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Justus Geilhufe (Hrsg.): Das Leben suchen (Leseprobe)

Wie überlebt die Kirche den Atheismus des 21. Jahrhunderts? Auf diese Frage gibt es viele richtige Antworten. Eine davon lautet: Indem sie auf das Zeugnis derer hört, die als Christen den Atheismus des 20. Jahrhunderts überlebt haben. In diesem Buch werden die verschiedensten Persönlichkeiten protestantischer wie katholischer Konfession vorgestellt, die das kirchliche Leben in der DDR auf ihre Art und Weise leitend mitgestaltet haben und dabei Wegweisendes für uns heute geleistet haben. Darunter sind Bischöfe wie Johannes Hempel, Heino Falcke, Günther Jacob, Hugo Aufderbeck, Joachim Meisner oder Joachim Wanke wie auch Theologinnen und Theologen wie Josef Hromádka, Elisabeth Adler, Ulrich Kühn oder Christiane Markert-Wizisla. Christian Lehnert hat eine persönliche Erinnerung beigesteuert.

Wie überlebt die Kirche den Atheismus des 21. Jahrhunderts? Auf diese Frage gibt es viele richtige Antworten. Eine davon lautet: Indem sie auf das Zeugnis derer hört, die als Christen den Atheismus des 20. Jahrhunderts überlebt haben. In diesem Buch werden die verschiedensten Persönlichkeiten protestantischer wie katholischer Konfession vorgestellt, die das kirchliche Leben in der DDR auf ihre Art und Weise leitend mitgestaltet haben und dabei Wegweisendes für uns heute geleistet haben. Darunter sind Bischöfe wie Johannes Hempel, Heino Falcke, Günther Jacob, Hugo Aufderbeck, Joachim Meisner oder Joachim Wanke wie auch Theologinnen und Theologen wie Josef Hromádka, Elisabeth Adler, Ulrich Kühn oder Christiane Markert-Wizisla. Christian Lehnert hat eine persönliche Erinnerung beigesteuert.

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<strong>Justus</strong> <strong>Geilhufe</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

DAS LEBEN<br />

SUCHEN<br />

Bischöfe, Pröpste und Theologen<br />

in der DDR


Inhalt<br />

Einleitung ................................................ 9<br />

Protestanten in der DDR<br />

Christian Lehnert (*1969)<br />

»Wer wir sind« ............................................. 15<br />

Peter C.A. Morée<br />

»Welche Missverständnisse, Missdeutungen und Verleumdungen<br />

scheinen die DDR für westliche Christen zu umhüllen«<br />

Josef Hromádka (1889–1969) ................................. 27<br />

Michael Hüttenhoff<br />

»Draußen vor dem Tor«<br />

Günther Jacob (1906–1993) ................................... 45<br />

Gerdi Nützel<br />

»Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.«<br />

Elisabeth Adler (1925–1997) .................................. 71<br />

Udo Hahn<br />

»<strong>Das</strong> wegweisende Wort sprechen«<br />

Johannes Hempel (1929–2020) ................................ 89<br />

Heiko Franke<br />

»<strong>Das</strong>s sich der Herr den Seinen zuwendet und sie sich mit ihm auf den<br />

Wegmachen«<br />

Ulrich Kühn (1932–2012) .................................... 99<br />

Ehrhart Neubert<br />

»Verbesserliche Kirche im verbesserlichen Sozialismus«<br />

Heino Falcke (*1929) ....................................... 119<br />

Gerdi Nützel<br />

»… und ist noch nicht erschienen, was wir sein werden«<br />

Christiane Markert-Wizisla (1961–2007) ......................... 137


8 Inhalt<br />

Wolf Krötke (*1938)<br />

»Kirche unter Druck« ........................................ 151<br />

Katholiken in der DDR<br />

Clemens Brodkorb<br />

»<strong>Das</strong> lebendige Zeugnis«<br />

Hugo Aufderbeck (1909–1981) ................................ 167<br />

Martin Fischer<br />

»Wir Bischöfe identifizieren uns mit den Schwächsten!«<br />

Joachim Meisner (1933–2017) ................................. 183<br />

Jörg Seiler<br />

»<strong>Das</strong> Evangelium Jesu Christi auf mitteldeutsch buchstabieren«<br />

