zu Eigenschaften Jhwhs als Verbalsätze<br />

formuliert oder das eschatologische Potential des Psalms in spezifischer Weise interpre-<br />

נצח (διαφθοράν., V.10) und שחת V.9), (ἐπ᾿ ἐλπίδι, לבטח tiert, so etwa in der Übersetzung von<br />

(εἰς τέλος, V.11), vgl. Liess, Weg, 72.<br />

16<br />

Vgl. Liess, Weg, 75 f.; CAS I, 191 f.


102<br />

5 Psalm 16<br />

vorliegenden Zusammenhang folgende Gliederung zugrunde gelegt werden: canto<br />

I V.1b---6; canto II V.7---11 (Struktur 5.5 > 3.2 | 2.3). 17<br />

Die Kürze des nach der Überschrift einleitenden V.1 und der in Psalm 16 nur<br />

hier belegte Imperativ setzen den Vers markant vom Folgenden ab, weshalb er<br />

auch als selbstständiges »Leitwort« angesehen wird. 18 Jedoch schließt sich V.2 inhaltlich<br />

eng an das Vorhergehende an, indem er als Begründung für V.1 das Gottesverhältnis<br />

des betenden Ich anführt, das in der Folge doppelseitig entfaltet<br />

wird: Das Bekenntnis zu Jhwh (V.2) begründet die Bewahrung (V.1) und bedeutet<br />

die Zurechnung zu den Heiligen (V.3), ebenso wie es umgekehrt die Abgrenzung<br />

gegen eine Fremdgötterverehrung zum Ausdruck bringt (V.4). 19 Die doppelte Absage<br />

בל־אסיך und בל־אשא beschließt den Zusammenhang von V.1b---4, bevor mit<br />

der erneuten Hinwendung an Jhwh der Einsatz von V.5---6 markiert wird. 20 Deren<br />

Zusammengehörigkeit zeigt sich im Chiasmus der »Lexeme für den Vorgang der<br />

. 21 ‏»(נַחֲלָה und חֵלֶק)‏ ) und […] für das zugeteilte Land<br />

Der thematische Wechsel und die erneute Hinwendung zu Jhwh begründen in V.7<br />

den Beginn eines neuen Abschnitts. In Analogie zu V.5---6 kennzeichnet der parallele<br />

Aufbau der jeweils ersten Vershälfte von V.7 und 8 deren Zusammengehörigkeit<br />

(Prädikat 1. Pers. Sg., Objekt ‏,יהוה V.7b.8b emphatisch mit אף bzw. ‏.(כי 22 Für<br />

die umstrittene Zuordnung von V.9 und 10 ist die Frage nach der Semantik und<br />

dem Verhältnis von לכן und כ י entscheidend. 23 Da לכן im vorliegenden Kontext eine<br />

resultative Bedeutung hat, kann es zwar als Summe des Vorhergehenden verstanden<br />

werden כי)‏ hätte dann in V.10 deiktische Bedeutung), als geeigneter erscheint<br />

‏,לכן (vgl. V.1) in syntaktischer Unterordnung zu כי jedoch die kausale Deutung von<br />

חֶ‏ בֶ‏ ל und גּוֺרָ‏ ל)‏ Landverteilung<br />

17<br />

Vgl. CAS I, 188, ähnlich Botha, Happiness, 66 f. mit Abtrennung von V.1---2.11: A (V.1---<br />

2), B (V.3---4), C. (V.5---6), A' (V.7---8), B' (V.9---10), C' (V.11). Unter Orientierung an der<br />

Sprechrichtung lässt sich in leicht veränderter Variation der Argumente auch eine konzentrische<br />

Struktur zugrunde legen: A (V.1b), B (V.2---4), C (V.5---6), B' (V.7---9), A' (V.10---11),<br />

vgl. Liess, Weg, 99 (ähnlich Weber, Notiz, 35, jedoch mit V.1b als vorangestelltem Leitwort<br />

außerhalb der Struktur und A [V.2], B [V.3---4]). Zur Terminologie s. oben S. 89.<br />

18<br />

Vgl. Liess, Weg, 77 f.; Weber, Notiz, 35.<br />

19<br />

Innerhalb der V.1b---4 sind für deren poetische Gestalt ferner die Inklusion zwischen<br />

den Nominalsätzen (V.2b.c.3) und den Verbalsätzen (V.1.2a.4), sowie die Abschlüsse mit<br />

einer Präposition mit Personalsuffix ‏,עליך ‏,בך)‏ ‏(בם von Bedeutung. Zum Zusammenhang<br />

von V.1.2 vgl. Botha, Happiness, 69 f.; Zenger, Psalmen I NEB, 111. Anders dagegen Liess,<br />

Weg, 78 f.; Weber, Notiz, 35, die V.1 deutlich von V.2---4 abheben.<br />

20<br />

Auf formaler Ebene zeigt sich der Einschnitt auch in der Häufung von Pronominalsuffixen<br />

der 1. Pers. Sg. und den <strong>auf</strong> die Verbalsätze in V.4 folgenden Nominal- bzw. Partizipialkonstruktionen<br />

in V.5, vgl. Liess, Weg, 81 f.<br />

21<br />

Liess, Weg, 82.<br />

22<br />

In ihrer Ausgestaltung sind V.7 sodann als synthetischer Parallelismus und V.8 als<br />

Chiasmus gestaltet, vgl. Liess, Weg, 84 f.<br />

23<br />

Vgl. Liess, Weg, 84.


5.1 Übersetzung mit Anmerkungen zu Aufbau und Struktur 103<br />

zumal die Stellung von V.9 im Verhältnis zu V.8 und 10 nicht klar zu entscheiden<br />

ist. 24 Den dargestellten Aufbau des Psalms unterstreichen Stichwortverbindungen<br />

einzelner Verse oder Versteile sowie inhaltliche Entsprechungen. Anfang, Mitte<br />

und Ende des Psalms sind durch Bezugnahme <strong>auf</strong> ein Abstraktum des Guten miteinander<br />

verbunden טוב ‏,נעם)‏ in V.2; 6 und 11). Beginn und Ende des ersten canto<br />

werden durch die Wiederholung von אתה sowie על mit Personalsuffix gekennzeichnet,<br />

25 während der thematische Zusammenhang von נסך in V.4 und כוס in<br />

V.5 die beiden Abschnitte desselben zusammenbindet. In gleicher Funktion finden<br />

sich im zweiten canto ימין mit Präposition und Temporalangabe תמיד)‏ bzw.<br />

in V.8.11, während sich am Ende des את־פניך und לנגדי sowie die Parallele ‏(נצח<br />

Psalms die Lebens- und Todesthematik gegenüberstehen. Neben der kontrastiven<br />

Motivik von שאול / שחת in V.10 und חיים in V.11 evoziert לראות שחת mit<br />

in V.11 die geprägte Wendung ‏.ראה את פניך 26 Gerahmt und verbunden wird der<br />

, ב ש ר ‏,לב in V.9 und 11 und die (Körperteil-)Lexeme שמח Schlussabschnitt durch<br />

in V.9 und 10. 27 Zu den gestaltenden Verbindungen in canto II ist נ פ ש und ‏(כבוד)‏<br />

ferner die weisheitliche Unterweisungsterminologie in V.7 und 11 zu rechnen. 28<br />

Die gattungsmäßige Einordnung des Psalms fällt schwer, was die in diesem<br />

Punkt stark divergierende Forschungsmeinung eindrücklich unterstreicht. 29 Ein<br />

Überblick über die Struktur zeigt Gattungselemente des Klage- und Dankliedes,<br />

wenngleich merkmalprägende Formulierungen fehlen. Daneben finden sich aber<br />

auch Gebets- und Bekenntnisstil sowie weisheitliche Elemente. 30 Aus dem vorherrschenden<br />

Grundmotiv individueller Klagepsalmen beschreibt Liess den Psalm mit<br />

Seybold daher vermittelnd als einen »Vertrauenspsalm« (vgl. u.a. Psalm 4; 23) und<br />

kann dafür insbesondere <strong>auf</strong> dessen affirmativ-emphatischen Sprachstil verwie-<br />

את פניך<br />

24<br />

Die Lesart von Liess, nach der לכן und כי voneinander syntaktisch unabhängig sind<br />

und letzterem hier eine affirmativ-emphatische Bedeutung beizumessen ist, vermag nicht<br />

כ י zu überzeugen, gegen Liess, Weg, 69. Wahrscheinlicher ist, dass die Verwendung von<br />

sich von emphatischen Duktus des Psalms absetzt und nicht aus ihm heraus abzuleiten ist.<br />

Zur Zusammengehörigkeit von V.9 und 10 vgl. Botha, Happiness, 67; Zenger, Psalmen I<br />

NEB, 112; Seybold, Psalmen, 72. Weber nimmt demgegenüber für V.9 eine Zwischenstellung<br />

an, vgl. ders. Notiz, 36. In der klassisch-rabbinischen Exegese votiert Rashi für die<br />

Zusammengehörigkeit von V.9 und 10, während Radak V.8 und 9 zusammen interpretiert,<br />

vgl. Rashi ad Ps 16,9 f.; Radak ad Ps 16,9.<br />

25<br />

Vgl. Weber, Notiz, 36.<br />

26<br />

Verstärkt wird dies ferner in einer versübergreifenden chiastischen Verschränkung,<br />

in der neben den genannten Zusammenhang das Gegenüber von שאול in V.10 und ימיניך in<br />

V.11 tritt, vgl. Liess, Weg, 87---92.<br />

27<br />

Zur Bedeutung von כבד vgl. unten S. 122---124.<br />

28<br />

Vgl. Liess, Weg, 93.<br />

29<br />

Vgl. Zenger, Psalmen I NEB, 108; Liess, Weg, 105. Der Psalm wird als Gebetslied<br />

(Kraus, Psalmen, 262), Vertrauenspsalm (Gunkel, Psalmen, 51; Seybold, Psalmen, 71), Bittgebet<br />

(Zenger, Psalmen I NEB, 108), oder auch Bekenntnislied gewertet (Oeming, Psalmen<br />

I, 114; Gerstenberger, Psalmen I, 91 f.)<br />

30<br />

Vgl. Liess, Weg, 106---108.


104<br />

5 Psalm 16<br />

sen. 31 Eine ebenso breite Variation wie für die Gattung findet sich auch in den<br />

Datierungsvorschlägen, die von der vorexilischen bis in die nachexilische Zeit reichen.<br />

32 Am ehesten dürfte mit den von Liess vorgebrachten Argumenten im Verweis<br />

<strong>auf</strong> thematische Bezüge wie dem Fremdgötterverbot zu nachexilischen Kultpraktiken<br />

in Jes 57,5 f.; 65,11 und 66,3 an einen nachexilischen Ursprung des<br />

Psalms zu denken sein. 33<br />

Innerhalb des ersten Davidpsalters gehört Psalm 16 in den weiteren Zusammenhang<br />

von Psalm 15---24, der sich am besten als konzentrische Struktur um<br />

Psalm 19 beschreiben lässt. 34 Daraus ergeben sich enge Bezüge zu den angrenzenden<br />

Psalmen 15 und 17, während als formgeschichtliches wie theologisches Pendant<br />

Psalm 23 gelten dürfte: 35<br />

Psalm 16 Psalm 23<br />

V.2 alleiniges Heil bei Jhwh V.1.6 Jhwh macht Mangel unmöglich;<br />

bedingt Heil<br />

V.5 Jhwh als Anteil des Bechers<br />

V.5 Jhwh füllt den Becher<br />

V.6 Anteil am Land (statisch)<br />

- Eigentum des Ich<br />

V.2 Teil von Herde (beweglich)<br />

- Eigentum Jhwhs<br />

V.7 göttliche Unterweisung V.2.4 göttliche Führung<br />

V.11 der Weg des Lebens;<br />

Freude in Fülle<br />

Tab. 1: Parallelen zwischen Psalm 16 und Psalm 23<br />

V.3.6<br />

Pfade der Gerechtigkeit<br />

immerwährende Güte<br />

und Heil<br />

5.2 Motiv- und traditionsgeschichtliche<br />

Untersuchungen<br />

Mit der allgemeinen Bitte um die Bewahrung in der Güte Jhwhs, ohne Angabe<br />

eines konkreten Kontextes (anders Ps 140,5; 141,9), kommt am Beginn des<br />

31<br />

Vgl. Seybold, Psalmen, 71; Liess, Weg, 109 f. mit Anm. 164. Liess weist a.a.O. dar<strong>auf</strong><br />

hin, dass die Gattungsbezeichnung umstritten ist und die ihr zugeordneten Psalmen teils<br />

der Gruppe der Klagepsalmen zu- bzw. untergeordnet werden, vgl. Gunkel / Begrich, Einleitung,<br />

254 f.<br />

32<br />

Vgl. Liess, Weg, 110 f.<br />

33<br />

Vgl. a.a.O. 111 f. Die von ihr daneben angeführten linguistische Merkmale können<br />

schwerlich als eigenständiger Beleg dienen, s. oben S. 88 f.<br />

34<br />

S. unten S. 214 mit Abb. 7 und Anm. 125.<br />

35<br />

Vgl. Zenger, Psalmen I NEB, 109; Botha, Happiness, 63; Brown, Sun, 265 f.; Liess,<br />

Weg, 110.


