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Christoph Tödter: Hoffnung auf Vollendung (Leseprobe)

Über Jahrhunderte hinweg gehörte die Seele im christlichen Europa untrennbar zum Selbstbild des Menschen. Heute ist sie wenigstens für eine wissenschaftliche Beschreibung des Menschseins kaum mehr relevant. An ihre Stelle treten Bewusstsein und Selbst, Geist und Denken, Identität und Person oder Erleben und Existenz. Aber die religiöse Innerlichkeit des Psalters zeigt, dass eine solche konzeptionelle Beschreibung dennoch den Seelenbegriff aufnehmen kann, auch wenn er kein quellensprachliches Korrelat hat. Wovon die Psalmen handeln und was sich im Seelebegriff abbildet, ist weder der Grund für Leben noch für Unsterblichkeit, sondern eine ehrfürchtige Betrachtung der zwischen Schuld und Widerfahrnis erlebten Gegenwart des individuellen Daseins vor Gott in seiner Hoffnung auf Vollendung.

Über Jahrhunderte hinweg gehörte die Seele im christlichen Europa untrennbar zum Selbstbild des Menschen. Heute ist sie wenigstens für eine wissenschaftliche Beschreibung des Menschseins kaum mehr relevant. An ihre Stelle treten Bewusstsein und Selbst, Geist und Denken, Identität und Person oder Erleben und Existenz. Aber die religiöse Innerlichkeit des Psalters zeigt, dass eine solche konzeptionelle Beschreibung dennoch den Seelenbegriff aufnehmen kann, auch wenn er kein quellensprachliches Korrelat hat. Wovon die Psalmen handeln und was sich im Seelebegriff abbildet, ist weder der Grund für Leben noch für Unsterblichkeit, sondern eine ehrfürchtige Betrachtung der zwischen Schuld und Widerfahrnis erlebten Gegenwart des individuellen Daseins vor Gott in seiner Hoffnung auf Vollendung.

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13 Elementarisierung 395<br />

wandeln will ich zum Haus Gottes mit jubelnder und dankender Stimme,<br />

[in] einer feiernden Menge.<br />

(Ps 42,4 f.)<br />

Aus der vorbewussten Reflexion des doppelten Ausgangs der Vergangenheit erwächst<br />

eine gegenwartsbezogene Deutung zukünftiger Erwartung. Häufig stehen<br />

dabei besonders die den Beschreibungen des Erlebens entspringenden <strong>Hoffnung</strong>en<br />

im Mittelpunkt, die bisweilen eng mit Befürchtungen oder Unsicherheiten<br />

über das Kommende zusammenhängen können (vgl. Ps 16,11; 43,3; 143,11 f.):<br />

16<br />

17<br />

Ja, <strong>auf</strong> dich, Jhwh, harre ich;<br />

du wirst antworten, Herr, mein Gott.<br />

Wenn ich spreche: Sie sollen sich nicht über mich freuen;<br />

beim Wanken meines Fußes sich gegenüber mir groß machen.<br />

(Ps 38,16 f.)<br />

Ein besonderes Bewusstsein für die Ambivalenz von Zukunftsgedanken gewärtigen<br />

deutungsoffene Passagen wie Ps 19,15 oder 139,9 f., die den relativen Charakter<br />

der vorgelegten Begriffsrekonstruktion unterstreichen und zeigen, dass es<br />

sich naturgemäß um notwendige Abstraktionen handeln muss. In der gebotenen<br />

Abbreviatur steht das in den Psalmen zum Ausdruck kommende Erleben untrennbar<br />

mit einer der Zeitlichkeit entspringen Deutung zusammen, ob derer es mit<br />

Stock als zwischen Macht und Ohnmacht stehend <strong>auf</strong>gefasst werden kann. Von<br />

hieraus erschließt sich die tiefere Bedeutung der Leiblichkeit. Sie ist für den weiteren<br />

Zusammenhang der Darstellung <strong>auf</strong>zunehmen und zu akzentuieren.<br />

Angesichts der Zeitlichkeit stellt sich die Frage, warum das Erleben dennoch<br />

als ein geschlossenes Ganzes erscheint. Wiederum erweisen sich die Psalmen dabei<br />

als offen für eine Deutung aus den systematisch-theologischen Ausführungen.<br />

Was Ulrich Barth in seiner Rekonstruktion des Seelebegriffs als die leibliche Perspektivierung<br />

von Stimmungen im »Zumutesein« beschreibt, besitzt in den Psalmen<br />

eine bemerkenswerte Übereinstimmung im Aspekt der unhintergehbaren<br />

Körperlichkeit des Daseins. Aufgrund seiner Zeitlichkeit kann das Erleben des betenden<br />

Ich nur als eine geschlossene Einheit erscheinen, weil es <strong>auf</strong> denselben<br />

Körper bezogen ist. Ohne ihn blieben die diskreten Erlebnismomente zusammenhangslos.<br />

Den spezifischen Gehalt dessen erschließt wie zuvor eine Relecture exegetischer<br />

Betrachtungen des ersten Teils. Die vormals genannten Aspekte <strong>auf</strong>greifend<br />

schreitet die Beschreibung mit ihr spiralförmig weiter voran, um den eigentümlichen<br />

Bedeutungshintergrund des in Absicht stehenden alttestamentlichen<br />

Begriffs von Seele ansichtig werden zu lassen:

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