Joachim Wanke (*1941) ...................................... 197<br />

Der Herausgeber ........................................... 219<br />

Die Autoren ............................................... 221


Einleitung<br />

Die Idee zu diesem Buch entstand in einem Gespräch mit Ernst Koch. Uns beide<br />

bewegte das oftmals nur bruchstückhafte Wissen der deutschen Öffentlichkeit<br />

über das kirchliche <strong>Leben</strong> in der DDR. Dabei war uns bewusst, dass dies kein<br />

neues Phänomen, sondern eher als Resultat eines länger anhaltenden Prozesses<br />

zu verstehen war. So schrieb Rudolf Mau bereits 2005 im Vorwort zu seinem Band<br />

»Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945–1990)«, dass die Erinnerung<br />

an das kirchliche <strong>Leben</strong> in der zweiten deutschen Diktatur zu »verblassen«<br />

drohe. 1<br />

<strong>Das</strong>s die Aufarbeitungund Analysedes kirchlichen <strong>Leben</strong>s in der DDR heute<br />

durchaus Not tut, zeigte erst kürzlich ein Beitrag des Publizisten und AFD-Mitbegründers<br />

Konrad Adam in der NZZ, in dem er unter anderem über die Praxis<br />

der Kirchen in der DDR schrieb, sie hätten sich als »Kirche imSozialismus« bei<br />

den »Machthabern angebiedert, wodurch sie für die einen überflüssig, für die<br />

anderen, denen es ernst war mit ihrem Bekenntnis, unglaubwürdig wurden.« 2<br />

Diese These steht unseres Erachtens in einem krassen Widerspruch zu der Erfahrung<br />

vieler Christen der ehemaligen DDR, die von sich selbst sicher sagen<br />

würden, dass sie nach einem glaubwürdigen Weggesucht haben, die bestehenden<br />

unmenschlichen Verhältnisse zwar anzunehmen, aber ihnen gegenüber doch<br />

zugleich frei zu bleiben, wie es Landesbischof Johannes Hempel auf der sächsischen<br />

Herbstsynode 1977 formuliert hat. Es gibt offenbar im Hinblick auf die<br />

Geschichte der Kirchen in der DDR eine oftmals selektive Wahrnehmung, die<br />

heute zu kontroversen Einschätzungen führt. Mau spezifiziert dies noch einmal,<br />

indem erschreibt: »Wegen der Nichtbeachtung oder falschen Gewichtung<br />

von Situationen gab es Fehlurteile besonders hinsichtlich des kirchenleitenden<br />

Handelns.« 3<br />

1<br />

2<br />

3<br />

Rudolf Mau, Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945–1990), Leipzig 2005, 6.<br />

Konrad Adam am 2. 11.2021 in der NZZ Siehe: https://www.nzz.ch/meinung/die-kir<br />

chen-in-deutschland-machen-politik-brauchen-wir-solche-kirchen-ld.1651243<br />

Mau, Protestantismus, 6.


10 Einleitung<br />

Dieses kirchenleitende Handeln soll im vorliegenden Buch in den Fokus<br />

rücken. Eine erste Annäherung ist dabei die Betrachtung der Biografien einzelner<br />

kirchenleitender Persönlichkeiten. Sie birgt die Möglichkeit, die ganz individuellen<br />

Gründe für weitreichende Entscheidungen auf Landeskirchen- und Bistumsebene<br />

inden verschiedenen Phasen der Existenz der kirchlichen »Konfliktbewältigungsgemeinschaft«<br />

(Johannes Hempel) in der DDR in den Blick zu<br />

nehmen und soein größeres Verständnis für die verschiedenen Momente von<br />

Abgrenzung und Anpassung an den sozialistischen Staat zu erlangen.<br />

Der Fokus auf einzelne Biografien ermöglichtesgrundsätzlich,die Kirchen in<br />

der DDR nicht als monolithischen Block zu betrachten, sondern ihre durchaus<br />

ausdifferenzierte Gestalt und die zeitlich wie auch regional ganz unterschiedlichen<br />

Entwicklungen in den Blick zu nehmen.Sowaren die 1950er Jahre von einer<br />

gefährlichen Konfrontation zwischen Kirche und Staat geprägt, die 1960er bis<br />