5.2 Motiv- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen 105<br />

Psalms mit טוב das ganze Leben des betenden Menschen von seiner materiellen<br />

bis hin zur theologischen Dimension in den Blick (vgl. Ps 54,8 f.). 36 Als der Ort<br />

dieser Erfahrung kann das Heiligtum <strong>auf</strong> dem Zion gelten (vgl. Ps 4,7; 69,17 f.): 37<br />

Schmeckt und seht, wie gut ‏[טוב]‏ Jhwh ist.<br />

Wohl dem Mann, der sich in ihm birgt.<br />

(Ps 34,9)<br />

Wohl dem, den du erwählst und nahen lässt,<br />

der in deinen Vorhöfen wohnt.<br />

Wir wollen uns sättigen am Guten ‏[טוב]‏ deines Hauses,<br />

am Heiligen deines Heiligtums.<br />

(Ps 65,5)<br />

Die Verwendungsbeispiele von טוב zeigen, dass das »Gute Jhwhs« als Abstraktbegriff<br />

kontextuell ebenfalls dessen Manifestation benennen kann. Der Begriff erweist<br />

sich damit als äußerst verdichteter Ausdruck dessen, was in den folgenden<br />

Versen weiter entfaltet wird: Das »Gute« des betenden Ich erschließt sich primär<br />

in der individuellen Gottesbeziehung. 38<br />

In der Auslegung von V.3---4 ist die Interpretation von<br />

nur für das grammatische Verständnis des Verses von Relevanz, sondern ebenso<br />

für dessen Aussageintention. 39 Wiederholt findet sich hierzu in der Forschungsgeschichte<br />

die Interpretation als »Götter« oder Dämonen im Zusammenhang der Abgrenzung<br />

gegenüber einer Fremdgötterverehrung. 40 Auf der anderen Seite steht<br />

ein Verständnis der Heiligen als »fromme Menschen« und damit die Hinwendung<br />

des betenden Ich zu dieser communio sanctorum, was ein Vergleich mit Psalm 34<br />

zu zeigen vermag, wo קדשיו im Parallelismus durch יראיו bestimmt wird: 41<br />

Fürchtet Jhwh seine Heiligen, denn es gibt keinen Mangel für die ihn Fürchtenden!<br />

(Ps 34,10)<br />

Es entspricht dieser Deutung von ‏,קדושים dass der Parallelausdruck אדירים auch<br />

an anderer Stelle, mit Ausnahme von 1 Sam 4,8, stets <strong>auf</strong> Menschen bezogen<br />

ש י nicht אדירים und םק<br />

36<br />

Vgl. Zenger, Psalmen I NEB, 111; Liess, Weg, 123---125.<br />

37<br />

Vgl. Hartenstein, Angesicht, 95---98; Liess, Weg, 126 f.<br />

38<br />

Vgl. Höver-Johag, Art. ṭôḇ, 335 f.; Liess, Weg, 129 f.<br />

39<br />

Vgl. Liess, Weg, 115; Zenger, Psalmen I NEB, 111; s. oben Anm. 5.<br />

40<br />

So Gunkel, Psalmen, 52; Seybold, Psalmen, 71; Hakham, Psalms I, 93; vgl. Liess, Weg,<br />

115 f.<br />

41<br />

Vgl. Liess, Weg, 136 f.; Zenger, Psalmen I NEB, 111; Goldingay, Psalms I, 229; Delitzsch,<br />

Psalmen, 155; Limburg, Psalms, 47, ferner auch Ibn Esra ad loc. Kraus geht mit LXX<br />

davon aus, dass statt ואדירי besser יאדיר zu lesen ist: Das betende Ich reflektiert dann mit<br />

V.3 das Heilswirken Jhwhs und begründet damit sein Vertrauen, vgl. Kraus, Psalmen, 264.


106<br />

5 Psalm 16<br />

wird. 42 Im Kontext des Psalters befolgt das betende Ich mit Ps 16,3 <strong>auf</strong> diese Weise<br />

das vorher in Ps 15,4 Geforderte, nämlich die Anerkennung bzw. Ehrung der Gottesfürchtigen<br />

in der Ausrichtung <strong>auf</strong> eben diese. 43<br />

Mit dem »Anderen« ‏(אחר)‏ wird dann in V.4 an die im Vergleich zu<br />

nur singulär belegte Wendung אחר (Ex 34,14, vgl. Jes 42,8) gedacht sein, wie<br />

es der Fortgang des Verses nahelegt. 44 Die dezidierte Absage an eine Fremdgötterverehrung<br />

und das umso deutlichere Bekenntnis zu Jhwh verweisen als Entfaltung<br />

der Bitte in V.1 <strong>auf</strong> eine Situation, in der das Gottesverhältnis mehr und mehr<br />

Züge einer individuell reflektierten Entscheidung trägt:<br />

אלהים אחרים<br />

אל<br />

»[U]nter dem Druck der sozialen und religiösen Auseinandersetzung [büßt, d.Vf.] das<br />

enge Vertrauensverhältnis zum persönlichen Gott seine Selbstverständlichkeit ein.<br />

Aus dem Sich-Bergen bei Gott in Todesnot, das keine Alternative kennt, wurde nun<br />

häufig eine bewußte Entscheidung für Jahwe, die sich von den Optionen, die die Frevler<br />

verführerisch vorlebten, abgrenzt.« 45<br />

Vor dem Hintergrund der leitenden Fragestellung ist es bemerkenswert, dass die<br />

negativen Folgen für diejenigen, die anderen Götter verehren, mit עצבת eher als<br />

psychische oder emotionale Not beschrieben werden und weniger als physisches<br />

Leiden. Die Bedeutung des Bewusstseins für diese feinsinnige Differenz wird im<br />

Folgenden entfaltet. 46<br />

Die negative Abgrenzung gegen andere Götter wird durch נסך hif. mit dem<br />

Substantiv נסך in V.4b als terminus technicus einer Libation parallelisiert. Trankopfer<br />

sind im Alten Testament sowohl für Jhwh, als auch für Fremdgötter belegt<br />

und werden in dtn-dtr Sprache auch als eine Kennzeichnung für Synkretismus<br />

verwendet (vgl. Jer 7,18). 47 Während im alten Israel wie in Mesopotamien üblicherweise<br />

Wein, Wasser, Milch oder Honig libiert wurden, ist die Verwendung von<br />

Blut dagegen nur äußerst selten belegt und wird mit Jes 66,3 zuerst als Hinweis<br />

<strong>auf</strong> ein illegitimes Opfer zu verstehen sein. 48 Bei der sich anschließenden Wen-<br />

ק ר א handelt es sich um eine synonyme Formulierung von נשא שם על שפתי dung<br />

42<br />

Vgl. Liess, Weg, 144 f.<br />

43<br />

Vgl. a.a.O. 147.<br />

44<br />

Vgl. .a.O. 54.<br />

45<br />

Albertz, Religionsgeschichte, 560; vgl. Liess, Weg, 112 f.; Seybold, Psalmen, 71.<br />

46<br />

S. unten S. 117 ff.<br />

47<br />

Vgl. Dohmen, Art. nāsaḵ, 490 f.; Liess, Weg, 148; Zenger, Psalmen I NEB, 111. Suriano<br />

deutet V.3---4 im Kontext von Ahnenverehrung, für die jedoch weitere Anhaltspunkte fehlen,<br />

zumal der archäologische Befund wenig Raum für rituelle Totenverehrung zu lassen<br />

scheint, vgl. Suriano, History, 230. Zum archäologischen Befund vgl. Wenning, Art. Grab,<br />

passim; sowie ders. Art. Bestattung, passim.<br />

48<br />

Vgl. Dohmen, Art. nāsaḵ, 490 f. Ebenso kann mit Jelle Verburg V.4 auch vor dem Hintergrund<br />

von in hellenistischer Literatur belegter nekromantischer Rituale interpretiert<br />

werden, vgl. Verburg, Libations, passim.


5.2 Motiv- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen 107<br />

hif. (vgl. Ps 116,13; 1 Kön 18,24). 49 Die <strong>auf</strong>gerufenen Momente der זכר bzw. ‏(ב)שם<br />

Libation und Namensanrufung sind sowohl ein fester Bestandteil des Jhwh-Kultes<br />

als auch von Fremdgötterverehrung, gegen welche sich der Vers wohl kontextuell<br />

wendet und damit die Hinwendung zu Jhwh (V.2) und den Seinen (V.3) flankiert.<br />

Sie sind jedoch zugleich ebenso durch altorientalische Paralleltexte als Form der<br />

Ahnenverehrung in der Umwelt Israels belegt (vgl. V.10). 50<br />

In den folgenden V.5---6 sticht besonders die dichte Verwendung einer verschiedentlich<br />

<strong>auf</strong> das Land bezogenen Metaphorik hervor. Damit kommt ein Topos<br />

in den Fokus, der zu den zentralen Motiven alttestamentlicher Theologie gehört.<br />

In besonders ausgeprägter Verwendung findet sich das Motiv in Psalm 37, der die<br />

mit ihm verbundenen Aspekte der Lebensqualität im Land (V.11), der Gottesbeziehung<br />

(V.4), von Vertrauen und Schutz (V.40) und der dauerhaften Gültigkeit<br />

נחלה und חלק der Verheißung miteinander verbindet. 51 Mit den vier Ausdrücken<br />

sowie חבל und גורל findet sich das Landmotiv in Psalm 16 als Metapher für Jhwh,<br />

dessen Handeln und die Beziehung zu ihm. Dabei kann der mit חלק verbundene<br />

Rekurs <strong>auf</strong> die geprägte Wendung יהוה חלקי (vgl. Ps 73,26; 142,6; Klgl 3,24) im<br />

vorliegenden Zusammenhang nicht <strong>auf</strong> die »Levitenprärogative« (Num 18,20;<br />

Dtn 10,9) beschränkt werden. Auf diese Weise blieben sowohl der Eigensinn von<br />

de- als auch Belege wie Jer 10,16 und Dtn 32,9 unberücksichtigt, in ‏,ג ו ר ל und חבל<br />

nen חלק und נחל ה ebenso wie in Ps 16,5 f. eine personal- und relational-durative<br />

Bedeutung zukommt. 52 .Der Aspekt der Beständigkeit wird in der Metapher des<br />

be- weiter תמך für das individuelle Lebensschicksal im Zusammenhang mit גורל<br />

י ר ה oder נ פ ל , ע ל ה tont, während die Verbindung des Substantivs mit Verben wie<br />

sonst mehr ein dynamisches Moment herausstellt. 53 Es vermag womöglich <strong>auf</strong> ein<br />

in späteren Texten belegtes eschatologisches Verständnis zu verweisen, wofür im<br />

Kontext des Psalms jedoch dessen Lebens- und Todesverständnis eingehender zu<br />

betrachten ist. 54<br />

Die V.5---6 dominierende Landthematik wird im Motiv des Bechers ‏(כוס)‏ <strong>auf</strong>gebrochen,<br />

dessen Verständnis nicht allein aus den genannten Versen heraus erfolgen<br />

kann, sondern des weiteren inter- wie intratextuellen Kontextes bedarf. 55<br />

49<br />

Vgl. Liess, Weg, 151.<br />

50<br />

Vgl. a.a.O. 153 f.; Schaper, Elements, 164 f.<br />

51<br />

Vgl. Liess, Weg, 164---166 mit Lohfink, Art. jāraš, 959.<br />

52<br />

Vgl. Liess, Weg, 169---171; in Konzentration <strong>auf</strong> die Levitenprärogative dagegen etwa<br />

Kraus, Psalmen, 265 f.<br />

53<br />

Vgl. Liess, Weg, 186.<br />

54<br />

In späteren Schriften wird das »Los« zu einem bevorzugt eschatologisch gewandten<br />

Ausdruck: »Von besonderer Wichtigkeit ist dann, daß mit dem Durchdringen der Auferstehungshoffnung<br />

und κλῆρος auch <strong>auf</strong> das dem Menschen nach dem Tode gegebene ›Teil‹<br />

angewandt wird«. --- Foerster / Herrmann, Art. κλῆρος, 760. Diese Deutung findet sich<br />

deutlich belegt in der klassisch rabbinischen Exegese zu Ps 16,5.<br />

55<br />

Eine Deutung als »Losbecher«, wie sie Zenger mit Verweis <strong>auf</strong> Josua 18 vorschlägt,<br />

vermag nicht zu überzeugen, vgl. Liess, Weg, 190; Zenger Psalmen I NEB, 111 f. Ebenso<br />

לרָ‏ וֹגּ


108<br />

5 Psalm 16<br />

Am wahrscheinlichsten ist der Becher der Auslegung von Liess folgend vor dem<br />

Hintergrund von V.11b mit dem Motiv der Sättigung (vgl. Ps 36,9) und im erweiterten<br />

Zusammenhang mit Ps 23,5 56 als Mahl- oder Festbecher zu verstehen, der<br />

»die überreichliche Segens- und Lebensfülle der Gottesgegenwart zum Ausdruck<br />

bringt.« 57 Das Motiv verweist zurück <strong>auf</strong> den mit V.4 <strong>auf</strong>gerufenen Bildbereich<br />

und nimmt die dort vorgenommene Abgrenzung unter umgekehrten ‏(שפה ‏;נסך)‏<br />

Vorzeichen <strong>auf</strong>.<br />

Mit dem Neuansatz von canto II in V.7 ändert sich die Perspektive des Gebets.<br />

Ähnliche Aussagen zum Lob göttlicher Beratung ‏(יעץ)‏ finden sich in Ps 32,8 (vgl.<br />

