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Christoph Tödter: Hoffnung auf Vollendung (Leseprobe)

Über Jahrhunderte hinweg gehörte die Seele im christlichen Europa untrennbar zum Selbstbild des Menschen. Heute ist sie wenigstens für eine wissenschaftliche Beschreibung des Menschseins kaum mehr relevant. An ihre Stelle treten Bewusstsein und Selbst, Geist und Denken, Identität und Person oder Erleben und Existenz. Aber die religiöse Innerlichkeit des Psalters zeigt, dass eine solche konzeptionelle Beschreibung dennoch den Seelenbegriff aufnehmen kann, auch wenn er kein quellensprachliches Korrelat hat. Wovon die Psalmen handeln und was sich im Seelebegriff abbildet, ist weder der Grund für Leben noch für Unsterblichkeit, sondern eine ehrfürchtige Betrachtung der zwischen Schuld und Widerfahrnis erlebten Gegenwart des individuellen Daseins vor Gott in seiner Hoffnung auf Vollendung.

Über Jahrhunderte hinweg gehörte die Seele im christlichen Europa untrennbar zum Selbstbild des Menschen. Heute ist sie wenigstens für eine wissenschaftliche Beschreibung des Menschseins kaum mehr relevant. An ihre Stelle treten Bewusstsein und Selbst, Geist und Denken, Identität und Person oder Erleben und Existenz. Aber die religiöse Innerlichkeit des Psalters zeigt, dass eine solche konzeptionelle Beschreibung dennoch den Seelenbegriff aufnehmen kann, auch wenn er kein quellensprachliches Korrelat hat. Wovon die Psalmen handeln und was sich im Seelebegriff abbildet, ist weder der Grund für Leben noch für Unsterblichkeit, sondern eine ehrfürchtige Betrachtung der zwischen Schuld und Widerfahrnis erlebten Gegenwart des individuellen Daseins vor Gott in seiner Hoffnung auf Vollendung.

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5 Psalm 16<br />

»Du überlässt meine nefesh nicht der sheol«<br />

Der Umgang des Menschen mit der Herausforderung, die ihm durch Tod und Sterben<br />

gestellt ist, gehört zu den anthropologischen Grundfragen. Sie sucht Psalm 16<br />

zu beantworten, indem das lyrische Ich ebenso wie in Psalm 49 und 73 Leben und<br />

Tod als untrennbar mit der Gottesbeziehung zusammenstehend durchdenkt. Dass<br />

Jhwh ein »Gott des Lebens« sei (Ps 42,3), wird den Psalmen angesichts des Todes<br />

zur Aufgabe und lässt sie nach ihrem »Weg des Lebens« (Ps 16,11) fragen.<br />

5.1 Übersetzung mit Anmerkungen zu Aufbau und<br />

Struktur<br />

1<br />

Ein miktam 1 Davids<br />

I<br />

2<br />

Bewahre mich Gott, denn ich berge mich bei dir.<br />

Ich spreche 2 zu Jhwh:<br />

Mein Herr bist du, mein Gutes ist allein bei dir<br />

[wörtl. nicht über dich hinaus] 3 .<br />

1<br />

297; ‏,מִכְתָּם s.v. (vgl. Psalm 56---60) ist unklar, vgl. KAHAL, מכתם Die Bedeutung von<br />

Gesenius 18 , s.v. ‏,מִכְתָּם 675. Zur gebräuchlichen Übersetzung als »Aufschrift« vgl. LXX<br />

στηλογραφία (»Inschrift«).<br />

2<br />

Die 2. Pers. Sg. fem. אָ‏ מַ‏ רְ‏ תְּ‏ bezeugt neben MT allein der Targum und fügt vielleicht mit<br />

Blick <strong>auf</strong> V.10 ergänzend hinzu: אנת נפשי ‏,מלילת vgl. Rashi ad loc. Fast alle anderen Textzeugen<br />

lesen demgegenüber die 1. Pers. Sg. AK q., die sich besser in den Verl<strong>auf</strong> des Psalms<br />

fügt und von Parallelstellen gestützt wird (Ps 31,15; 140,7; 142,6), vgl. Liess, Weg, 36 f.;<br />

Zenger, Psalmen I NEB, 110. Als Perfekt declarativum besitzt das Wort präsentische Bedeutung,<br />

vgl. Liess, Weg, 41; Weber, Notizen, 25.<br />

3<br />

Zum Zusammenhang von V.1 und 2 s. unten S. 102. Die Wortverbindung בל־עליך war<br />

על Anlass für unterschiedliche Konjekturvorschläge, die jedoch die Bedeutungsvielfalt von<br />

unberücksichtigt lassen. Die Präposition bezeichnet hier etwas Überragendes, vgl. Delitzsch,<br />

Psalmen, 153; Liess, Weg, 39 f.; KAHAL, s.v. ‎2‎‏ַל II, 406, ferner auch MidTeh 16,1.<br />

Die klassisch rabbinische Exegese deutet die Wendung als Hinweis <strong>auf</strong> die rein aus Gnade<br />

erfolgende Zuwendung Jhwhs: es ist »nicht an ihm« ‏(בל־עליך)‏ für das Gute des betenden Ich

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