1970er von einer Abnahme der existentiell bedrohlichen Konflikte, während die<br />

1980er Jahre den zunehmenden Widerspruch seitens der friedens- und ökologiebewegten<br />

kirchlichen Jugend gegenüber Partei und Staat zum Vorschein<br />

brachten, der über zunächst innerkirchliche Diskussionen wie dem Konziliaren<br />

Prozess auch bald seinen Ausdruck in der Öffentlichkeit des DDR-Staates fand.<br />

Dazu gab es während der Zeit des Bestehens der DDR zwischen lutherischen<br />

Landeskirchen wie Thüringen und Sachsen und den unierten Landeskirchenwie<br />

der Kirchenprovinz Sachsen und der Evangelischen Kirche Berlin Brandenburg<br />

erheblicheUnterschiede im Umgangmit den unmittelbaren Eingriffen durch den<br />

sozialistischen Staat, aber auch in der Gestaltung des Gemeindeaufbaus und der<br />

Aufrechterhaltung der theologischen Arbeit und des geistlichen <strong>Leben</strong>s. <strong>Das</strong><br />

hatte sicher oftmals mit dezidiert lutherisch beziehungsweise uniert geprägten<br />

Leitungsfiguren zu tun. Die katholische Kirche hielt sich durch ihre Minderheitenposition<br />

wie auch ihre Verbindung nach Rom in der ganzen Zeit der<br />

Existenz der DDR mit politischen Äußerungen wiederum stark zurück, was ihr<br />

oftmals den Vorwurf der »Wagenburgmentalität« eingebracht hat, den der Blick<br />

auf die Biografien von verschiedenen Leitungsfiguren in dieser Drastik nicht<br />

bestätigt.<br />

Zum Forschungsstand ist grundsätzlich zu sagen, dass die Geschichte der<br />

Kirche in der DDR durchaus früh und eingehend erforscht wurde. 4 Hinsichtlich<br />

der konkreten <strong>Leben</strong>släufe von Bischöfen, Pröpsten oder Theologen der damaligen<br />

Zeit lässt sich jedoch zweierlei beobachten. Zum einen gab es recht früh<br />

einige wenige kleinere Publikationen zu den Biografien kirchenleitender Per-<br />

4<br />

Siehe: Robert F. Goeckel, The Lutheran Church and the East German State. Political<br />

Conflict and Change under Ulbricht and Honecker,London 1990; Gerhard Besier, Der SED-<br />

Staat und die Kirche. 1969–1990,Berlin 1995; Rudolf Mau, Der Protestantismus im Osten<br />

Deutschlands. 1945–1990, Leipzig 2005.


Einleitung 11<br />

sönlichkeiten. 5 <strong>Das</strong> Interesse daran hat jedoch ebenso früh auch wieder nachgelassen.<br />

Später erschienen vor allem autobiografische Bücher einzelner Protagonisten<br />

6 .Der wissenschaftliche Wert dieser Erinnerungen ist jedoch naturgemäß<br />

begrenzt, was zur zweiten Beobachtung führt: Die Analyse des kirchlichen<br />

<strong>Leben</strong>s der DDR, gerade auch die Biografien seiner herausragenden Persönlichkeiten,<br />

sind zunehmend Gegenstand populärwissenschaftlicher Veröffentlichungen.<br />

7 Diese Publikationen sind selbstverständlich ein wertvoller Beitrag zur<br />

Erinnerungskultur unseres Landes und unserer Kirchen. Dennoch braucht es<br />

in Zukunft die wissenschaftliche Analyse der <strong>Leben</strong>släufe der einzelnen Leitungsfiguren.<br />

Diese kann heute glücklicherweise an eine Reihe kirchengeschichtlicher<br />

Vorarbeiten anknüpfen. 8 Dabei zeigt sich, dass es durchaus schon<br />

eine fundierte Forschung zum Kirchentum der DDR gibt, die aber im Hinblick auf<br />

die Biografien einzelner Protagonisten aus den verschiedenen Konfessionen und<br />

deren Einfluss auf die konkrete Praxis der jeweiligen Bildungseinrichtungen,<br />