73,24):<br />

Ich will dich unterweisen und dich lehren <strong>auf</strong> dem Weg, den du gehen sollst;<br />

ich will dich beraten; über dir ist mein Auge.<br />

(Ps 32,8)<br />

יעץ Deutlicher als Ps 16,7 zeigt 32,8 die theologische Bedeutungsdimension von<br />

in der Verbindung mit dem weisheitlichen Wegmotiv. 58 Eine eminent positive Konnotation<br />

der Unterweisung des betenden Ich unterstreicht auch יסר mit כליות in<br />

V.7b, das kontextuell vom vorausl<strong>auf</strong>endes Handeln Jhwhs in der ersten Vershälfte<br />

abhängt (vgl. Ps 38,2). 59 Weil also das Lob Jhwhs im V.7a mit der eigenen<br />

Unterweisung durch die Nieren begründet wird ‏,(אשר)‏ muss umgekehrt Gott als<br />

der Ausgangspunkt jeglicher Erkenntnis gelten. Mit Blick <strong>auf</strong> das Zentrum der<br />

Struktur von Psalm 15---24 erscheint ferner die hier noch unspezifische Unterweisung<br />

durch Jhwh formalisiert als Tora (Ps 19,8). 60<br />

Der folgende V.8 setzt das Thema der das Leben des Ich bestimmenden Got-<br />

שויתי יהוה לנגדי tesbeziehung weiter fort. Vergleichbare Aussagen zur Wendung<br />

finden sich in Ps 18,23 (<br />

) und 119,30 שויתי)‏ ‏,(משפטיך von denen<br />

sich Ps 16,8 mit Jhwh als direktem Objekt markant abhebt. 61 Geht der Vers aber<br />

כל־משפט יו לנגדי<br />

wenig ist einer literarkritischen Lösung der Vorzug zu geben, die וכוסי aus dem Verszusammenhang<br />

ausklammert, vgl. Loretz, Theoxenie, 456 f.<br />

56<br />

Zum Zusammenhang von Psalm 16 und 23 im Kontext von Psalm 15---24 vgl. oben S.<br />

104.<br />

57<br />

Liess, Weg, 193, vgl. a.a.O. 192 f. In der mittelalterlichen jüdischen Bibelauslegung<br />

wird כוס zuweilen in Analogie zu חלק mit Ex 12,4 <strong>auf</strong> die Wurzel כסס zurückgeführt, vgl.<br />

Rashi ad loc.; Ibn Esra ad loc. So auch Radak ad loc., der כוס ‏,חלק und גורל als Synonyme<br />

betrachtet, die einen intendierten Aspekt verstärken. Anders Malbim, der einen deutlichen<br />

Unterschied zwischen ח ל ק und כוס sieht: חלק ist der Teil, der jedem Menschen gleich von<br />

Gott zukommt, während כוס einen darüberhinausgehenden Zugewinn bezeichnet, der sich<br />

an den Taten des Einzelnen bemisst, vgl. Malbim ad loc.<br />

58<br />

Vgl. Liess, Weg, 195; Goldingay, Psalms, 231 f.; Ruppert, Art. jāʿaṣ, 738; Kraus, Psalmen,<br />

405; Zenger, Psalmen I NEB, 112. Ähnlich auch Rashi ad loc.<br />

59<br />

S. unten S. 157 f.<br />

60<br />

61<br />

Vgl. Brown, Sun, 266.<br />

Vgl. Liess, Weg, 201 f.; Zenger, Psalmen I NEB, 112.


Zweiter Teil<br />

Der Begriff »Seele« in Geschichte und<br />

Gegenwart


10 Altgriechische Seelendiskurse<br />

Eine kritische Entfaltung des sich mit dem Begriff »Seele« verbindenden Deutungspotentials<br />

für die alttestamentliche Anthropologie kann bereits aus hermeneutischen<br />

Erwägungen von einer Reflexion seiner Bedeutung in Geschichte und<br />

Gegenwart nicht absehen. Wenn sich der Rahmen von »Innerlichkeit« für den<br />

Psalter als zu eng erweist und an Stelle dessen die »Seele« treten soll, muss das<br />

Kontinuitätsverhältnis zur Geschichte des Begriffs geklärt werden. Dies zu bedenken<br />

unternehmen die folgenden Abschnitte, die dafür mit einer überblickhaften<br />

Auseinandersetzung zentraler Aspekte altgriechischer Seelendiskurse einsetzen.<br />

Auf den besonderen Einfluss griechischen Denkens, der sich eindrücklich in<br />

der wirkmächtigen Übertragung von נפש als ψυχή in der Septuaginta niederschlägt,<br />

hat in nach Nikolaus Bratsiotis und Daniel Lys zuletzt Norbert Kilwing<br />

hingewiesen. 1 Jeweils stellen die Autoren dabei heraus, dass für den semantischen<br />

Vergleich von נפש und ψυχή eine einseitige Konzentration <strong>auf</strong> Beispiele der platonischen<br />

Philosophie zu kurz greift. Nicht nur ist diese zu komplex, als dass sie<br />

sich simplifizierend <strong>auf</strong> einen vornehmlichen Dualismus reduzieren ließe. Ebenso<br />

erweisen sich die Beiträge aus verschiedenen Epochen altgriechischer Geistesgeschichte<br />

als derart unterschiedlich, dass kaum von einem solch einheitlichen Begriff<br />

die Rede sein kann, wie bisweilen in gegenwärtigen Darstellungen der Anschein<br />

erweckt wird. 2 Darum werden auch die nachfolgenden Ausführungen sie<br />

kaum in ihrer gesamten Tiefe und Mannigfaltigkeit erfassen können und verstehen<br />

sich eher als Annäherung an ein synchron wie diachron weites Bedeutungsfeld.<br />

Eine facettenreiche und bis heute weithin anerkannte Darstellung der breiten<br />

Traditionen von Seelenvorstellungen im griechischen Denken stammt von Erwin<br />

Rohde (Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, 1. Aufl. 1893). 3<br />

Ihr zufolge vereint der in Frage stehende Begriff unterschiedliche, sich in ihrer<br />

1<br />

Zur Forschungsgeschichte s. oben S. 41 f.<br />

2<br />

So zuletzt etwa bei Riegert, Ich-Sphäre, 54; vgl. a.a.O. 59.<br />

3<br />

Zur Bedeutung der Darstellung Rohdes vgl. Szelzák, Der Begriff Seele, 16 Anm. 6. Daneben<br />

vgl. v.a. den Überblick über die vorsokratische und platonische Seelenlehre bei Sonnemans,<br />

Seele, 26---291.


304<br />

10 Altgriechische Seelendiskurse<br />

Gewichtung und ihrem Verhältnis zueinander veränderlich verhaltende Aspekte<br />

einer Typologie von »Seele«. Bevor also der Blick <strong>auf</strong> die Einzelheiten der jeweiligen<br />

Konzepte griechischen Denkens gerichtet werden kann, ist die Kriteriologie<br />

zu beschreiben, die möglichst viele Momente der unterschiedlichen Begriffsbestimmungen<br />

von »Seele« abbildet. Das heißt auch, immer wieder deutlich zwischen<br />

Wort und Begriff zu unterscheiden. 4 Es gibt keine eindeutige Korrelation<br />

zwischen einzelnen Lexemen und einer bestimmten Bedeutung von »Seele«. Unterschiedliche<br />

Worte können den gleichen Aspekt adressieren so wie ein Wort<br />

verschiedene Facetten desselben Begriffs <strong>auf</strong>rufen kann. Weil der Versuch einer<br />

Annäherung an einen derart komplexen Begriff wie Seele also immer schematisch<br />

verfahren muss, können einzelne antike Autorinnen oder Autoren nie eindeutig<br />

einem bestimmten Typ zuordenbar sein. Die folgende Übersicht ist dementsprechend<br />

nicht quellensprachlichen verbürgt. Eine eingängige Darstellung der<br />

Grundlinien einer solchen Typologie gibt Karl Wernhart und markiert die folgenden<br />

vier Kategorien: 5<br />

1. »Vitalseele« --- Sie bezeichnet ein belebendes Prinzip, das oftmals mit dem<br />

Atem (Hauch) oder dem Herz (Blut) in Verbindung gebracht wird. Sie vergeht<br />

im Tod nicht notwendig mit dem Körper und kann auch als ihn überdauernd<br />

vorgestellt werden.<br />

2. »Egoseele« --- Diese kann als Zentrum des Denkens und Wollens wie der<br />

Gefühle und damit als Kern der Person mit einer teils stark akzentuierten<br />

Eigenständigkeit 6 verstanden werden. Ihr Sitz ist häufig der Kopf oder das<br />

Herz.<br />

3. »Freiseele« --- Als »Exkursionsseele« ist sie weitestgehend unabhängig<br />

vom Körper und kann den lebenden Menschen repräsentieren. Sie tritt<br />

v.a. im Gegenüber zum Wachbewusstsein (Schlaf) <strong>auf</strong>. Ihre Funktion kann<br />

auch von einer Ego- oder Vitalseele übernommen werden. Die Ungebundenheit<br />

schließt die Bezeichnung einer »Reinkarnationsseele« mit ein.<br />

4. »Totenseele« --- Sie bezeichnet die Vorstellung einer Transformation im<br />

letzten Übergang des Lebenszyklus zu einem postmortalen Weiterleben.<br />

4<br />

Zur Bedeutung des Verhältnisses von Wort und Begriff s. oben S. 78 mit Anm. 64.<br />

5<br />

Vgl. Wernhart, Seelenkonzepte, 53; zum Folgenden a.a.O. 54---57. Vgl. auch den »Systematisierenden<br />

Anhang« bei Hasenfratz, Seele, 105---111. Nach Hasenfratz verweist der<br />

Begriff Seele »<strong>auf</strong> die grundsätzliche Problematik religionswissenschaftlicher Begriffsbildung:<br />

religiöse Sachverhalte mit einem ethnozentrischen Instrumentar zu erfassen und zu<br />

bearbeiten, das eo ipso für diese Aufgabe nur bedingt geeignet ist. […] ein geeigneter Begriff<br />

jedenfalls, der den Seelenbegriff in der Religionswissenschaft ersetzen könnte, hat sich bisher<br />

nicht finden lassen.« --- Hasenfratz, Art. Seele, 733 f.<br />

6<br />

Wernhart spricht hier von »Autonomie«, vgl. a.a.O. 54. Ob ein solches, relativ junges,<br />

Konzept jedoch tatsächlich dem entspricht, was sich dann in den Einzeldarstellungen zeigt,<br />

scheint fraglich. Besser wird hier darum von einer »Eigenständigkeit« der Seele zu reden<br />

sein.


10.1 Vorsokratische Begriffsrekonstruktionen 305<br />

Alle vier genannten Formen werden in besonderer Weise mit der ψυχή in Verbindung<br />

gebracht. Innerhalb des Griechischen ist dasselbe Substantiv zumeist durch<br />

das mit ihm verbundene Verb ψυχεῖν etymologisch in einen engen Zusammenhang<br />

mit »Atem« gebracht worden. 7 Diese Darstellung ist zuletzt durch die Arbeit<br />

von Peter-Arnold Mumm und Susanne Richter umfassend in Frage gestellt worden.<br />

Die Autoren verweisen für die Bedeutung von ψυχεῖν samt seinen Derivaten<br />

(ψυχρός, ψῦχος) zuerst <strong>auf</strong> »blasen« und metonymisch <strong>auf</strong> »abkühlen / erfrischen«<br />

als die grundlegende Bedeutung. 8 Sie deuten darum die wohl zuerst mit dem Lexem<br />

verknüpfte Seelenvorstellung eher als Frei- denn als »Hauchseele« (Vitalseele),<br />

da sie besonders im Moment des Aufhörens des Atems in Erscheinung tritt: 9<br />

»Unter den verschiedenen durch die belegten Wortbedeutungen gestützten Möglichkeiten,<br />

den semantischen Weg von ›blasen, kühlen‹ zu ›Totenseele‹ zu verstehen,<br />

scheint der Weg vom ›Kaltwerden‹ (nomen actionis oder rei actae zu ψῡ́χω ›kühlen‹),<br />

spezialisiert <strong>auf</strong> ›das Kaltwerden (= Sterben) des Menschen‹, metonymisch übertragen<br />

<strong>auf</strong> die bereits geläufige Vorstellung von der Schattenseele als der ›Persönlichkeitssubstanz,<br />

die, selbst ohne Wärme, dem lebenden Menschen passiv innewohnt und beim<br />

Kaltwerden (= Sterben) sich von ihm trennt und halbselbständig fortexistiert‹ [...], am<br />

wahrscheinlichsten.« 10<br />

Besonders deutlich tritt diese Bedeutung von ψυχή bei Homer hervor, der einen<br />

der ältesten Begriffe von »Seele« in der altgriechischen Literatur beschreibt.<br />

10.1 Vorsokratische Begriffsrekonstruktionen<br />

10.1.1 Grundlegung: Die homerische ψυχή<br />

Als Ausgangspunkt für die Begriffsgenese der später mit ψυχή verknüpften Vorstellungen<br />

können die Texte Homers gelten, deren Ursprung zumeist in der Zeit<br />

um 700 vermutet wird. 11 In ihrem Sprachgebrauch wird ψυχή (wie überdies auch<br />

σῶµα) nie in direktem Bezug <strong>auf</strong> den lebenden Menschen verwendet: 12 »Psychê is<br />

only mentioned as part of the living person at times of crisis, but never when its<br />

7<br />

Vgl. u.a. Ricken, Art. Seele I, 1; Bremmer, Soul in Greece, 160.<br />

8<br />

Vgl. Mumm / Richter, Etymologie, 43---45.<br />

9<br />

Vgl. a.a.O. 36.<br />

10<br />

A.a.O. 92.<br />

11<br />

Vgl. Sonnemans, Seele, 19; Latacz, Art. Homeros. Die Diskussion um das Verständnis<br />

der Seele bei Homer weist deutliche Parallelen zu derjenigen um נפש <strong>auf</strong> (s. oben S. 35 ff.).<br />

Auch hier geht es um die Frage, ob ψυχή besser als unpersönliche Lebenskraft / Leben<br />

<strong>auf</strong>gefasst und übersetzt werden kann, vgl. Sonnemans, Seele, 44---55.<br />

12<br />

Dies ist bei aller Differenz im weiteren communis opinio, vgl. Ricken, Art. Seele I, 1;<br />

Sonnemans, Seele, 28 f.


