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KiK - Kaufmännische Schulen in Kontakt<br />

8. Jahrgang – <strong>Ausgabe</strong> 10 – Oktober 2005<br />

Jugendliche vor ungewisser Zukunft<br />

Angesprochen auf ihre Herkunft und Vergangenheit<br />

geht die lebhafte und offene Nabila auf<br />

Distanz. Sie stammt aus Afghanistan und<br />

wuchs in Saudi-Arabien auf. In ihrer Heimat<br />

wurde sie von muslimischen Extremisten verfolgt.<br />

Über die Hintergründe und ihre Flucht<br />

über mehrere Länder möchte sie nicht reden.<br />

Ihr Klassenlehrer Roland Wolff bezeichnet sie<br />

als kleine „Prinzessin auf der Erbse.“ Nabila<br />

hätte im Anschluss an ein Praktikum in einem<br />

Marburger Restaurant jobben können. Weil sie<br />

aber mit einer Kollegin nicht klar kam, lehnte<br />

sie ab. Auch in die Marburger Schule, in der<br />

sie vorher versucht hat, ihren Hauptschulabschluss<br />

zu machen, ging sie nur selten. Sie<br />

fühlte sich dort nicht wohl. „Die Schüler waren<br />

unterteilt in Deutsche, Russen und Schwarzhaarige.<br />

Ich wollte, dass alle zusammen sind“,<br />

erklärt sie.<br />

In ihrer jetzigen Klasse bekommt sie die Aufmerksamkeit,<br />

die sie verlangt, und die Zeit, die<br />

sie braucht. „Wir sind etwas langsamer“, gibt<br />

sie zu. Obwohl sie erst drei Jahre hier ist, ist<br />

ihr Deutsch jedoch fast akzentfrei. Außerdem<br />

spricht sie arabisch, afghanisch, persisch und<br />

indisch. Eine Ausbildung zur Hotelfachfrau und<br />

später Chefin eines eigenen Hotels zu sein,<br />

sind ihre Wünsche. Beworben hat sie sich aber<br />

noch nicht. „Ich war mir nicht sicher, und ich<br />

war auch zu faul“, gesteht sie. Ihr fehle eine<br />

gute Beratung. Zur Arbeitsagentur möchte sie<br />

aber nicht mehr gehen. „Die sind zu unfreundlich“,<br />

findet sie.<br />

Zusammen mit Alex und der Jüngsten in der<br />

Gruppe, der 17-jährigen Samantha, gibt sie in<br />

der Klasse den Ton an. Kaum ein Wort kommt<br />

dagegen über die Lippen der beiden Spätaussiedlerinnen<br />

Nina und Julia. „Sie haben aus<br />

Kasachstan eine solide Schulausbildung mitgebracht,<br />

aber sie sind noch nicht wirklich hier<br />

angekommen. Vielmehr erschrecken sie, wenn<br />

ihnen ein deutsches Wort über die Lippen<br />

kommt“, sagt Wolff.<br />

Wenig Interesse am Klettern hat bisher der 19jährige<br />

Samir gezeigt. Er schaut häufig auf die<br />

Uhr und sein Blick wandert in Richtung Ausgang.<br />

Er wartet auf seine Freundin und ihren<br />

gemeinsamen, zwei Monate alten Sohn Justin.<br />

Ungeduldig erklärt Samir seiner Mitschülerin<br />

Nina, wie der Sicherungsknoten des Seils, das<br />

den Kletterer sichert, zu binden ist. Als seine<br />

Freundin Jasna und das Baby schließlich<br />

kommen, hat Samir zunächst nur noch Augen<br />

38<br />

für seinen Sohn. Dann ist er jedoch derjenige,<br />

der sowohl den Sprung in den Sack wagt, als<br />

auch gemeinsam mit seiner Englischlehrerin<br />

Alexandra Krug über das dünne Seil balanciert.<br />

Fliesenleger möchte Samir werden. Er hat jedoch<br />

keine Chance auf eine Ausbildung, da er<br />

keine Arbeitserlaubnis hat. „Ich möchte mit der<br />

Schule gerne weiter machen. Einfach, um nicht<br />

rumzuhängen“, sagt er. Er gehört zu den vier<br />

Schülern, die keine Ausbildungserlaubnis haben.<br />

„Sie sind zum Nichtstun verdonnert“, ärgert<br />

sich Natalie Pörsken.<br />

Trotz aller Unterschiede in Charakter, Nationalität<br />

und Zukunftsaussichten - ein Wunsch verbindet<br />

sie: Der Wunsch nach einer Familie mit<br />

Kindern und einem sicheren Job.<br />

Lehrer übernimmt Eltern-<br />

funktion und löst Probleme<br />

Klassenlehrer Roland Wolff möchte seinen<br />

Schülern so viel wie möglich für ihre Zukunft<br />

mitgeben. Vor allem, wie sie ihre Zeit auch<br />

dann sinnvoll nutzen können, wenn sie noch<br />

keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz haben.<br />

Für ihn ist das Problem Jugendarbeitslosigkeit<br />

eine „tickende Zeitbombe“: „Wenn wir uns nicht<br />

um diese Jugendlichen kümmern, sie ausgrenzen<br />

und ihnen die Zukunft versagen, dann<br />

werden wir in einigen Jahren massive Probleme<br />

bekommen. Dann werden die, die wir jetzt<br />

im Regen stehen lassen, unüberhörbar an die<br />

Tür pochen – sei es, weil sie notgedrungen die<br />

staatlichen Unterstützungssysteme überlasten,<br />

sei es, weil sie möglicherweise wenig sozialverträgliche<br />

Wege beschritten haben, um am<br />

gesellschaftlichen Reichtum teilzunehmen zu<br />

können.“ Angesichts <strong>dieser</strong> bedrückenden Situation<br />

bewundert er die Würde seiner Schüler,<br />

mit der sie versuchen, trotz vieler Niederlagen,<br />

Enttäuschungen und Zurückweisungen mit ihrer<br />

Situation umzugehen.<br />

Wolff wird in der Raucherecke von seinen zehn<br />

Schülern umringt. Er hat sie ein paar Tage<br />

nicht gesehen. In der Zwischenzeit haben sich<br />

bei den jungen Leuten jede Menge Probleme<br />

angehäuft, die nun gelöst werden müssen: Eine<br />

Bescheinigung für das Sozialamt wird ausgestellt,<br />

Unstimmigkeiten mit anderen Lehrern<br />

geklärt, ein Schreiben von der Schuldnerberatung<br />

wird als Entschuldigung vorgelegt.

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