Landeskirchen und Bistümer noch strukturierter Ausarbeitung bedarf.<br />

Der hier vorliegende Sammelband zu den verschiedensten Männern und<br />

Frauen aus Theologie und Kirchenleitung der DDR-Zeit soll einen Auftakt dazu<br />

darstellen. Ernst Koch und ich hattendas Gefühl, dass über drei Jahrzehnte nach<br />

dem Ende der DDR die Leistung dieser Menschen, die in der DDR Verantwortung<br />

für die evangelische wie auch die katholische Kirche getragen haben, noch<br />

nicht ausreichend gewürdigtworden ist. Diese Würdigungzuleisten, ist das eine,<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

Bereits 1996 interviewte Udo Hahn Landesbischof Hempel und veröffentlichte daraufhin<br />

den Gesprächsband »Annehmen und frei bleiben«. 1998 veröffentlichte Peter Beier in<br />

Verkündigung und Forschung (43) den Beitrag »<strong>Leben</strong>swege in der DDR: I. Persönlichkeiten<br />

aus dem kirchlichen Bereich«. 1999 erschien ein von Hagen Findeisen und Detlef<br />

Pollack herausgegebener Interviewband mit dem Titel Selbstbewahrung oder Selbstverlust.<br />

Bischöfe und Repräsentanten der evangelischen Kirchen in der DDR über ihr <strong>Leben</strong>.<br />

17 Interviews.<br />

Klaus-PeterHertzsch, SagmeinenKindern,dasssie weiterziehen.Erinnerungen (Stuttgart:<br />

Radius, 2002); Heino Falcke, Wo bleibt die Freiheit? (Freiburg: Kreuz, 2009); Werner<br />

Krusche, Ich werde nie mehr Geige spielen können. Erinnerungen, Stuttgart 2012 u. v.m.<br />

Zu nennen wäre hier natürlich der Band Inseln im roten Meer von Wolfgang Ratzmann<br />

und Thomas Seidel aus dem Jahr 2017 oder Bettina Röders Biografie von Axel Noack mit<br />

dem Titel Biografie eines frohgemuten Protestanten aus dem Jahr 2019 u. v.m.<br />

Klaus Fitschen, Friedliche Revolution und Sächsische Hochschulen im Jahre 1989, in:<br />

Sächsische Landeszentrale für politische Bildung 2015, pp. 137–150; ders., die Entwicklung<br />

der kirchlichen Jugendarbeit in der DDR als kirchenpolitisches und innerkirchliches<br />

Spannungsfeld, in: R. Koerrenz und A. Stiebritz (<strong>Hrsg</strong>.), Kirche – Bildung –<br />

Freiheit: Die offene Arbeit als Modell einer mündigen Kirche, Paderborn 2013. Ders.,Die<br />

Rolle der Kirchen im Umbruch von 1989/90 in Forschung und Erinnerung, in: Mitteilungen<br />

zur Kirchlichen Zeitgeschichte. 2020,104–107; Markus Schmidt, Charismatische<br />

Spiritualität und Seelsorge, Göttingen 2017, uvm.


12 Einleitung<br />

geringere Anliegen dieses Bandes. <strong>Das</strong> andere, weit wichtigere ist es, in einer<br />

Zeit, in der nicht mehr nur die ost-, sondern die gesamtdeutsche Gesellschaft<br />

entkirchlicht worden ist, den Rückblick auf das, was diese Menschen in der<br />

kirchenfeindlichen Umgebung des DDR-Sozialismus bewegt hat, zu wagen. Hier<br />

liegt auch das verborgen, was uns heute als Christengemeinschaft Trost und<br />

Orientierung bieten kann.<br />

Dieses Anliegen verfolgt der vorliegende Band: Nachzuforschen, wie der<br />

Protestantismus und der Katholizismus in der DDR überlebt haben, und dabei<br />

anhand kirchenleitender Biografien darzulegen, wie beide Konfessionen ihren<br />

Wegdurch den Atheismus gefunden haben. Viel ist von damals zu lernen.Viel ist<br />

heute davon zu erzählen. Es bleibt zu wünschen, dass die Kircheheute hört und<br />

von jenen zu lernen bereit ist, die einen hohen Preis bezahlt haben für das <strong>Leben</strong><br />

des Christentums im Ost-Teil dieses Landes. Sie haben gelernt, was es bedeutet,<br />

die Kirche in einer Umwelt zu leiten, die ihr feindlich gegenüberstand und diese<br />