306<br />

10 Altgriechische Seelendiskurse<br />

owner functions normally.« 13 Dass sie erst im Schatten des Todes <strong>auf</strong>tritt, ist ein<br />

bis heute gültiges Urteil, mit dem sich das konzeptuelle Verständnis von ψυχή<br />

zwischen einer Totenseele und einer Freiseele bewegt. 14 Die ψυχή ist nichts, was<br />

mit einer Form von Bewusstsein in Verbindung gebracht werden kann: »Sie heisst<br />

besinnungslos, vom Geist und seinen Organen verlassen; alle Kräfte des Wollens,<br />

Empfindens, Denkens sind verschwunden mit der Auflösung des Menschen in<br />

seine Bestandtheile.« 15 Allerdings trägt die ψυχή nach dem Tod weiterhin Spuren<br />

der individuellen Geschichte menschlicher Existenz von der sie ausging: 16<br />

65<br />

66<br />

67<br />

Siehe, da nahte sich ihm des armen Patroklos Seele [ψυχή],<br />

Ganz in der großen Gestalt und den strahlenden Augen ihm ähnlich<br />

Auch in der Stimme, den Körper umhüllt von den Gleichen Gewändern<br />

(Hom. Il. 23, 65---67) 17<br />

204<br />

205<br />

206<br />

207<br />

[…] doch ich, im Sinne vergrübelt [φρεσὶ µερµηρίξας], verlangte<br />

Anzufassen die Seele [ψυχή] der eigenen verstorbene Mutter.<br />

Dreimal setzte ich an; mein Gemüt [θυµός] befahl mir zu fassen:<br />

Dreimal indessen entflog sie den Händen,<br />

ein Traum [ὄνειρος] nur, ein Schatten [σκιά].<br />

(Hom. Od. 11, 204---207)<br />

Obwohl damit wesentliche Aspekte der Bedeutung von ψυχή bei Homer bezeichnet<br />

sind, bleibt sein Seelenverständnis im engeren Sinn unabgegolten. Weil während<br />

der Vereinigung von Leib und Psyche alle Kräfte im Bereich des Leibes verbleiben,<br />

tritt die Bedeutung weiterer Lexeme hinzu.<br />

Maßgebliche Aspekte homerischer Anthropologie und Psychologie verbinden<br />

sich neben ψυχή insbesondere mit θυµός, φρήν und νόος, »wobei das erste das Organ<br />

der Affekte, Stimmungen, Gefühle, Ahnungen und des Spontanen ist, das<br />

zweite und dritte des Denkens, Überlegens, Verstehens, der wissenden Vernunft.«<br />

18 Dass auch damit die Seele keinesfalls hinreichend beschrieben ist, zeigt<br />

die eng verwandte Verwendung von Worten wie πραπίδες, κῆρ, καρδίη und ἦτορ in<br />

13<br />

Bremmer, Soul in Greece, 159.<br />

14<br />

Homer, Od. 10,495; Il. 23,100 f. Vgl. Rohde, Psyche I, 4; Finkenzeller, Seele, 279;<br />

Snell, Entdeckung, 19; Sonnemans, Seele, 58; Bremmer, Soul in Greece, 160. In der Forschung<br />

zu Homer ist weiterhin umstritten, ob die ψυχή schon als im lebenden Menschen<br />

anwesend gedacht wurde oder erst im Moment des Todes entstehend, vgl. Sonnemans,<br />

Seele, 66.<br />

15<br />

Vgl. Rohde, Psyche I, 4.<br />

16<br />

Vgl. Sonnemans, Seele, 59.<br />

17<br />

Die Übersetzungen griechischer Textbeispiele entstammen den im Literaturverzeichnis<br />

angeführten Ausgaben zu den jeweiligen Autorinnen und Autoren.<br />

18<br />

Woschitz, Elpis, 77. Vgl. Hom. Il. 6, 444---447 sowie Rohde, Psyche I, 3, Sonnemans,<br />

Seele, 57.


10.1 Vorsokratische Begriffsrekonstruktionen 307<br />

der epischen Sprache Homers. 19 Dabei können mit Ausnahme von ψυχή und νόος<br />

alle der bisher genannten Lexeme als psychophysisch charakterisiert werden, 20<br />

wenngleich sich nicht für alle eine explizite Referenz <strong>auf</strong> Körperteile findet. 21 Mit<br />

Sicherheit aber lässt sich dies für die Mehrheit der genannten Lexeme belegen:<br />

ἦτορ bezeichnet das Herz (Hom. Il. 16, 660 f.), ebenso wie κῆρ (Il. 16, 481) und<br />

καρδίη (Il. 13, 442), φρήν das Zwerchfell (Hom. Il. 16,481; Od. 9, 301) und πραπίδες<br />

die Taille oder auch das Zwerchfell (Il. 11, 579). 22 . Für die Körperlichkeit von θυµός<br />

dagegen finden sich allenfalls implizite Hinweise: er kann herausfallen (καταπίπτω,<br />

Il. 15, 280), den Ort des κῆρ im Menschen benennen (Il. 16, 523 f.) oder<br />

auch selbst schlagen (πατάσσω, Il. 7, 216). 23 Aus einzelnen Verhältnisbestimmungen<br />

dieser Lexeme zeichnet Jahn das folgende Bild für die homerischen Texte: 24<br />

ἦτορ<br />

κῆρ / καρδιή<br />

θυµός<br />

φρήν<br />

Abb. 11: Gliederungsprinzip homerischer psychophysischer Lexeme<br />

19<br />

Vgl. Schwabl, Seelenvorstellungen, 32; Jahn, Seele-Geist, 119. Die Übertragung psychischer<br />

Eigenschaften <strong>auf</strong> einzelne Organe findet sich nicht nur im Griechischen, sondern<br />

auch in anderen Sprachen: »Die Zuständigkeit von Körperteilen im Körperinneren für psychische,<br />

ebenfalls im Inneren empfundene Phänomene beruht <strong>auf</strong> einer Übertragung, die<br />

man bei fast allen menschlichen Kulturgemeinschaften von der Antike […] bis in unsere<br />

Zeit beobachten kann und der eine allgemeine menschliche Erfahrung von psychosomatischen<br />

Wechselbeziehungen zugrundeliegt.« --- Jahn, Seele-Geist, 10.<br />

20<br />

Zur Begrifflichkeit s. oben S. 93 f. mit Anm. 125<br />

21<br />

Vgl. Jahn, Seele-Geist, 10.<br />

22<br />

Vgl. Liddl-Scott, sub loc. Die Schwierigkeiten in der Übersetzung einzelner Lexeme<br />

zeigen die Problematik in der Rekonstruktion physiologischer Vorstellungen, vgl. Jahn,<br />

Seele-Geist, 9 f.<br />

23<br />

Vgl. Jahn, Seele-Geist, 11---17. Ob diese Belege die Zweifel an einer in den beschrieben<br />

Fällen vorliegenden metaphorischen Verwendung des Lexems auszuräumen vermögen,<br />

kann nicht Gegenstand der vorliegenden Studie sein und wäre an anderer Stelle eigenständig<br />

zu prüfen.<br />

24<br />

Jahn, Seele-Geist, 18 verweist zum Beleg <strong>auf</strong> Hom. Il. 20, 169 (ἐν δέ τέ οἱ κραδίῃ στένει<br />

ἄλκιµον ἦτορ), Il. 16, 523 f. (τὸ δ᾽ ἐµὸν κῆρ ἄχνυται ἐν θυµῷ) und Il. 8, 202 (ὀλοφύρεται ἐν<br />

φρεσὶ θυµός).


308<br />

10 Altgriechische Seelendiskurse<br />

In der psychophysischen Verwendung von Körperteillexemen zeigt sich, dass der<br />

homerische Mensch weder »Leib« noch »Seele« haben oder gar Leib und Seele sein<br />

kann: »Sowohl ein Körperteil wie die einem Organ zugeschriebenen Lebensäußerungen<br />

und geistigen Haltungen werden dem Menschen zugeschrieben.« 25 Dabei<br />

lassen sich die acht genannten Lexeme mit Jahn drei Gruppen zuordnen: 26<br />

1. ψυχή ist ein nach dem Tod schattenhaft weiterexistierender Teil des Menschen,<br />

der auch Züge eines Lebensprinzip <strong>auf</strong>weisen kann: sie beschreibt<br />

»Seele« als transzendent-religiösen Begriff (Freiseele, Totenseele)<br />

2. θυµός, φρήν (ἦτορ, κῆρ, καρδίη und πραπίδες) beschreiben in der Verwendung<br />

als seelisch-geistige Instanzen einen psychologischen Begriff, der<br />

leiblich konnotiert ist (Egoseele) 27<br />

3. νόος beschreibt schließlich in erster Linie geistige, rationale, theoretische<br />

Fähigkeiten (Egoseele) 28<br />

Für die Frage nach der Entwicklung des Seelebegriffs sind dabei besonders die<br />

Hinweise von Sonnemans <strong>auf</strong> die Bedeutung des νόος zu beachten, der neben einem<br />

Ort der Wahrheitserkenntnis auch den engen Bezug zum Göttlichen ausdrückt.<br />

29 Der θυµός wiederum begegnet neben den genannten Zusammenhängen<br />

besonders im Kontext menschlicher wie göttlicher (Selbst-)Reflexion bzw. des<br />

Selbstgesprächs. 30 Nähe wie Differenz zwischen dem zuweilen auch als »Lebensseele«<br />

bezeichneten θυµός und der ψυχή zeigen sich im Moment des Todes: 31<br />

221<br />

222<br />

Hat erst der Wille zum Leben [θυµός] die weißen Gebeine verlassen<br />

Dann aber fliegt die Seele [ψυχή] auch flatternd davon wie ein Traumbild.<br />

(Hom. Od. 11, 221 f.)<br />

Beide Worte schließen eine <strong>Hoffnung</strong> über den Tod hinaus aus. »Der Tod bringt<br />

für den homerischen Menschen die Privation des wirklichen Daseins mit sich, er<br />

25<br />

Sonnemans, Seele, 39 vgl. davor ebd.<br />

26<br />

Vgl. Jahn, Seele-Geist, 121.<br />

27<br />

Die These von Thomas Jahn zur Austauschbarkeit dieser sechs Begriffe bedürfte insbesondere<br />

vor dem Hintergrund der Kritik Müllers an der Arbeit von Lauha (s. oben S. 56)<br />

einer eingehenderen Darstellung wie Überprüfung, die hier jedoch nicht erfolgen kann.<br />

Dafür wäre darzustellen, inwieweit die Lexeme tatsächlich gegeneinander austauschbar<br />

sind, sodass sie lediglich dem Dichter ermöglichen, jede Aussage an jeder Hexameterposition<br />

<strong>auf</strong> jede beliebige Länge auszubauen oder ob doch bestimmte Konnotation vorhanden<br />

sind, die durch andere Lexeme nicht abgedeckt würden.<br />

28<br />

Vgl. Jahn ebd.<br />

29<br />

Vgl. Sonnemans, Seele, 37.<br />

30<br />

Vgl. Schwabl, Seelenvorstellungen, 35---38; Homer, Il. 11,403; 17,200.442. Die enge<br />

Verbindung von Menschlichem und Göttlichen zeigt sich in einem Bericht über eine göttliche<br />

Intervention in psychischen Vorgängen, bei der neben alternativen Überlegungen des<br />

Menschen ein Götterwort Teil des Entscheidungsvorgangs wird, vgl. Schwabl, Seelenvorstellungen,<br />

41---43; Homer, Il. 1,188---220.<br />

31<br />

Vgl. Sonnemans, Seele, 57; 60.


