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Christoph Tödter: Hoffnung auf Vollendung (Leseprobe)

Über Jahrhunderte hinweg gehörte die Seele im christlichen Europa untrennbar zum Selbstbild des Menschen. Heute ist sie wenigstens für eine wissenschaftliche Beschreibung des Menschseins kaum mehr relevant. An ihre Stelle treten Bewusstsein und Selbst, Geist und Denken, Identität und Person oder Erleben und Existenz. Aber die religiöse Innerlichkeit des Psalters zeigt, dass eine solche konzeptionelle Beschreibung dennoch den Seelenbegriff aufnehmen kann, auch wenn er kein quellensprachliches Korrelat hat. Wovon die Psalmen handeln und was sich im Seelebegriff abbildet, ist weder der Grund für Leben noch für Unsterblichkeit, sondern eine ehrfürchtige Betrachtung der zwischen Schuld und Widerfahrnis erlebten Gegenwart des individuellen Daseins vor Gott in seiner Hoffnung auf Vollendung.

Über Jahrhunderte hinweg gehörte die Seele im christlichen Europa untrennbar zum Selbstbild des Menschen. Heute ist sie wenigstens für eine wissenschaftliche Beschreibung des Menschseins kaum mehr relevant. An ihre Stelle treten Bewusstsein und Selbst, Geist und Denken, Identität und Person oder Erleben und Existenz. Aber die religiöse Innerlichkeit des Psalters zeigt, dass eine solche konzeptionelle Beschreibung dennoch den Seelenbegriff aufnehmen kann, auch wenn er kein quellensprachliches Korrelat hat. Wovon die Psalmen handeln und was sich im Seelebegriff abbildet, ist weder der Grund für Leben noch für Unsterblichkeit, sondern eine ehrfürchtige Betrachtung der zwischen Schuld und Widerfahrnis erlebten Gegenwart des individuellen Daseins vor Gott in seiner Hoffnung auf Vollendung.

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306<br />

10 Altgriechische Seelendiskurse<br />

owner functions normally.« 13 Dass sie erst im Schatten des Todes <strong>auf</strong>tritt, ist ein<br />

bis heute gültiges Urteil, mit dem sich das konzeptuelle Verständnis von ψυχή<br />

zwischen einer Totenseele und einer Freiseele bewegt. 14 Die ψυχή ist nichts, was<br />

mit einer Form von Bewusstsein in Verbindung gebracht werden kann: »Sie heisst<br />

besinnungslos, vom Geist und seinen Organen verlassen; alle Kräfte des Wollens,<br />

Empfindens, Denkens sind verschwunden mit der Auflösung des Menschen in<br />

seine Bestandtheile.« 15 Allerdings trägt die ψυχή nach dem Tod weiterhin Spuren<br />

der individuellen Geschichte menschlicher Existenz von der sie ausging: 16<br />

65<br />

66<br />

67<br />

Siehe, da nahte sich ihm des armen Patroklos Seele [ψυχή],<br />

Ganz in der großen Gestalt und den strahlenden Augen ihm ähnlich<br />

Auch in der Stimme, den Körper umhüllt von den Gleichen Gewändern<br />

(Hom. Il. 23, 65---67) 17<br />

204<br />

205<br />

206<br />

207<br />

[…] doch ich, im Sinne vergrübelt [φρεσὶ µερµηρίξας], verlangte<br />

Anzufassen die Seele [ψυχή] der eigenen verstorbene Mutter.<br />

Dreimal setzte ich an; mein Gemüt [θυµός] befahl mir zu fassen:<br />

Dreimal indessen entflog sie den Händen,<br />

ein Traum [ὄνειρος] nur, ein Schatten [σκιά].<br />

(Hom. Od. 11, 204---207)<br />

Obwohl damit wesentliche Aspekte der Bedeutung von ψυχή bei Homer bezeichnet<br />

sind, bleibt sein Seelenverständnis im engeren Sinn unabgegolten. Weil während<br />

der Vereinigung von Leib und Psyche alle Kräfte im Bereich des Leibes verbleiben,<br />

tritt die Bedeutung weiterer Lexeme hinzu.<br />

Maßgebliche Aspekte homerischer Anthropologie und Psychologie verbinden<br />

sich neben ψυχή insbesondere mit θυµός, φρήν und νόος, »wobei das erste das Organ<br />

der Affekte, Stimmungen, Gefühle, Ahnungen und des Spontanen ist, das<br />

zweite und dritte des Denkens, Überlegens, Verstehens, der wissenden Vernunft.«<br />

18 Dass auch damit die Seele keinesfalls hinreichend beschrieben ist, zeigt<br />

die eng verwandte Verwendung von Worten wie πραπίδες, κῆρ, καρδίη und ἦτορ in<br />

13<br />

Bremmer, Soul in Greece, 159.<br />

14<br />

Homer, Od. 10,495; Il. 23,100 f. Vgl. Rohde, Psyche I, 4; Finkenzeller, Seele, 279;<br />

Snell, Entdeckung, 19; Sonnemans, Seele, 58; Bremmer, Soul in Greece, 160. In der Forschung<br />

zu Homer ist weiterhin umstritten, ob die ψυχή schon als im lebenden Menschen<br />

anwesend gedacht wurde oder erst im Moment des Todes entstehend, vgl. Sonnemans,<br />

Seele, 66.<br />

15<br />

Vgl. Rohde, Psyche I, 4.<br />

16<br />

Vgl. Sonnemans, Seele, 59.<br />

17<br />

Die Übersetzungen griechischer Textbeispiele entstammen den im Literaturverzeichnis<br />

angeführten Ausgaben zu den jeweiligen Autorinnen und Autoren.<br />

18<br />

Woschitz, Elpis, 77. Vgl. Hom. Il. 6, 444---447 sowie Rohde, Psyche I, 3, Sonnemans,<br />

Seele, 57.

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