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8 ı<br />
THEMA<br />
sprühten das Wort wie die Wilden als Graffiti auf ein altes<br />
Leintuch und hängten es in den Kirchenraum. Adoleszenter,<br />
übermütiger Ausdruck von neun jungen Menschen an<br />
der Schwelle zur Mündigkeit in Glaubensdingen. Ab nun<br />
hatten wir die Wahl, ob Sonntag in Zukunft Kirche oder<br />
Fussballturnier bedeuten soll.<br />
und beklagt die Probleme junger Familien mit der Vereinbarkeit.<br />
Die zweite in der Runde hadert mit der Unentschlossenheit<br />
ihrer Tochter. Die macht Matura im Sommer<br />
und hat noch keinen Plan, was sie machen wird. In zwei<br />
Monaten ist aber Sommer. Das scheint für die eine Generation<br />
absolut kein Problem zu sein, die andere Generation<br />
macht es hingegen sehr nervös. Ich denke mir nach dem<br />
Acht Milliarden Leben – nur eins davon ist meins<br />
Die Philosophin Beate Rössler sagte in einem Interview,<br />
dass wir nur Romane lesen und uns Filme anschauen, weil<br />
wir freie Westler wissen wollen, wie unser Leben auch noch<br />
hätte verlaufen können in unserer autonomen Multioptionswelt.<br />
«Steile These», dachte ich und stellte mein<br />
eigenes Verhalten und Empfinden diesbezüglich schön<br />
säuberlich selbstreflektiert auf den Prüfstand. Ernüchternde<br />
Bilanz: Die Geschichten der anderen faszinieren mich<br />
nicht nur, aber auch gerade, weil sie nicht meine sind –<br />
aber theoretisch meine hätten<br />
Abend im Garten: So viel Freiheit wie heute war wohl noch<br />
nie. Kinder oder Karriere? Oder beides oder keins davon.<br />
Fleisch oder vegan? Atheistin oder gläubig? Eigentlich<br />
haben wir doch alle Möglichkeiten. Eigentlich müssten<br />
wir doch ganz zufrieden sein – wieso sind wir es nicht?<br />
Warum fühlen wir uns trotzdem manchmal unfrei?<br />
Mit der Frage nach der chronischen Unzufriedenheit<br />
in den freien, wohlhabenden Industrienationen bin ich<br />
nicht allein. Ganze Studien gibt es zum Thema. Verkürzt<br />
kann man wohl sagen, dass, obwohl Freiheit und Wohlstand<br />
in den letzten 35 Jahren<br />
sein können. In einem anderen<br />
Leben. So schaute ich vor einer<br />
WIR LESEN NUR ROMANE UND SCHAUEN<br />
UNS FILME AN, WEIL WIR FREIE WESTLER<br />
ungebrochen gestiegen sind,<br />
die Lebenszufriedenheit eher<br />
WISSEN WOLLEN, WIE UNSER LEBEN<br />
Weile mit viel Genuss die Dokumentation<br />
über zwei Jungs, die<br />
nicht unzufrieden sind, obwohl,<br />
nachlässt. Was, wenn wir also<br />
AUCH NOCH HÄTTE VERLAUFEN KÖNNEN<br />
IN UNSERER AUTONOMEN<br />
mit dem Fahrrad von Deutschland<br />
bis nach China fuhren. Ge-<br />
viele Möglichkeiten haben? Es<br />
sondern gerade weil wir so<br />
MULTIOPTIONSWELT.<br />
trieben von ihrem unbändigen Freiheitsdrang und der Lust<br />
am Abenteuer. Ich hingegen sitze am Ende eines Tages auf<br />
dem Sofa. 50-Prozent-Job, Haus, Kinder, viel Ehrenamtliches<br />
– mein Leben und gleichzeitig die Gründe, warum<br />
ich im Moment nicht durch Usbekistan radle mit nichts<br />
als einem Zelt, zwei T-Shirts und einem Gaskocher. «Die<br />
Freiheit der Erwachsenen heisst Verantwortung», meinte<br />
der deutsche Theologe und Politiker Joachim Gauck. In<br />
diesem Punkt stimme ich ihm heute, müde auf dem Sofa<br />
sitzend, zu. Neunzig Minuten mit den beiden Velo-Jungs<br />
Richtung Osten zu ziehen, die Pannen, Krisen und Schönheiten<br />
auf dem Bildschirm mitzuerleben, war Ausbrechen<br />
genug. Frau Beate Rössler hatte wohl doch recht.<br />
ist wohl die Freiheit selbst, die uns ab und zu aufs Gemüt<br />
schlägt. Ein einfaches, aber aufschlussreiches Experiment<br />
der Psychologie gibt mir eine erste Ahnung davon. Im Versuch<br />
der Forscherin Sheena Iyengar von der Columbia University<br />
in New York stellte man in einem Delikatessenladen<br />
einen Probiertisch hin. Kundinnen und Kunden sollten<br />
verschiedene Marmeladensorten kosten. Variante 1<br />
des Versuchs: Es standen sechs Sorten zur Auswahl. Variante<br />
2: Auf dem Tisch wurden 24 Sorten präsentiert. Das<br />
grosse Angebot lockte zwar viele an den Tisch, diese waren<br />
aber eher verunsichert, zögerten und diskutierten viel.<br />
Die meisten zogen weiter, nur 3 Prozent kauften ein Glas<br />
Marmelade. Ganz anders das Verhalten der Leute mit der<br />
kleinen Auswahl. Von ihnen verliessen ganze 30 Prozent<br />
Risiken und Nebenwirkungen – Ich war ein freier Mensch,<br />
bis ich vor dem Joghurtregal stand<br />
Beim Grillieren mit Freunden wird ausgetauscht unter<br />
Bald- und Bereitsvierzigjährigen. Eine Freundin beschreibt<br />
die aktuelle Dauerbelastung mit Kindern und Job<br />
das Geschäft mit einem Marmeladenglas in ihrer Einkaufstüte.<br />
Optionserweiterung führte zu Verunsicherung und zu<br />
der Unfähigkeit, sich zu entscheiden. Weniger Auswahl zu<br />
mehr Zufriedenheit. Das Ergebnis ist scheinbar paradox.<br />
Mit steigendem Angebot wird auch die Menge dessen, was