10.1 Vorsokratische Begriffsrekonstruktionen 309<br />

bedeutet für ihn das Ende.« 32 Unsterblichkeit gilt Homer allein als göttliches Attribut,<br />

das an keiner Stelle <strong>auf</strong> den Menschen übertragen wird, womit diese Übersicht<br />

das Verständnis der »Seele« in seinen Schriften ihrem Ende entgegen geht. 33<br />

Auch wenn im Zusammenspiel der drei oben zuerst genannten Worte ψυχή,<br />

θυµός und φρήν diese nicht als Teile einer monistischen »Seele« zu verstehen sind,<br />

zeichnet sich in ihrer konkreten Verwendung dennoch die Tendenz ab, ihre innere<br />

Zusammengehörigkeit zu erfassen. Es kann für Homer zwar schwerlich von einer<br />

quellensprachlich repräsentierten »Seele« gesprochen werden, gleichwohl sich in<br />

der Bedeutungsvarianz des Wortfelds durchaus eine vereinheitlichende Begriffsbildung<br />

abzeichnet. Das Fehlen einer einheitlichen Terminologie bedeutet nicht,<br />

dass auch ein Begriff fehlen muss. Damit bleibt festzuhalten, dass die Frage nach<br />

der Seele sich nie nur <strong>auf</strong> ein einzelnes Lexem kaprizieren kann, auch wenn sich<br />

ψυχή wirkungsgeschichtlich bedeutend von den anderen Worten abhebt. Deutlich<br />

wird das etwa am Einfluss von θυµός und νόος <strong>auf</strong> die spätere Bedeutungserweiterung<br />

von ψυχή. 34 Gleichwohl finden sich noch wesentliche Merkmale der Anthropologie<br />

Homers in der ihm folgenden Dichtung und zeugen von einer Weiterentwicklung<br />

des Seelebegriffs, der sich bisher wesentlich durch die Nähe zum Tod<br />

auszeichnet.<br />

10.1.2 Orphisch-pythagoreische Traditionen<br />

Mit den Namen Orpheus und Pythagoras verbindet sich ein konzeptueller Neuansatz,<br />

durch den die ψυχή und mit ihr die Begriffe »Seele« und »Unsterblichkeit« im<br />

Rahmen griechischer Religion zentrale Bedeutung erlangten. 35<br />

Orpheus ist im Mythos ein Sänger, dessen Dichtungen mindestens seit der<br />

zweiten Hälfte des 6. Jh. im Uml<strong>auf</strong> waren und deren Inhalt sich zuerst aus sekundären<br />

Überlieferungen erschließt. So verweist Platon (428/7---348/7) in seinen<br />

Schriften <strong>auf</strong> die orphische Annahme einer Verkörperung der Seele als Strafe. 36<br />

Aristoteles kennt »orphische Verse«, nach denen die ψυχή aus dem All mit dem<br />

ersten Atemzug der Lebewesen in diese eingeht, nämlich solche, die atmen. 37 Er<br />

weiß aber auch von »pythagoreische Mythen«, die nicht von einer einheitlichen,<br />

sondern einer beliebigen ψυχή und einem beliebigen Körper sprechen, sodass un-<br />

32<br />

Kalogerakos, Seele, 6.<br />

33<br />

Vgl. Sonnemans, Seele, 57; 66, sowie Kalogerakos, Seele, 1 f.<br />

34<br />

Vgl. Sonnemans, Seele, 30 f. im Anschluss an Böhme, Seele, 91---95.<br />

35<br />

Vgl. Burkert, Griechische Religion, 440; Sonnemans, Seele, 127; 170; Huffman, Pythagorean<br />

Conception, 21. Das genaue Verhältnis zwischen den mit den beiden Namen verbundenen<br />

Vorstellungen ist in der Überlieferung allerdings unklar und eine strenge Trennung<br />

daher nicht möglich: »Denn einerseits führt sie Orphisches <strong>auf</strong> Pythagoras zurück,<br />

während sie andererseits Pythagoras zum Empfänger orphischen Gedankenguts macht.« ---<br />

Kalogerakos, Seele, 144. Zur Kontinuität nach Homer siehe Hesiod zur Verwendung von<br />

ψυχή als »Lebenshauch« oder »Leben«, vgl. a.a.O. 7, siehe auch Arist. an. I,2 404a 16---20.<br />

36<br />

Plat. Krat. 400c; Phaid. 62b.<br />

37<br />

Arist. an. I,2 410b 29.


310<br />

10 Altgriechische Seelendiskurse<br />

klar bleibt, welcherart die Seele ist und wie beschaffen der Körper sein muss, der<br />

sie <strong>auf</strong>nimmt. 38 Hier gewinnt die ψυχή deutlich Züge einer Vitalseele.<br />

In ihrer Disparatheit stimmen die pythagoreischen und orphischen Zeugnisse<br />

darin überein, dass ihnen die ψυχή in erster Linie als Sitz von Emotionen gilt,<br />

wobei das Lexem zugleich insbesondere im Zusammenhang mit den Vorstellungen<br />

einer den Tod überdauernden Existenz steht. 39 Hatte es noch bei Homer keine<br />

<strong>Hoffnung</strong> über den Tod hinaus gegeben, entwickeln sich nun weiterführende Vorstellungen<br />

des Schicksals nach dem Tod, zu deren markantesten Ausformungen<br />

eine meist negativ behaftete Seelenwanderungslehre gehört, wie sie etwa Pindar<br />

(6. Jh.) und Empedokles (5. Jh.) kennen. 40 Ähnlich der orphischen Tradition gilt<br />

auch den pythagoreischen Autoren der Körper als ein Grab oder Gefängnis (σῆµα)<br />

der ψυχή: 41<br />

Es bezeugen aber auch die alten Gotteskünder und Seher, daß infolge bestimmter Strafandrohungen<br />

die Seele [ψυχή] mit dem Körper [σῶµα] zusammengejocht und wie in<br />

einem Grab [σῆµα] in ihm bestattet ist.<br />

(Philolaos, FVS 44 B 14)<br />

Allerdings darf der Zusammenhang zwischen Seele und Leib ob der schillernden<br />

Bedeutung von σῆµα nicht zu einer vorschnellen Abwertung von letzterem führen.<br />

42 Platon führt hierzu später in einer Etymologie im Kratylos aus, dass der Körper<br />

als σῆµα die ψυχή gerade entgegen ihrer schweren Schuld erhalte:<br />

Denn einige sagen, die Körper wären die Gräber [σῆµα] der Seele [ψυχή], als sei sie<br />

darin begrabend liegend für die gegenwärtige Zeit. Und wiederum weil durch ihn die<br />

38<br />

Arist. an. I,2 407b 20, vgl. Burkert, Griechische Religion, 444 f. Pythagoras wird von<br />

Xenophanes die Auffassung zugeschrieben, dass seiner Lehre entsprechend in einem »geprügelten<br />

Hund« die Seele eines Freundes stecken könnte (Xenophanes, FVS 21 B 7).<br />

39<br />

Vgl. Huffman, Pythagorean Conception, 23. Schon bei Herodot bezeichnet das Lexem<br />

neben »Leben« ebenso Emotionalität und Verlangen: »Überlege dir, was du unter allen deinen<br />

Gütern wohl für das wertvollste hältst und über dessen Verlust du am traurigsten wärest!<br />

[ἐπ᾽ ᾧ σὺ ἀπολοµένῳ µάλιστα τὴν ψυχὴν ἀλγήσεις]« --- Hdt. 3, 40; »[…] und sagte, es sei<br />

schlecht, den Geist zu lehren, immer noch mehr besitzen zu wollen [καὶ λεγούσης ὡς κακὸν<br />

εἴη διδάσκειν τὴν ψυχὴν πλέον τι δίζησθαι αἰεὶ ἔχειν τοῦ παρεόντος] […]« --- Hdt. 7,16 vgl. Huffman,<br />

Pythagorean Conception, 24---27; ferner Philolaos, FVS 44 B 13.<br />

40<br />

Vgl. Sonnemans, Seele, 92---95; Schwabl, Seelenvorstellungen, 52; Huffman, Pythagorean<br />

Conception, 35 f. mit Pind. O. 2, 68---71; Empedokles FVS 31 B 115.<br />

41<br />

Kalogerakos weist <strong>auf</strong> die Unsicherheit der Echtheit dieses Fragments hin, wenngleich<br />

die Grundzüge einer σῶµα-σῆµα-Lehre altpythagoreisch sein dürfen, vgl. Kalogerakos,<br />

Seele, 104 f. mit Anm. 23 und 29.<br />

42<br />

Ob σῆµα hier tatsächlich im Sinne von »Grab« verwendet wird oder eher als Gefängnis<br />

zu verstehen ist, kann nicht klar entschieden werden, vgl. Ferwerda, The Meaning of σῆµα,<br />

passim. Kalogerakos verweist dazu <strong>auf</strong> Plat. Gorg. 493a---b und Phaid. 62b. Nach letzterem<br />

ist die Seele nach Philolaos ὡς ἔν τινι φρουρᾷ eingeschlossen, vgl. Kalogerakos, Seele, 105<br />

mit Anm. 26 und 27.


10.1 Vorsokratische Begriffsrekonstruktionen 311<br />

Seele alles begreiflich [σηµαίνω] macht, was sie andeuten will, auch deshalb heißt er<br />

mit Recht so gleichsam der »Greifer« und »Griffel« [σῆµα]. Am richtigsten jedoch scheinen<br />

mir die Orphiker diesen Namen eingeführt zu haben, weil nämlich die Seele, weswegen<br />

es nun auch sei, Strafe leider und deswegen nun Befestigung [περίβολος] habe,<br />

damit sie doch wenigstens erhalten werde, wie in einem Gefängnis [ἵνα σῴζηται,<br />

δεσµωτηρίου εἰκόνα]. Dieses also sei nun für die Seele, bis sie ihre Schuld bezahlt habe,<br />

genau was er heißt, so daß man kaum einen Buchstaben zu ändern brauche, der Körper<br />

ihr Kerker.<br />

(Plat. Krat. 400c)<br />

Dem platonischen »Situationsmythos« (Paul Ricœur) zufolge würde in der Deutung<br />

von σῶµα als σῆµα der Leib also nicht zum Ursprung des Bösen stilisiert, da<br />

»die Seele selbst ein früheres Böses mitzubringen [scheint, d.Vf.], das sie in diesem<br />

Leib sühnt; aber dieser ›Gewahrsam, der wie ein Gefängnis ist‹, empfängt von<br />

seinem Bußcharakter seine Bedeutung als Entfremdung« 43 . Der Mythos tendiert<br />

also merklich in Richtung einer negativen Konnotation leiblicher Existenz, die als<br />

das fremde Andere im Gegenüber zum eigentlichen Ichselbst <strong>auf</strong>gefasst scheint. 44<br />

Diese Deutung wird <strong>auf</strong> der Ebene des Mythos in einer kontradiktorischen Interpretation<br />

von Leben und Tod vollendet, mit der der Körper gleich dem Hades als<br />

ein Ort der Strafe erscheint und in diesem Licht der Tod eine Neubewertung erfährt:<br />

45<br />

43<br />

Ricœur, Symbolik des Bösen, 324 (Herv. i.O.), vgl. dazu und im Folgenden Sonnemans,<br />

Seele, 148 f. Ricœur unterscheidet einen voll ausgearbeiteten ätiologischen Mythos von einem<br />

Situationsmythos, »von einem Mythos also, der jetzigen Situation des Menschen, der<br />

die ›Seele‹ und den ›Leib‹ als unterschiedliche Größen und Vermögen enthüllt […], wenngleich<br />

er sich noch über den Ursprung ihrer Verschränkung ausschweigt.« --- Ricœur, Symbolik<br />

des Bösen, 323. Dieser »Situationsmythos« wird dabei erst vergleichsweise spät mit<br />

der Entstehung des Menschen in Zusammenhang gebracht: Nach späteren Versionen vergewaltigt<br />

Zeus seine Mutter Demeter und zeugt Persephone, die er wiederum ebenso vergewaltigt<br />

und Dionysos zeugt. Dem übergibt er die Herrschaft, wor<strong>auf</strong>hin Dionysos von den<br />

Titanen vom Thron gestoßen, getötet und gegessen wird. Zeus verbrennt als Reaktion hier<strong>auf</strong><br />

die Titanen mit seinem Blitz und aus dem <strong>auf</strong>steigenden Ruß entstehen Menschen. So<br />

erbt der Mensch sowohl die gewaltsame Natur der Titanen als auch die des Gottes Dionysos,<br />

vgl. Burkert, Griechische Religion, 443 f.; Ricœur, Symbolik des Bösen, 340.<br />

Für den vorliegenden Kontext bemerkenswert sind die Parallelen zu akkadischen Texten.<br />

Die Entstehung der Menschen durch Tötung eines Gottes findet sich ebenso in Atra-ḫasīs<br />

(von Soden, TUAT 3, 623 f.) und Enūma eliš (vgl. Lambert, TUAT 3, 592), vgl. Kalogerakos,<br />

Seele, 147.<br />

44<br />

Ricœur, Symbolik des Bösen, 340 f.<br />

45<br />

Vgl. Ricœur, Symbolik des Bösen, 327, der überdies <strong>auf</strong> Heraklit, FVS 22 B 62 verweist:<br />

»Unsterbliche: Sterbliche, Sterbliche: Unsterbliche, denn das Leben dieser ist der Tod<br />

jener und das Leben jener der Tod dieser.«


312<br />

10 Altgriechische Seelendiskurse<br />

Wer weiß, ob unser Leben nicht ein Tod nur ist, gestorben sein dagegen Leben?<br />

(Euripides, Plat. Gorg. 492e)<br />

Zunehmend fällt damit in der orphisch-pythagoreischen Tradition eine Differenzierung<br />

zwischen (Vital-), Ego- und Freiseele schwer. Mit der Typologie Wernharts<br />

wird am ehesten wohl von einer Egoseele zu sprechen sein, insofern diese auch<br />

den Aspekt einer Freiseele repräsentieren kann, während die Charakteristika einer<br />

Vitalseele insgesamt deutlich schwächer akzentuiert werden.<br />

Jenseits des Mythos und einer systematisierenden Deutung des Seelebegriffs<br />

ist für die folgenden Entwicklungen bestimmend, dass jegliche Ausgestaltung einer<br />

Seelenwanderungslehre die basale Unterscheidung von Körper und »Seele«<br />

voraussetzt, mit der Lebewesen ein individuelles, beständiges Element zugedacht<br />

wird. Die Seele ist kein kraftloses Schattenbild, das nach dem Tod des Körpers in<br />

den Hades gelangt. Sie wird den Tod nicht länger affiziert und kann in Übernahme<br />

des ehemals göttlichen Attributs als unsterblich (ἀθάνατος) gelten. 46 Diese Möglichkeit<br />

ist in der altgriechischen Lyrik indes noch kaum bedacht, <strong>auf</strong> die zuvor<br />

abschließend zur Übersicht über vorsokratische Begriffsrekonstruktionen anschließend<br />

kurz einzugehen ist.<br />

10.1.3 Vorsokratische Philosophie und Lyrik<br />

Die Entwicklung des mit ψυχή bezeichneten Begriffs lässt sich im Rahmen vorsokratischer<br />

