09.06.2023 Aufrufe

ERF Medien Magazin Juli 2023

Hoffnung

Hoffnung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

8 ı<br />

THEMA<br />

sprühten das Wort wie die Wilden als Graffiti auf ein altes<br />

Leintuch und hängten es in den Kirchenraum. Adoleszenter,<br />

übermütiger Ausdruck von neun jungen Menschen an<br />

der Schwelle zur Mündigkeit in Glaubensdingen. Ab nun<br />

hatten wir die Wahl, ob Sonntag in Zukunft Kirche oder<br />

Fussballturnier bedeuten soll.<br />

und beklagt die Probleme junger Familien mit der Vereinbarkeit.<br />

Die zweite in der Runde hadert mit der Unentschlossenheit<br />

ihrer Tochter. Die macht Matura im Sommer<br />

und hat noch keinen Plan, was sie machen wird. In zwei<br />

Monaten ist aber Sommer. Das scheint für die eine Generation<br />

absolut kein Problem zu sein, die andere Generation<br />

macht es hingegen sehr nervös. Ich denke mir nach dem<br />

Acht Milliarden Leben – nur eins davon ist meins<br />

Die Philosophin Beate Rössler sagte in einem Interview,<br />

dass wir nur Romane lesen und uns Filme anschauen, weil<br />

wir freie Westler wissen wollen, wie unser Leben auch noch<br />

hätte verlaufen können in unserer autonomen Multioptionswelt.<br />

«Steile These», dachte ich und stellte mein<br />

eigenes Verhalten und Empfinden diesbezüglich schön<br />

säuberlich selbstreflektiert auf den Prüfstand. Ernüchternde<br />

Bilanz: Die Geschichten der anderen faszinieren mich<br />

nicht nur, aber auch gerade, weil sie nicht meine sind –<br />

aber theoretisch meine hätten<br />

Abend im Garten: So viel Freiheit wie heute war wohl noch<br />

nie. Kinder oder Karriere? Oder beides oder keins davon.<br />

Fleisch oder vegan? Atheistin oder gläubig? Eigentlich<br />

haben wir doch alle Möglichkeiten. Eigentlich müssten<br />

wir doch ganz zufrieden sein – wieso sind wir es nicht?<br />

Warum fühlen wir uns trotzdem manchmal unfrei?<br />

Mit der Frage nach der chronischen Unzufriedenheit<br />

in den freien, wohlhabenden Industrienationen bin ich<br />

nicht allein. Ganze Studien gibt es zum Thema. Verkürzt<br />

kann man wohl sagen, dass, obwohl Freiheit und Wohlstand<br />

in den letzten 35 Jahren<br />

sein können. In einem anderen<br />

Leben. So schaute ich vor einer<br />

WIR LESEN NUR ROMANE UND SCHAUEN<br />

UNS FILME AN, WEIL WIR FREIE WESTLER<br />

ungebrochen gestiegen sind,<br />

die Lebenszufriedenheit eher<br />

WISSEN WOLLEN, WIE UNSER LEBEN<br />

Weile mit viel Genuss die Dokumentation<br />

über zwei Jungs, die<br />

nicht unzufrieden sind, obwohl,<br />

nachlässt. Was, wenn wir also<br />

AUCH NOCH HÄTTE VERLAUFEN KÖNNEN<br />

IN UNSERER AUTONOMEN<br />

mit dem Fahrrad von Deutschland<br />

bis nach China fuhren. Ge-<br />

viele Möglichkeiten haben? Es<br />

sondern gerade weil wir so<br />

MULTIOPTIONSWELT.<br />

trieben von ihrem unbändigen Freiheitsdrang und der Lust<br />

am Abenteuer. Ich hingegen sitze am Ende eines Tages auf<br />

dem Sofa. 50-Prozent-Job, Haus, Kinder, viel Ehrenamtliches<br />

– mein Leben und gleichzeitig die Gründe, warum<br />

ich im Moment nicht durch Usbekistan radle mit nichts<br />

als einem Zelt, zwei T-Shirts und einem Gaskocher. «Die<br />

Freiheit der Erwachsenen heisst Verantwortung», meinte<br />

der deutsche Theologe und Politiker Joachim Gauck. In<br />

diesem Punkt stimme ich ihm heute, müde auf dem Sofa<br />

sitzend, zu. Neunzig Minuten mit den beiden Velo-Jungs<br />

Richtung Osten zu ziehen, die Pannen, Krisen und Schönheiten<br />

auf dem Bildschirm mitzuerleben, war Ausbrechen<br />

genug. Frau Beate Rössler hatte wohl doch recht.<br />

ist wohl die Freiheit selbst, die uns ab und zu aufs Gemüt<br />

schlägt. Ein einfaches, aber aufschlussreiches Experiment<br />

der Psychologie gibt mir eine erste Ahnung davon. Im Versuch<br />

der Forscherin Sheena Iyengar von der Columbia University<br />

in New York stellte man in einem Delikatessenladen<br />

einen Probiertisch hin. Kundinnen und Kunden sollten<br />

verschiedene Marmeladensorten kosten. Variante 1<br />

des Versuchs: Es standen sechs Sorten zur Auswahl. Variante<br />

2: Auf dem Tisch wurden 24 Sorten präsentiert. Das<br />

grosse Angebot lockte zwar viele an den Tisch, diese waren<br />

aber eher verunsichert, zögerten und diskutierten viel.<br />

Die meisten zogen weiter, nur 3 Prozent kauften ein Glas<br />

Marmelade. Ganz anders das Verhalten der Leute mit der<br />

kleinen Auswahl. Von ihnen verliessen ganze 30 Prozent<br />

Risiken und Nebenwirkungen – Ich war ein freier Mensch,<br />

bis ich vor dem Joghurtregal stand<br />

Beim Grillieren mit Freunden wird ausgetauscht unter<br />

Bald- und Bereitsvierzigjährigen. Eine Freundin beschreibt<br />

die aktuelle Dauerbelastung mit Kindern und Job<br />

das Geschäft mit einem Marmeladenglas in ihrer Einkaufstüte.<br />

Optionserweiterung führte zu Verunsicherung und zu<br />

der Unfähigkeit, sich zu entscheiden. Weniger Auswahl zu<br />

mehr Zufriedenheit. Das Ergebnis ist scheinbar paradox.<br />

Mit steigendem Angebot wird auch die Menge dessen, was

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!