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Christoph Tödter: Hoffnung auf Vollendung (Leseprobe)

Über Jahrhunderte hinweg gehörte die Seele im christlichen Europa untrennbar zum Selbstbild des Menschen. Heute ist sie wenigstens für eine wissenschaftliche Beschreibung des Menschseins kaum mehr relevant. An ihre Stelle treten Bewusstsein und Selbst, Geist und Denken, Identität und Person oder Erleben und Existenz. Aber die religiöse Innerlichkeit des Psalters zeigt, dass eine solche konzeptionelle Beschreibung dennoch den Seelenbegriff aufnehmen kann, auch wenn er kein quellensprachliches Korrelat hat. Wovon die Psalmen handeln und was sich im Seelebegriff abbildet, ist weder der Grund für Leben noch für Unsterblichkeit, sondern eine ehrfürchtige Betrachtung der zwischen Schuld und Widerfahrnis erlebten Gegenwart des individuellen Daseins vor Gott in seiner Hoffnung auf Vollendung.

Über Jahrhunderte hinweg gehörte die Seele im christlichen Europa untrennbar zum Selbstbild des Menschen. Heute ist sie wenigstens für eine wissenschaftliche Beschreibung des Menschseins kaum mehr relevant. An ihre Stelle treten Bewusstsein und Selbst, Geist und Denken, Identität und Person oder Erleben und Existenz. Aber die religiöse Innerlichkeit des Psalters zeigt, dass eine solche konzeptionelle Beschreibung dennoch den Seelenbegriff aufnehmen kann, auch wenn er kein quellensprachliches Korrelat hat. Wovon die Psalmen handeln und was sich im Seelebegriff abbildet, ist weder der Grund für Leben noch für Unsterblichkeit, sondern eine ehrfürchtige Betrachtung der zwischen Schuld und Widerfahrnis erlebten Gegenwart des individuellen Daseins vor Gott in seiner Hoffnung auf Vollendung.

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5.1 Übersetzung mit Anmerkungen zu Aufbau und Struktur 103<br />

zumal die Stellung von V.9 im Verhältnis zu V.8 und 10 nicht klar zu entscheiden<br />

ist. 24 Den dargestellten Aufbau des Psalms unterstreichen Stichwortverbindungen<br />

einzelner Verse oder Versteile sowie inhaltliche Entsprechungen. Anfang, Mitte<br />

und Ende des Psalms sind durch Bezugnahme <strong>auf</strong> ein Abstraktum des Guten miteinander<br />

verbunden טוב ‏,נעם)‏ in V.2; 6 und 11). Beginn und Ende des ersten canto<br />

werden durch die Wiederholung von אתה sowie על mit Personalsuffix gekennzeichnet,<br />

25 während der thematische Zusammenhang von נסך in V.4 und כוס in<br />

V.5 die beiden Abschnitte desselben zusammenbindet. In gleicher Funktion finden<br />

sich im zweiten canto ימין mit Präposition und Temporalangabe תמיד)‏ bzw.<br />

in V.8.11, während sich am Ende des את־פניך und לנגדי sowie die Parallele ‏(נצח<br />

Psalms die Lebens- und Todesthematik gegenüberstehen. Neben der kontrastiven<br />

Motivik von שאול / שחת in V.10 und חיים in V.11 evoziert לראות שחת mit<br />

in V.11 die geprägte Wendung ‏.ראה את פניך 26 Gerahmt und verbunden wird der<br />

, ב ש ר ‏,לב in V.9 und 11 und die (Körperteil-)Lexeme שמח Schlussabschnitt durch<br />

in V.9 und 10. 27 Zu den gestaltenden Verbindungen in canto II ist נ פ ש und ‏(כבוד)‏<br />

ferner die weisheitliche Unterweisungsterminologie in V.7 und 11 zu rechnen. 28<br />

Die gattungsmäßige Einordnung des Psalms fällt schwer, was die in diesem<br />

Punkt stark divergierende Forschungsmeinung eindrücklich unterstreicht. 29 Ein<br />

Überblick über die Struktur zeigt Gattungselemente des Klage- und Dankliedes,<br />

wenngleich merkmalprägende Formulierungen fehlen. Daneben finden sich aber<br />

auch Gebets- und Bekenntnisstil sowie weisheitliche Elemente. 30 Aus dem vorherrschenden<br />

Grundmotiv individueller Klagepsalmen beschreibt Liess den Psalm mit<br />

Seybold daher vermittelnd als einen »Vertrauenspsalm« (vgl. u.a. Psalm 4; 23) und<br />

kann dafür insbesondere <strong>auf</strong> dessen affirmativ-emphatischen Sprachstil verwie-<br />

את פניך<br />

24<br />

Die Lesart von Liess, nach der לכן und כי voneinander syntaktisch unabhängig sind<br />

und letzterem hier eine affirmativ-emphatische Bedeutung beizumessen ist, vermag nicht<br />

כ י zu überzeugen, gegen Liess, Weg, 69. Wahrscheinlicher ist, dass die Verwendung von<br />

sich von emphatischen Duktus des Psalms absetzt und nicht aus ihm heraus abzuleiten ist.<br />

Zur Zusammengehörigkeit von V.9 und 10 vgl. Botha, Happiness, 67; Zenger, Psalmen I<br />

NEB, 112; Seybold, Psalmen, 72. Weber nimmt demgegenüber für V.9 eine Zwischenstellung<br />

an, vgl. ders. Notiz, 36. In der klassisch-rabbinischen Exegese votiert Rashi für die<br />

Zusammengehörigkeit von V.9 und 10, während Radak V.8 und 9 zusammen interpretiert,<br />

vgl. Rashi ad Ps 16,9 f.; Radak ad Ps 16,9.<br />

25<br />

Vgl. Weber, Notiz, 36.<br />

26<br />

Verstärkt wird dies ferner in einer versübergreifenden chiastischen Verschränkung,<br />

in der neben den genannten Zusammenhang das Gegenüber von שאול in V.10 und ימיניך in<br />

V.11 tritt, vgl. Liess, Weg, 87---92.<br />

27<br />

Zur Bedeutung von כבד vgl. unten S. 122---124.<br />

28<br />

Vgl. Liess, Weg, 93.<br />

29<br />

Vgl. Zenger, Psalmen I NEB, 108; Liess, Weg, 105. Der Psalm wird als Gebetslied<br />

(Kraus, Psalmen, 262), Vertrauenspsalm (Gunkel, Psalmen, 51; Seybold, Psalmen, 71), Bittgebet<br />

(Zenger, Psalmen I NEB, 108), oder auch Bekenntnislied gewertet (Oeming, Psalmen<br />

I, 114; Gerstenberger, Psalmen I, 91 f.)<br />

30<br />

Vgl. Liess, Weg, 106---108.

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