Philosophie nicht immer klar von religiösen Traditionen abgrenzen und<br />

kann keineswegs als einheitlich gelten. 47 Jenseits inhaltlicher Divergenzen vollzieht<br />

sich in formaler Hinsicht seit Homer ein Wandel vom Epos zur Lyrik samt<br />

weiterer Sprachformen, mit dem zunehmend Mahnungen und Reflexionen ins<br />

Zentrum von Texten gerückt werden, sodass auch der Seelebegriff deutlicher profiliert<br />

wird. 48<br />

Anders als in orphisch-pythagoreischen Texten scheint es in der alten Lyrik,<br />

etwa bei Kallinos (7. Jh.) und Anakreon (6. Jh.), dem Menschen nach wie vor unmöglich<br />

dem Tod zu entrinnen. Gleichwohl aber ergeht auch hier der Rat, nicht zu<br />

sehr am Leben (ψυχή) zu hängen. 49 Am Lebensende wird der θυµός »ausgehaucht«<br />

(ἀποπνέω), der gemeinsam mit ψυχή dasjenige kennzeichnet, was das Leben des<br />

Menschen im Kern ausmacht und erhält. 50 Obwohl das Wort gleichzeitig eine abgeschlossen-reflexive<br />

Innerlichkeit beschreiben kann, zu der einzig noch die Göt-<br />

46<br />

Vgl. Burkert, Griechische Religion, 446 f. Ob die Seele direkt nach dem Tod in einen<br />

neuen Körper eingeht, aus dem Kreisl<strong>auf</strong> der Geburten ausscheidet oder wo sie sich befindet,<br />

falls sie sich nicht unmittelbar wieder mit einem Körper verbindet, ist unklar (vgl. Hdt.<br />

2, 123 [= FVS 14,1]; Arist. an. I,2 404a 16---20), vgl. Kalogerakos, Seele, 116.<br />

47<br />

Vgl. Sonnemans, Seele, 162.<br />

48<br />

Vgl. Fränkel, Dichtung und Philosophie, 170.<br />

49<br />

Vgl. ψυχή und φιλοψυχέω in Tyrtaios, FGL I 7,17 f.; 24; Kallinos, FGL I 1,10---13; Anakreon,<br />

FGL III 44, 9---12<br />

50<br />

Tyrtaios, FGL I 7,24; 9,18. Zum Körperbezug von θυµός s. Tyrtaios, FGL I 10.


Dritter Teil<br />

Die menschliche Seele zwischen Wort<br />

und Begriff


13 Elementarisierung<br />

Der Begriff »Seele« in den Psalmen<br />

Nach einer Betrachtung der religiösen Innerlichkeit in den Psalmen einerseits und<br />

der historischen wie gegenwärtigen Begriffsspanne von »Seele« andererseits kann<br />

die Frage nach der Korrelation der Befunde in ihrer Bedeutung für die alttestamentliche<br />

Anthropologie gestellt werden. Als sachgemäß für eine konzeptionelle<br />

Deutung der religiösen Innerlichkeit im Psalter erweist sich dabei eine Orientierung<br />

an dem von Malte Krüger skizzierten bildhermeneutischen Zugriff. 1 Sein Ansatz<br />

greift einerseits in systematisch-theologischer Hinsicht die zentralen Plausibilitäten<br />

aus der Begriffsgeschichte <strong>auf</strong> und bewegt sich andererseits in eben den<br />

Bahnen, die sich in den hermeneutischen Vorüberlegungen zur Bildsprache der<br />

Psalmen als wegweisend erwiesen hatten. Er verbindet »die Hintergründigkeit des<br />

Lebens, die Selbstbegrenzung des Bewusstseins und die Selbstrelativierung der<br />

Sprache« 2 und erhebt in der Wahrnehmung der Bildlichkeit von Sprache die zentralen<br />

Denkformen alttestamentlicher Poesie zum Prinzip. Die bildhermeneutischen<br />

Überlegungen explizieren also nicht allein die Bedeutsamkeit früherer emotionspsychologisch<br />

geprägter Erwägungen zum Seelebegriff, sondern markieren<br />

allgemein die Voraussetzung für deren Übertragbarkeit <strong>auf</strong> die alttestamentliche<br />

Anthropologie.<br />

In weitmöglichster Abstraktion erschließt sich das Seelenverständnis der<br />

Psalmen als ein dem menschlichen Bildvermögen entsprechendes Selbstverhältnis.<br />

Die Struktur des Begriffs entfaltet den Menschen also als ein Wesen, »das sich<br />

zu sich selbst verhält« 3 . Die bildhermeneutische Interpretation des Selbstverhältnisses<br />

aus der religiösen Innerlichkeit der Psalmen vertieft damit konsequent den<br />

ästhetischen Ansatz, der sich in den emotionspsychologisch geprägten Bestimmungen<br />

des Seelebegriff abgezeichnet hatte. Die Entfaltung deckt sich in den unterschiedlichen<br />

Textzeugnissen der Psalmen in äußerster Sublimität mit der<br />

sprachphilosophisch-hermeneutische Einsicht, dass die Seele, sich im Vollzug bildend,<br />

nicht selbst zur Sprache gebracht werden kann und semantisch nicht eindeutig<br />

repräsentiert ist. Eben dieser Daseinsvollzug ist zu entfalten, dem die Seele<br />

1<br />

2<br />

3<br />

S. oben S. 372 ff.<br />

Vgl. Krüger, Seelsorge, 118.<br />

Seebass, Art. næpæš, 537, vgl. Barth, Innerlichkeit, 325.


392<br />

13 Elementarisierung<br />

als spezifisches Selbstverhältnis korreliert und in dem sich der tiefe Sinn des Diktums<br />

Schillers spiegelt: »Spricht die Seele so spricht ach! schon die Seele nicht<br />

mehr.« 4<br />

In äußerster Sublimität ist damit der wesentliche Gehalt des Folgenden vorgezeichnet.<br />

Als das Grundmoment des Seelebegriff hatten die begriffsgeschichtlichen<br />

Erwägungen das Erleben ausgemacht, das sich ebenso in der alttestamentlichen<br />

Anthropologie als ein bestimmendes Merkmal ausweisen lässt. 5<br />

Das Er-<br />

Leben rekurriert als Derivat <strong>auf</strong> einen erweiterten Lebensbegriff, wie ihn die Forschung<br />

insbesondere für das Verständnis von נפש als bedeutungskonstitutiv herausgestellt<br />

hat. Eindrucksvoll hat die Auslegung von Psalm 38 dies zwischen einer<br />

psychischen und einer physischen Konnotation des Sinngehalts herausgestellt:<br />

Und es stellen mir Fallen<br />

die mir nach meiner meinem Leben 6 Trachtenden<br />

und die mein Unheil Suchenden reden Verderben<br />

und Trug sinnen sie den ganzen Tag.<br />

(Ps 38,13)<br />

Es ist für das weitere Begriffsverständnis von zentraler Bedeutung, dass der Vers<br />

den eminent körperlichen Vollzug des Erlebens betont. Er bringt ein Moment der<br />

Ganzheit zum Ausdruck, das zum einen die in der Auslegung konstatierte Leerstelle<br />

im Begriff der Innerlichkeit überspringt und zugleich eine starke Trennung<br />

von Körper und Geist unterläuft. 7 Erleben ist immer unmittelbar, individuell und<br />

authentisch:<br />

Daher freut sich mein Herz und es jauchzt mein kavod 8 ,<br />

auch mein Fleisch wird in Sicherheit wohnen.<br />

(Ps 16,7)<br />

Denn meine Sehnen sind voll Brand<br />

und es gibt nichts Unversehrtes an meinem Fleisch.<br />

(Ps 38,8)<br />

Untrennbar zeigen sich psychisches und physisches Leid im Leiberleben miteinander<br />

verbunden, unvermittelt erfährt sich das lyrischen Ich körperlich im Wandel<br />

seines Zumuteseins. Darum lässt sich das, wovon die unterschiedlichen Psalmen<br />

voll Bedrängnis oder überschwänglicher Freude zeugen, bei aller Differenz<br />

<strong>auf</strong> das individuelle Erleben zurückführen. Auf diese Weise bildet der Begriff die<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

Schiller, Tabulae Votivae Nr. 84, Sprache.<br />

S. oben S. 364.<br />

Zur Übersetzung von נפש als »Leben« s. unten S. 443.<br />

Zu den Grenzen von »Innerlichkeit« s. oben S. 289 ff.<br />

Zur Übersetzung von כבוד in Ps 16,7 s. unten S. 447.


13 Elementarisierung 393<br />

offene Grundsituation der Psalmen zwischen Abstraktion und Konkretion in einer<br />

spezifischen Dynamik ab, die am besten in der Spannung zwischen Rezeptivität<br />

und Spontaneität darstellbar ist. »Erleben« bezeichnet immer beides, sowohl Passivität<br />

als auch Aktivität, das erleidende Objekt wie das handelnde Subjekt. Neben<br />

dem sich darin abhebenden Deutungspotential der Arbeit von Kirsten Huxel erweisen<br />

sich die Psalmen als ebenso offen für die systematisch-theologischen Ausführungen<br />

von Roderich Barth, die die bisherigen Überlegungen weiterführen.<br />

Allen der in dieser Studie dargestellten Psalmen liegt diese innere Struktur<br />

des Erlebens zugrunde, die das Ich immer wieder neu zum Gebet anheben lässt.<br />

Besonders deutlich tritt sie in Psalm 51 hervor: Das Erleben des lyrischen Ich bewegt<br />

sich eindrücklich zwischen selbsttätigem Tun und empfänglichem Erleiden<br />

und erscheint darin nie rein an sich, sondern immer schon gedeutet. Das Gebet in<br />

der ersten Person Singular setzt unumgänglich einen Akt der Reflexion voraus,<br />

ohne den es sich nicht in Worte fassen ließe. Auf der einen Seite öffnet sich das<br />

Dasein gegenüber äußeren Einflüssen und will sich von ihnen bewegen und verändern<br />

lassen, es will hören ‏,תשמיעני)‏ V.10). Zugleich will es aus sich heraustreten<br />

und sich in die Welt hineinwirkend entfalten, es will mit »willigem Geist« lehren:<br />

Bring mir wieder den Jubel deiner Hilfe<br />

und mit einem willigen Geist stütze mich.<br />

(Ps 51,14)<br />

[Rezeptivität]<br />

[Spontaneität]<br />

Ähnlich beschreibt Ps 16,10 f. den Einfluss der Erfahrung umfänglicher Bewahrung<br />

<strong>auf</strong> das emotionale Erleben und ordnet sich selbst der Gruppe der Gottesfürchtigen<br />

zu (Ps 16,3). Auf das engste aber fallen beide Aspekte in Ps 38,14 f.<br />

zusammen, die sich in der Auslegung als Hinweis <strong>auf</strong> eine bewusste Affektkontrolle<br />

erwiesen hatten: Das betende Ich sieht zwar, wie nahestehende Menschen<br />

von ihm abrücken und es vernimmt auch die feindlichen Hassreden und Verleumdungen<br />

(Ps 38,13). Es wendet sich aber bewusst ab und sucht frei von ihnen sein<br />

Leiden in erneuerte Tat zu wandeln (Ps 38,16), sodass sich im Wechselverhältnis<br />

aus Rezeptivität und Spontaneität Affekt und Emotion im Sinne Hartmut Rosas abbilden<br />

(vgl. Ps 51,10.14; 143,4). 9<br />

14<br />

15<br />

Aber ich bin wie ein Tauber, ich werde nicht hören<br />

und wie ein Stummer, der nicht seinen Mund öffnen wird.<br />

Und ich wurde wie einer, der nicht hört<br />

und in seinem Mund keine Widerrede hat.<br />

(Ps 38,14 f.)<br />

Dieses Erleben ist kein einzelner Moment, sondern eine offene Folge unzähliger<br />

Erlebnisse und weist damit aus sich selbst heraus <strong>auf</strong> seine zeitliche Struktur.<br />

Grundsätzlich steht die erlebte Gegenwart aus Rezeptivität und Spontaneität da-<br />

9<br />

Zur Resonanztheorie von Hartmut Rosa s. oben S. 236 f.