Umwelt doch zu lieben und bis zu dem Punkt zu verändern, dass die menschenverachtenden<br />

Verhältnisse des DDR-Regimes durchdas Handeln der Kirche<br />

zu ihrem Ende kamen.<br />

Dieses Erbe muss die Kirche Ostdeutschlands heute selbstbewusst erhalten<br />

und an andere weitergeben. Daher gilt mein besonderer Dank allen, die zum<br />

Entstehen dieses Buches beigetragen haben. <strong>Das</strong> sind neben dem bereits erwähnten,<br />

von uns allen hochverehrtenErnst Koch alle Autoren der vorliegenden<br />

Beiträge wie auch stud. theol. Elisa Ströle und cand. theol. Albrecht Meinel, die<br />

das Lektorat der Texte freundlicherweise übernommen haben. Der Evangelischen<br />

Kirche in Deutschland (EKD), dem des Erzbistum Berlin, dem Bistum Erfurt, wie<br />

auch der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens gilt Dank für die<br />

großzügige finanzielle Unterstützung des Drucks dieses Buches.Nicht zuletztgilt<br />

meine Dankbarkeit meiner Frau Anne, ohne die Buchprojekte wie dieses neben<br />

einem auch für uns als Familie einfordernden Pfarrdienst in Gemeinde und<br />

Hochschule niemals zu bewältigen wären.<br />

<strong>Justus</strong> <strong>Geilhufe</strong><br />

Großschirma, am 12. Januar 2023<br />

S.D.G.


Protestanten inder DDR


»Wer wir sind«<br />

Christian Lehnert (*1969)<br />

Meine sehr geehrten Damen und Herren,<br />

über Kirche inder DDR zu sprechen, haben Sie mich eingeladen. 1 Nun bin ich<br />

kein methodisch arbeitender Kirchenhistoriker, der seine Begriffe aus der Distanz<br />

zu seinem Gegenstand gewinnt, sondern ein Hineingeborener, auch Hineingeworfener,<br />

auch Verwundeter, der nicht so einfach von seinen Erinnerungen<br />

abstrahieren will und kann. Dann haben Sie in mir auch einen Dichter und Essayisten<br />

angefragt – jemanden also, der sich an den Rändernder Sprachebewegt,<br />

dort, wo sieausfranst ins Unbekannte und bisher Undenkbare, unddabei bin ich<br />

geradezu substantiell angewiesen auf meine subjektiven Resonanzen und mein<br />

eigenes Empfinden. Ich werde Ihnen also von persönlichen Erlebnissen erzählen<br />

und diese theologisch reflektieren, mehr nicht, und ich hoffe, dass es für Sie<br />

dennoch ein Erkenntnisgewinn sein wird, sei es im Modus der Verstörung.<br />

Drei Schritte habe ich vor. Ersten will ich mit Ihnen die unsichtbare Kirche<br />

betreten, die sich in der marxistischen Ideologie verbarg und vor meinen allerersten<br />

Begegnungen mit einer institutionalisierten Kirche bereits eine liturgische<br />

und theologische Schneise in meine Biografie geschlagen hat. Zweitens will ich<br />

mit Ihnen die Kirche in der DDR als eine zweite Öffentlichkeit be<strong>suchen</strong>, einen<br />

anderen Sprachraum, der ein anderes Denken eröffnete. Drittens will ich von<br />

der Ohnmacht sprechen, der Kircheals Ort des Widerstandes in der Schwäche –<br />

und dabei ein bestimmtes Verständnis dessen vorschlagen, was mit Kirche,<br />

griechisch ekklesia, gemeint ist.<br />

1<br />

Diesen Vortrag hielt Christian Lehnert als Eröffnungsvorlesung des Studienjahres 2020/<br />

2021 in der Aula der Theologischen Hochschule Reutlingen am 5. 10.2020 (Anmerkung<br />

des Herausgebers).