394<br />

13 Elementarisierung<br />

rum in der bereits von Augustin benannten Gefahr, sich zwischen dem vergangenen<br />

»Nicht-mehr« und dem zukünftigen »Noch-Nicht« zu verlieren (vgl.<br />

Ps 39,6 f.): 10<br />

Jhwh, Anteil meines Teils und meines Bechers,<br />

du bist es, der mein Schicksal hält.<br />

(Ps 16,5)<br />

Hinten und vorne umschließt du mich<br />

und hast <strong>auf</strong> mich gelegt deine Hand.<br />

(Ps 139,5)<br />

Ob als Schicksal oder in der Hand Gottes: das Erleben erscheint je als ein metastabiler<br />

Zustand, den einzig Jhwh (er-)halten kann. Das affektive Gepräge des Erlebens,<br />

sein passives Erleiden, verweist dabei <strong>auf</strong> die von Konrad Stock markierte<br />

Differenzierung von Erlebnissen der Vergangenheit als entweder ermutigend oder<br />

bedrückend. Dass Stock von ihr als der Wirklichkeit des Daseins spricht, kommt<br />

in bemerkenswerter Weise der ausgezeichneten Bedeutung der Vergangenheit in<br />

der Perspektive alttestamentlicher Anthropologie gleich und unterstreicht den<br />

Ausgang der Darstellung vom Begriff des Erlebens. 11 Sie ist der entscheidende Bezugspunkt,<br />

der zuerst die Wirklichkeit bestimmt. In den Psalmen kommt zwischen<br />

Affekt und Emotion das <strong>auf</strong> Resonanz hin angelegte Erleben eines betenden<br />

Ich zum Ausdruck, wie es sich zuerst aus der Erinnerung heraus darstellt. In der<br />

Deutung von Psalm 38 und 51 erscheint diese Gegenwart in der individuellen Erinnerung<br />

als bedrückend (Ps 38,4; 51,6, vgl. 42,7), während Psalm 16 und 42 die<br />

ermutigenden Momente vergangener Zeiten herausstellen (Ps 16,2; 42,5) und<br />

Psalm 143 dies gar im Verweis <strong>auf</strong> die kollektive Erinnerung ergänzt (Ps 143,5).<br />

Das Wechselverhältnis beider Momente reflektiert Psalm 42 im freudigen Gedenken<br />

angesichts akuter Trauer:<br />

4<br />

5<br />

Meine Tränen waren mir Brot bei Tag und Nacht,<br />

während man mir den ganzen Tag sagt: Wo ist dein Gott?<br />

Daran will ich denken und meine nefesh über mir ausgießen,<br />

dass ich einherziehen will im Gedränge,<br />

10<br />

Auf die alttestamentliche Bedeutung des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart<br />

und Zukunft verweist auch Schüle im Hinblick <strong>auf</strong> eine gesamtbiblische Hermeneutik. Im<br />

Anschluss an geläufige Konzepte biblischer Hermeneutik, die zuerst die Diastase von Erinnerung<br />

und Erwartung betonen, ergänzt er diese um das kritische Potential gegenwartsbezogener<br />

Erfahrung, vgl. Schüle, Erinnerung, 111.<br />

11<br />

S. oben S. 254 mit Abb. 8.


13 Elementarisierung 395<br />

wandeln will ich zum Haus Gottes mit jubelnder und dankender Stimme,<br />

[in] einer feiernden Menge.<br />

(Ps 42,4 f.)<br />

Aus der vorbewussten Reflexion des doppelten Ausgangs der Vergangenheit erwächst<br />

eine gegenwartsbezogene Deutung zukünftiger Erwartung. Häufig stehen<br />

dabei besonders die den Beschreibungen des Erlebens entspringenden <strong>Hoffnung</strong>en<br />

im Mittelpunkt, die bisweilen eng mit Befürchtungen oder Unsicherheiten<br />

über das Kommende zusammenhängen können (vgl. Ps 16,11; 43,3; 143,11 f.):<br />

16<br />

17<br />

Ja, <strong>auf</strong> dich, Jhwh, harre ich;<br />

du wirst antworten, Herr, mein Gott.<br />

Wenn ich spreche: Sie sollen sich nicht über mich freuen;<br />

beim Wanken meines Fußes sich gegenüber mir groß machen.<br />

(Ps 38,16 f.)<br />

Ein besonderes Bewusstsein für die Ambivalenz von Zukunftsgedanken gewärtigen<br />

deutungsoffene Passagen wie Ps 19,15 oder 139,9 f., die den relativen Charakter<br />

der vorgelegten Begriffsrekonstruktion unterstreichen und zeigen, dass es<br />

sich naturgemäß um notwendige Abstraktionen handeln muss. In der gebotenen<br />

Abbreviatur steht das in den Psalmen zum Ausdruck kommende Erleben untrennbar<br />

mit einer der Zeitlichkeit entspringen Deutung zusammen, ob derer es mit<br />

Stock als zwischen Macht und Ohnmacht stehend <strong>auf</strong>gefasst werden kann. Von<br />

hieraus erschließt sich die tiefere Bedeutung der Leiblichkeit. Sie ist für den weiteren<br />

Zusammenhang der Darstellung <strong>auf</strong>zunehmen und zu akzentuieren.<br />

Angesichts der Zeitlichkeit stellt sich die Frage, warum das Erleben dennoch<br />

als ein geschlossenes Ganzes erscheint. Wiederum erweisen sich die Psalmen dabei<br />

als offen für eine Deutung aus den systematisch-theologischen Ausführungen.<br />

Was Ulrich Barth in seiner Rekonstruktion des Seelebegriffs als die leibliche Perspektivierung<br />

von Stimmungen im »Zumutesein« beschreibt, besitzt in den Psalmen<br />

eine bemerkenswerte Übereinstimmung im Aspekt der unhintergehbaren<br />

Körperlichkeit des Daseins. Aufgrund seiner Zeitlichkeit kann das Erleben des betenden<br />

Ich nur als eine geschlossene Einheit erscheinen, weil es <strong>auf</strong> denselben<br />

Körper bezogen ist. Ohne ihn blieben die diskreten Erlebnismomente zusammenhangslos.<br />

Den spezifischen Gehalt dessen erschließt wie zuvor eine Relecture exegetischer<br />

Betrachtungen des ersten Teils. Die vormals genannten Aspekte <strong>auf</strong>greifend<br />

schreitet die Beschreibung mit ihr spiralförmig weiter voran, um den eigentümlichen<br />

Bedeutungshintergrund des in Absicht stehenden alttestamentlichen<br />

Begriffs von Seele ansichtig werden zu lassen:


396<br />

13 Elementarisierung<br />

4<br />

5<br />

Es gibt nichts Unversehrtes an meinem Fleisch<br />

[Erleben]<br />

<strong>auf</strong>grund deiner Verwünschung;<br />

es gibt nichts Heiles an meinen Knochen<br />

<strong>auf</strong>grund meiner Sünde.<br />

‏,[כי]‏ Ja<br />

meine Vergehen wachsen ‏[עברו]‏ über meinen Kopf; [Deutung: Erinnerung]<br />

wie eine schwere Last sind sie zu schwer ‏[יכבדו]‏ für mich. [Deutung: Erwartung]<br />

(Ps 38,4 f.)<br />

Auf den Gehalt von V.4 war bereits im Zuge der Einführung des Erlebensbegriff<br />

hingewiesen worden. Im Nominalsatz beschreibt das lyrische Ich seine gegenwärtige<br />

Verfasstheit, bevor mit V.5 der zeitliche Aspekt thematisch wird. Die Erfahrung<br />

wird bestimmt durch Erinnerung und Erwartung, weil das leidvolle Dasein<br />

zum einen <strong>auf</strong> die bedrückende Dimension der Schuld zurückgeht ‏,עברו)‏ AK) die<br />

zum anderen stets weiterhin befürchtet vor Augen steht ‏,יכבדו)‏ PK). Dass alle der<br />

genannten diskreten Erlebniszustände ein und demselben Menschen zuordenbar<br />

sind, wird durch die Leiblichkeit des betenden Ich verbürgt, von wo aus sich der<br />

besondere Gehalt des Gebets als solches erschließt. Im Verweis <strong>auf</strong> Erinnerung<br />

und Erwartung tritt ein nächster Aspekt hinzu: Vergangenheit und Zukunft erscheinen<br />

in dem Gebet nicht für sich, sondern als Deutungen im psychosomatischen<br />

Verhältnis der Wirkung vorreflexiver Bewusstseinszustände <strong>auf</strong> körperliches<br />

Empfinden. 12 Es ist dieser Zusammenhang aus Erleben und Deutung, den die<br />

Struktur von Ps 38,4 f. im kausalen כי heraushebt: Weil die Schuld jegliches Maß<br />

übersteigt und darum auch alles Kommende bestimmt, darum gleicht das gegenwärtige<br />

Empfinden in jeglicher Hinsicht physisch wie psychisch ; ב ש ר)‏ ‏(עצם einer<br />

totalen Gebrocheneinheit.<br />

Dieser Zusammenhang wirft ein neues Licht <strong>auf</strong> Stellung und Funktion von<br />

Leiblichkeit, weil sie sich unbenommen ihrer fraglos grundlegenden Bedeutung<br />

in den angeführten Textbeispielen doch als eine »relative Leiblichkeit« 13 darstellt.<br />

Sowohl die spezifischen kontextuellen Verwendungsweisen einzelner Lexeme wie<br />

Anthropo- , aber auch die Kategorie des Erlebnisses zeigen, dass die ר ו ח oder נפש<br />

logie der Psalmen kaum in einem monokausalen Verweis <strong>auf</strong> die Leiblichkeit als<br />

»ganzheitlich« erscheinen kann. Was dem Befund näher liegt, ist eine emergenztheoretische<br />

Perspektive <strong>auf</strong> verschiedene Ebenen von Wirklichkeit in einer ontologisch<br />

monistischen Welt. 14 Denn im Leibbezug bleiben die diskreten Erlebnis-<br />

12<br />

Inwiefern die Texte überdies auch den umgekehrten Weg gewärtigen und also nicht<br />

allein die Wirkungen psychischer Vorgänge <strong>auf</strong> den Körper voraussetzen, sondern ebenso<br />

somatopsychisch die Bedeutung körperlicher Empfindungen für die Erfahrung betrachten,<br />

geht aus den untersuchten Psalmen allenfalls indirekt hervor und muss hier offenbleiben.<br />

13<br />

Zur Einführung des Begriffs s. oben S. 187, zur Entfaltung s. unten S. 426.<br />

14<br />

Die Emergenztheorie geht antireduktionistisch davon aus, dass ein naturwissenschaftlicher<br />

Allgemeingültigkeitsanspruch prinzipiell uneingelöst bleibt: »Emergence theories<br />

presuppose that the once-popular project of complete explanatory reduction --- that is, explaining<br />

all phenomena in the natural world in terms of the objects and laws of physics ---


13 Elementarisierung 397<br />

momente zwar nicht unverbunden, gleichwohl aber beliebig, wenn sie nicht im<br />

Zusammenhang mit Deutung gesehen werden: Eine Begegnung oder ein Eindruck<br />

wird zum Erlebnis, weil das leibhafte Erleben gestimmt ist und mit Deutung einhergeht.<br />

Weil der spezifische Gehalt dessen nicht notwendig aus der Bedeutung<br />

von Leiblichkeit hervorgeht, erschließt die »Stimmung« eine eigene Art von Wirklichkeit<br />

und ist das Verständnis von Leiblichkeit differenzierter zu betrachten.<br />

Wie das Moment der Stimmung zu verstehen ist, das den Zusammenhang aus Erleben<br />

und Deuten motiviert, zeigen Stellung und Funktion von Emotionalität in<br />

den dargestellten Textzusammenhängen.<br />

In den Psalmen erweist sich die Emotionalität leiblichen Erlebens als derart<br />

bedeutungskonstitutiv, dass sie wiederholt Momente der Reflexion, Kognition<br />

oder Volition überwiegt (vgl. Ps 16,11; 42,4 f.; 143,4 u.a.). Diese Einsicht erschließt<br />

den zentralen Bestandteil des in Frage stehenden Begriffs, dessen besondere<br />

Bedeutung beispielhaft Psalm 38 ansichtig werden lässt. Der Schrei des tosenden<br />

Herzens versinnbildlicht in V.7---9 nicht allein einen spontanen Gefühlsausdruck,<br />

sondern fasst den emotionalen Gesamtzusammenhang des Erlebens zusammen:<br />

7<br />

8<br />

9<br />

Ich bin verstört, ich bin sehr tief ‏[עד־מאד]‏ gebeugt;<br />

den ganzen Tag ‏[כל־היום]‏ gehe ich verfinstert.<br />

Denn meine Sehnen sind voll ‏[מלאו]‏ Brand<br />

und es gibt nichts Unversehrtes מתם]‏ ‏[אין an meinem Fleisch.<br />

Ich bin erschöpft und sehr ‏[עד־מאד]‏ zerschlagen,<br />

ich brülle vom Tosen meines Herzens.<br />

(Ps 38,7---9)<br />

Sinnfällig deuten die Verse das gegenwärtige leibliche Empfinden als Epiphänomen<br />

einer tiefen inneren Unruhe. Hier<strong>auf</strong> verweisen in dichter Entsprechung neben<br />

dem wiederholenden מ א ד (V.7.9) das generalisierende אין מתם (V.8 vgl.<br />

V.4) und das temporale כל־היום (V.7). Was in V.7---9 zum Ausdruck kommt, ist der<br />

in der Innerlichkeit wahrgenommene, sich in Bezug <strong>auf</strong> einen identischen Leib<br />

abbildende Gesamterlebniszustand des betenden Ich, der als Tiefenstruktur dessen<br />

Stimmung bedingt (vgl. Ps 16,11; 42,2 f.; 139,7---12 u.a.). 15 Ihre Offenheit und<br />

die Fähigkeit zum Wandel illustriert Ps 73,12 im Rückblick <strong>auf</strong> die Vergangenheit<br />

ע ד ־<br />

is finally impossible.« --- Clayton, Conceptual Foundations, 1, vgl. Eichener, Seele, 443.<br />

Clayton stellt für eine starke Emergenz vier zentrale Grundannahmen heraus: 1) Die Welt<br />

ist in einem nicht-physikalischen Sinn ontologisch-monistisch. 2) Die Materialität ist der<br />

Ursprungsort weiterer eigenständiger, spezifischer Eigenschaften. 3) Diese Eigenschaften<br />

sind nicht mehr <strong>auf</strong> ihren Ursprung zurückführbar, die Realität besteht also aus mehreren<br />

Ebenen. 4) Die höheren Ebenen können die unter ihnen liegenden bestimmen. Vgl. Clayton,<br />

a.a.O., 2---4, Eichener ebd.<br />

15<br />

Zum Begriff s. oben S. 68. Vgl. oben S. 360. Aus diesem Grund kann לב in Ps 38,9 auch<br />

als »Seele« wiedergegeben werden, s. unten S. 436.