16 Protestanten in der DDR<br />

1. Die unsichtbare Kirche<br />

Verse waren mir über die Schläfen gestrichen in der Nacht, »wenn verlassen<br />

sind /die Räume, in denen Antworten erfolgen, wenn /die Wände stürzen und<br />

Hohlwege, aus den Bäumen /fliegen die Schatten, wenn aufgegeben ist /unter<br />

den Füßen das Gras, /weiße Sohlen betretenden Wind …«Ich hatte jenes Gedicht<br />

am Abend zigfach gelesen und nichts verstanden. Niemanden hatte ich jemals<br />

so sprechen hören. So etwas gab es nicht im Literaturunterricht, nicht im Radio,<br />

nicht in den Büchern, die ich sonst las. Ich war vierzehn Jahre alt und hatte mir<br />

einen Band von Johannes Bobrowski aus dem elterlichen Bücherschrank in<br />

Dresden genommen. Zaubersprüche hatten mich nun eingeholt, unverstandene<br />

Vokabeln, die ein Flirren erzeugten, welches mich, plötzlich unsicher meiner<br />

selbst und allem gegenüber, was ich zu wissen glaubte, schweben ließ. Was die<br />

Verse bedeuteten, konnte ich nicht im mindesten sagen, kein Zusammenhang<br />

erschloss sich zwischen den Geheimnissen, »Hohlwegen«, »weißen Sohlen«, »aus<br />

den Bäumen /fliegen die Schatten«.<br />

Die Worte hallten im Schlaf wider, in wirren Träumen. Am Morgen wachte ich<br />

auf und hatte eineFrage bestimmend im Kopf, die mit den Versen zunächst nichts<br />

zu tun hatte und ihnen doch unerklärlich entsprungen war: Ist ein Gott?<br />

Ich wusste, dass es keinen gab. Die Frage war hundertfach in der Schule<br />

erörtert worden: Kirche war eine Vertröstung auf ein Jenseits, um Menschen<br />

niederzuhalten in Unterdrückung. Religion hatte keinen Ort im Sozialismus,<br />

unter den freien Besitzern der Produktionsmittel, die hier und heute eine bessere<br />

Welt bauten. Aber das Wort »Gott« war an diesem Morgen doch wie ein Splitterda<br />

in meinem übermüdeten Kopf, so wie dieVerse Bobrowskis, die mir nichts sagten<br />

und mich nicht losließen, Echos, »der Dornbusch flammt, /ich hör seine Stimme,<br />

/wokeine Frage war, ein Gewässer /geht, doch mich dürstet nicht«. Wasfür<br />

ein Gewässer? Welcher Dornbusch? Wer hätte was fragen sollen?<br />

Wenn ich von dem plötzlichen und unerklärlichen Aufbrechen einer existentiellenGottesfrage<br />

in meiner Jugend erzählen soll, greife ich oftauf bestimmte<br />

Muster zurück, höre mich sagen: Ich interessierte mich plötzlich für die Kirche,<br />

weil sie eine Gegenwelt war zu den engen Denk- und Sprachformen in der<br />

realsozialistischen Schule. Oder: Kirche war so fern wie New York oder das<br />

Amazonasdelta, und ich konnte doch hin. Nur über die Straße musste ich gehen in<br />

das baufällige Backsteinhaus, versteckt hinter hohen Bretterwänden, durch das<br />

Gittertor in die zwielichtige Zone. Der Hauch des Verbotenen und der Gefahr<br />

verlieh den muffigen Gemeinderäumen einen besonderen Reiz. Hier begann das<br />

Andere.<br />

All das ist richtig, aber ich erinnere mich genauer: Ich war doch aufgewachsen<br />

mit strengen gottesdienstlichen Formen, ohne es zu wissen. Wenn ich<br />

mit meinen Freunden auf dem Schulweg mit der Straßenbahn in den Dresdener<br />

Stadtteil Übigau fuhr, über die Brücke des Elbflutgrabens, wenn wir die kleine


Plattensiedlung dort auf ewig schlammigen Wegen durchquerten und die 42.<br />

Polytechnische Oberschule näher kam, war unsunausgesprochen klar, dass wir<br />

uns selbst zurückließen. Noch als die selbstvergessen über den Schulhof jagenden<br />

Jungen würden wir Rollen ausfüllen. Die erste Regel des Spiels war: Du<br />

bist ein anderer. Die Wirklichkeit war hier eine Liturgie, ein subtiler, feingliedriger<br />

und unentrinnbarer Kult vor dem Altar der Partei, der »Vorhut« der Vollendung.<br />

Der Appellplatz: Stillstand, die kindlichen Körper, winters umschwirrt von<br />

Schneeflocken, sommers von Mücken. Die winzigen Glieder von Insekten, Außenskelette,<br />

und die von halbwüchsigen Menschen, innere Gerüste, bildeten<br />

zusammen eine summende Scola. Wir warteten auf den Parteisekretär oder den<br />

Direktor der Schule. Still – der Nacken, der Hals, der Schultergürtel. WirSchüler<br />

waren geordnet nach Größe.<br />

Disziplinierte Geometrie unter strömenden<br />

Faltern und Fahnen. Wir schrumpften.<br />

Kinder fielen in eins,<br />

schwenkten den Kopf in dem dumpfen<br />

Tanz des Kindergebeins.<br />

Christian Lehnert (*1969) 17<br />

Die anfängliche Stille war ein Bekenntnis unserer Schuld, ein Confiteor – der<br />

verletzten Disziplin, der Faulheit, der Einflüsterungen des Klassenfeindes, des<br />

mangelnden Glaubens. Dann wurde gesungen, ein Introitus: »Brüder zur Sonne<br />

zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor …«Die Lehrer zogenein, in ihrer Mitte der<br />

Schulleiter. Ertrat ans Pult und sprach ein Votum: »Seid bereit!« Aus hunderten<br />

Kehlen dröhnte es: »Immer bereit!«.<br />

Hinter dem Kollegium war ein Hochaltar aufgebaut. Dort stand eine Fahnenwand<br />

mit einem großen Bild des Genossen Erich Honecker, blumengeschmückt.<br />

Wortverkündigung, PredigtumPredigt folgte. Ich erinnere sie kaum,<br />

wir waren damit beschäftigt,still zuhalten. <strong>Das</strong> Gefälle war enorm: Hier unsere<br />

zappeligen Körper, dort der strenge Priester »ohne Gott«, der uns den Wegwies in<br />

eine andere Welt. Zu Hochfesten gab es auch Sakramente: Urkunden und kleine<br />

Abzeichen aus Gold, Silber oder Bronze für die besten Schulleistungen und die<br />

meisten gesammelten leeren Flaschen und Stapel Altpapier. Man war stolz, man<br />

war verwandelt.<br />

Ich weiß nicht, wie ich dazu fand, als Jugendlicher an einem herbstlichen<br />

Spätnachmittaginder frühen Dunkelheit bei dem mir ganz fremden Ortspfarrer<br />

zu klingeln und ihn unvermittelt zu fragen, ob ich konfirmiert werden könnte<br />

(ohne dass ich wusste, was genau das sei, ja, nicht einmal, was ich ihn eigentlich<br />

hätte fragen wollen, denn das Wort »Konfirmation« war nur eine Chiffre für das<br />

mir noch ganz Unbekannte). Waren Verse von Bobrowski über die Straße vorausgeweht?<br />

Aber ich verstand sie doch gar nicht. Mittler ohne Botschaft waren


18 Protestanten in der DDR<br />

sie, nur Auslöser für das plötzliche Gefühl, in mir nicht zu Hause zu sein. Eine<br />

»Stimme /wokeine Frage war«.<br />

Wenn ich heute über Kirche in der DDR sprechen soll, so werden für mich<br />

die unsichtbaren und in die Kultur der DDR doch tief eingesickerten Echos des<br />

Christentums immer bestimmender. Zur sozialistischen Diktatur gehörte eine<br />

ausgefeilte Liturgie. Die Diktaturdes Proletariatsglichzudem in ihrem Aufbruch<br />

zum Kommunismus einem religiösen Weg, der seine eschatologische Hoffnung<br />

allerdings auf die Negation Gottes setzte – aber sie war darin unzweifelhafteine<br />

Glaubenslehre, eine säkularisierte Transzendenzgestalt, und so nahm sie religiöse<br />

Formen an, die denen der Kircheähnelten. In der Sprache war es die Gestalt<br />

der Mythen und Metaphern, der Dogmen und der Dialektik. Inder Sozialgestalt<br />

war es die <strong>Leben</strong>sweise einer Kirche als Partei der Erwählten, als wanderndes<br />