398<br />

13 Elementarisierung<br />

und zeigt noch einmal die Dominanz der Stimmung gegenüber reflexiven Momenten:<br />

21<br />

22<br />

Als mein Herz sich verbittert zeigte<br />

und meine Nieren sich scharf gestochen fühlten<br />

da war ich dumm und erkannte nicht,<br />

[wie] Tiere war ich vor dir.<br />

(Ps 73,21 f.)<br />

Die sich in den unterschiedlichen Psalmen abbildende Stimmung des lyrischen<br />

Ich ist der Grund, warum ein Erlebnis in der individuellen Sicht nicht bedeutungslos<br />

bleibt oder warum Resonanz eben nicht absichtsvoll herstellbar sein kann. Nur<br />

weil das Dasein gestimmt ist, kann ihm eine bestimmte Begegnung zum besonderen<br />

Erlebnis werden und allein darum kommt den Psalmen die ihnen eigentümliche<br />

Tiefe zu, wenn sie nicht als zufällige Widerfahrnisse verstanden werden. Sie<br />

sind ein Reflex einzigartiger Erlebnisse, durch die sich das betende Ich unwillkürlich<br />

bewegt weiß: Die Stimmung des betenden Ich beschreibt aus der Hintergründigkeit<br />

des Daseins den Ausgangspunkt für die Deutung der konkreten Not des<br />

psychophysischen Erlebens. Eindrucksvoll zeigt dieses Verhältnis der Kausalzusammenhang<br />

in Ps 38,6 f. zwischen leidvoll-geschundenem Erleben und individueller<br />

Schuld, der <strong>auf</strong> die emotional bestimmte individuelle Perspektive des lyrischen<br />

Ich zurückgeht (vgl. Ps 38,4):<br />

6<br />

7<br />

Es stinken, es verfaulen meine Wunden<br />

wegen ‏[נפני]‏ meiner Torheit.<br />

Ich bin verstört, ich bin tief gebeugt;<br />

den ganzen Tag gehe ich verfinstert.<br />

(Ps 38,6 f.)<br />

[Erleben: Leid]<br />

[Begründung: Schuld]<br />

[Grund: Stimmung]<br />

Ein zuerst zufälliges Erlebnis bleibt nicht bedeutungslos, weil das betende Ich so<br />

oder so gestimmt ist. Also lässt die Stimmung das lyrische Ich je zum Gebet anheben,<br />

wenn ihm durch sie ein Ereignis zum Erlebnis wird und zur Deutung <strong>auf</strong>fordert.<br />

Keineswegs soll so einer linearen Korrelation das Wort geredet sein. Eine<br />

Stimmung kann ebenso der Grund für eine bestimmte Sicht <strong>auf</strong> das Erleben sein,<br />

wie dieses umgekehrt die Stimmung beeinflusst und verändert.<br />

Die markanten Überschneidungen von exegetischen Betrachtungen und dem<br />

emotionspsychologisch geprägten Denken von Roderich Barth und Ulrich Barth<br />

führen die anthropologische Konzeptualisierung weiter. Mit ihnen lassen sich die<br />

alttestamentlichen Bezüge gleich der bewusstseinstheoretischen Reformulierung<br />

des Seelebegriffs als Verweis <strong>auf</strong> eine spezifisch vorbewusste Selbstvertrautheit<br />

des menschlichen Daseins verstehen. Allein, obwohl sich das innere Leben nach<br />

dessen poetischer Darstellung im Psalter im Moment der Stimmung nicht <strong>auf</strong> ein<br />

diskursives Moment beschränkt, wird »Innerlichkeit« doch mit Christian Frevel<br />

kaum als eine der Moderne entsprechende Kategorie von Sinnstiftung zu ver-


13 Elementarisierung 399<br />

stehen sein. 16 Das Paradigma des Bewusstseins gerät hier an seine Grenze. Was<br />

sich in der besonderen Sprachform des Psalters an Stelle dessen nahelegt, ist ein<br />

bildhermeneutisches Konzept. Metonymie und Metapher unterstreichen die<br />

grundlegende Bedeutung von Bildlichkeit als der zentralen Denkform des Psalters<br />

von der aus sich das Verständnis der Seele als anthropologisches Konzept erschließt.<br />

Exkurs: Alttestamentliche Bildhermeneutik<br />

Die anthropologische Relevanz bildhermeneutischer Modelle zeigt sich in nuce in<br />

der weitreichenden Bedeutung des späteren Bilderverbots als gewichtiger Besonderheit<br />

alttestamentlichen Glaubens. Dass dieser Exkurs dafür <strong>auf</strong> eine andere<br />

Literaturgattung ausgreift und sich nicht <strong>auf</strong> bildtheoretische Beobachtungen zum<br />

Angesicht Jhwhs in den Psalmen beschränken kann (vgl. Ps 16,11), bedingt der<br />

symbolische Hintergrund des Motivs, das sich kaum losgelöst vom vorexilischen<br />

und nachexilischen Kult des Jerusalemer Tempels verstehen lässt. 17<br />

Ob die biblische Bildlosigkeit historisch verbürgt ist, bleibt unklar. 18 Eine eindeutige<br />

Korrelation des archäologischen mit dem textlichen Befund ist kaum möglich,<br />

weshalb die Frage nach einem Kultbild Jhwhs im Jerusalemer Tempel als<br />

Hintergrund des Bilderverbots ausscheiden muss. 19 Ohnedies bliebe das entscheidende<br />

Verhältnis zwischen Ikonismus und Anikonismus verkannt, zumal bei aller<br />

Divergenz gegenwärtig kaum mehr die These vertreten wird, dass der Jerusalemer<br />

Tempelkult tatsächlich vor einem leeren Allerheiligsten vollzogen wurde. Wichtiger<br />

als die Frage nach der aktualen Form ist die Funktion der Repräsentanz (vgl.<br />

den Aspekt der Repräsentation in akk. ṣalmu, »Statue / Relief«): 20<br />

16<br />

S. oben S. 76 mit Frevel, Selbstbeobachtung, 42. Der Aufweis bestimmter Strukturen<br />

oder deren Annahme sagt noch nichts über deren alltägliche Relevanz aus. Ausdrucksvoll<br />

beschreibt etwa Psalm 51 im Übergang zwischen individueller und kollektiver Perspektive<br />

ein Selbstgespräch des betenden Ich, das gerade nicht im Inneren desselben verharrt<br />

(V.19 f.).<br />

17<br />

Vgl. Hartenstein, Angesicht, 1.<br />

18<br />

Vgl. Berlejung, Jahweverehrung, 148 f. Ebenso denkbar ist, dass entweder unterschiedliche<br />

ikonische Repräsentationen <strong>auf</strong> Jhwh übertragen wurden oder regional verschiedene<br />

Gestalten als Belege für einen Polyjhwhismus zu verstehen sind, vgl. ebd.<br />

19<br />

Vgl. Keel, Kultbild, 268 mit Nieher, Cult Statue, 79; Harteinstein, Bilderverbot, 63;<br />

98; Jeremias, Theologie, 373---375; ferner Otto, Deuteronomium 1---11, 537. Aufgrund der<br />

unklaren Situation sind ohne hinreichende Belege die Texte zuerst in ihrer prinzipiellen<br />

Absage an jegliche Bildverehrung wahrzunehmen. Zur Methodik s. oben S. 85 f. Vgl. dagegen<br />

Köckert, Kultbild, 384---387, der sich dagegen dezidiert für das Vorhandensein eines<br />

Kultbilds im Jerusalemer Tempel ausspricht.<br />

20<br />

Vgl. Keel, Kultbild, 261 f.; Köckert, Kultbild, 373---375 mit Bonatz, Bild, 13; Hartenstein,<br />

Bilderverbot, 36; 175 f. Der von einer Reihe biblischer Texte beschriebene leere Kerubenthron<br />

im Allerheiligsten des Tempels stand wohl »in keinem bewussten Gegensatz zum<br />

anthropomorphen Kultbild, sondern partizipierte auch an dessen Konzept, indem der Thron<br />

eine zugeordnete ›Gestaltvorstellung‹ evoziert.« --- Hartenstein, a.a.O. 61.


400<br />

13 Elementarisierung<br />

»Von Bedeutung war für den Kult, ob / dass die Gottgegenwart performativ vergegenwärtigt<br />

war, was Symbole, Standarten, Masseben, natürliche Formationen und Kultbilder<br />

(diverser Gestaltung und handwerklicher Qualität) gleichermaßen gewährleisten<br />

konnten.« 21<br />

Allein damit wäre die Bedeutung kultischer Bildlichkeit allerdings nicht hinreichend<br />

erfasst. Ebenso entscheidend wie einzelne Objekte oder Symbole ist die besondere<br />

Funktion von Text und Sprache. Zusammen mit den unterschiedlichen<br />

visuellen Medien der Gottespräsenz spielt die gemeinsame Vorstellungswelt, die<br />

»mentale Ikonographie« (Tryggve Mettinger), für das Erleben kultischer Vollzüge<br />

eine ebenso entscheidende Rolle. 22 Obwohl Hymnen und Gebete die Gestalt des<br />

Göttlichen vorrangig anthropomorph beschreiben, unterläuft dies die Zuordnung<br />

Gottes zur Gegenwart des Menschen. Die mentale Ikonographie benennt ein<br />

grundsätzliches Gegenüber, das sich später in einem unüberwindbaren Abstand<br />

zwischen Schöpfer und Geschöpf niederschlägt. Auch körperliche Vorstellungen<br />

reflektiert dies und stehen immer zwischen Anwesenheit und Abwesenheit. Wie<br />

in jeder bildhaften Vorstellung Gott und Mensch einander gegenüberstehen, ist<br />

jegliches Artefakt immer vom Göttlichen unterschieden. 23 Das entscheidende Moment<br />

ist hier die im Bild angelegte Möglichkeit zur Vergegenwärtigung des Göttlichen.<br />

Es geht darum im Bilderverbot des Dekalogs nicht um ein generelles Verbot<br />

von Bildern, sondern in anthropologischer Akzentuierung um den Unterschied<br />

zwischen Schöpfer und Geschöpf, der einer selbstbezüglichen Herstellung und<br />

עשה Verwendung von Bildern entgegenwirken will, wie es Dtn 5,8 (Ex 20,4) durch<br />

mit פסל und akzentuierender Präposition ל mit ePP. 2. Pers Sg. zum Ausdruck<br />

bringt: 24<br />

Nicht sollst du für dich ‏[לך]‏ ein (Kult-)Bild ‏[פסל]‏ machen,<br />

(nämlich) 25 irgendeine Gestalt ‏[תמונה]‏ dessen, was im Himmel darüber ist,<br />

noch dessen was in der Erde darunter ist,<br />

noch dessen was im Wasser unter der Erde ist!<br />

(Dtn 5,8 par. Ex 20,4)<br />

Welche Bilder verboten sind, ist zuerst unklar. Aufgrund seiner kontextuellen Eigenständigkeit<br />

kann sich das Verbot sowohl <strong>auf</strong> Bilder von Jhwh als auch <strong>auf</strong> solche<br />

von fremden Göttern beziehen (Dtn 5,6 f. ). Eine selektive Deutung übergeht<br />

21<br />

Berlejung, Jahweverehrung, 157. Vgl. dies., Theologie, 58.<br />

22<br />

Vgl. Hartenstein, Bilderverbot, 48 f. mit Mettinger, Image, 20 mit Anm. 26.<br />

23<br />

Vgl. Hartenstein, Bilderverbot, 66---71. Die Verbindung von Bilderverbot bzw. Bilderkritik<br />

und der monotheistischen Gottesvorstellung als Spezifikum jüdischen Glaubens stellen<br />

auch antike Zeugnisse schon früh heraus, vgl. a.a.O. 72---81.<br />

24<br />

Vgl. Hartenstein, Bilderverbot, 102---104; Köckert, Kultbild, 376 f.<br />

25<br />

Kopula nach Sam; LXX; Tar, vgl. Ex 20,4.


<strong>Christoph</strong> <strong>Tödter</strong>, Dr. theol., Jahrgang 1990, studierte in Halle<br />

(Saale), Leipzig und Göttingen Evangelische Theologie und in Jerusalem<br />

Neuhebräisch, Jüdische Schriftauslegung und Textkritik. Von<br />

2012 bis 2016 war er wissenschaftliche Hilfskraft im DFG-Projekt<br />

„Samaritanusedition“ (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg).<br />

Derzeit ist er Vikar in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche<br />

Hannovers. Mit der vorliegenden Arbeit wurde er 2022 von der<br />

Theologischen Fakultät der Universität Leipzig promoviert.<br />

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in<br />

der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische<br />

Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.<br />

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Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne<br />

Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für<br />

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung<br />

und Verarbeitung in elektronischen Systemen.<br />

Das Buch wurde <strong>auf</strong> alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Satz: <strong>Christoph</strong> <strong>Tödter</strong>, Hildesheim<br />

Druck und Binden: Hubert & Co., Göttingen<br />

ISBN 978-3-374-07344-3 // eISBN (PDF) 978-3-374-07345-0<br />

www.eva-leipzig.de

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