Gottesvolk. Ideologisch war es die Gewissheit, auf einem Wegdurch die Fremde<br />

zu sein, dabei aber den Schlüssel zu besitzen zueiner absoluten Wahrheit, in<br />

deren Namenalles erlaubt war. Waseinst für die Intellektuellen der 1950er und<br />

-60er Jahre noch eine starke Sogkraftbesaß, war allerdings in den 1980er Jahren,<br />

von denen ich erzähle, nur noch verkrustete Behauptung, gar nicht mehr<br />

glaubhaft, ein enger Sprach- und Denkpanzer. Aber unzweifelhafthatte der in der<br />

DDR gelehrte Marxismus eine religiöse und eschatologischeDimension. Ich muss<br />

nur in meinem damaligen Geschichtslehrbuch blättern. Da lese ich etwa Sätze<br />

von Rosa Luxemburg, auf einem Parteitag der KPD 1919 gesprochen, und sie<br />

sagt: »Die Revolution hat keine Zeit zu verlieren, sie stürmt weiter – über noch<br />

offene Gräber, über ›Siege‹ und ›Niederlagen‹ hinweg – ihren großen Zielen<br />

entgegen. Wir fußen heute, wo wir unmittelbar bis vor die Endschlacht des<br />

proletarischen Klassenkampfes herausgetreten sind, geradezu auf jenen Niederlagen,<br />

deren keine wir missen dürfen, deren jede ein Teil unserer Kraft und<br />

Zielklarheit ist.« Werhört in diesem Sound nicht den Glauben, diemessianische<br />

Zuversicht?<br />

Aber weiter: Was fand ich in der sichtbaren Kirche, der evangelisch-lutherischen<br />

Kirchevor?(Und wäre ich damals am Abend nicht rechts, sondern links<br />

herum die Straße gelaufen, hätte ich beim katholischen Pfarramt geklingelt – und<br />

meine Biografie wäre anders gewesen.)<br />

2. Kirche als anderer Sprachraum<br />

Ich betrat einen abgedunkelten Raum. Eine Gruppe Jugendlicher saß aneinem<br />

langen Tisch. Die meisten waren so alt wie ich, fünfzehn oder sechzehn.Eswurde,<br />

als ich eintrat, plötzlich still. DerTisch endete vor einem Fenster, das mit einem<br />

schwarzenRollo verhängt war und im ersten Augenblick aussah wie ein Loch in<br />

der Wand. Heute würde man das Haus, wo dieses hohe Zimmer im Erdgeschoß


Christian Lehnert (*1969) 19<br />

lag, eine Ruine nennen. Es stand einzeln auf einem weiten Hinterhof.Hier in der<br />

zweiten Reihe war Dresden noch Mitte der 1980er Jahre eine Schutthalde.<br />

Ich war es seit frühesterKindheit gewohnt, zwei Sprachen zu sprechen: eine<br />

zu Hause und eine draußen. Ich bin zur Anpassung erzogen worden. Ich beherrschte<br />

es, im Staatsbürgerkundeunterricht zu brillieren. Ich wusste, wie es<br />

ging. Mein Gefühl für Identität war dabei schwach ausgebildet, so dass ich es<br />

nicht als Lüge empfand, anderen nach dem Mund zu reden. Zugleich war ich<br />

ausgehungert von sprachlichen Formeln, Dunkelzellen des Empfindens. Jetzt<br />

stand ich in dieser Raumkapsel. Sie schwebte. Ihr Triebwerk war das Licht eines<br />

Diaprojektors, der ein Bild an eine Wand warf. Darauf sah man zwei gefaltete<br />

Hände. Wovon der Pfarrer sprach, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich auch<br />

nicht, wie ich an dem Tisch Platz fand. Ich weiß nur noch, wie sich mein Gehirn<br />

in einer Sprache festbiss, in der die Worte eine ganz ungewöhnliche Bedeutung<br />

hatten – ein Vibrieren, als ob nichts Benanntes es selber blieb, und etwas sprang<br />

mich an, drehte mich immer schneller um eine unbekannte Achse. Wasdas Wort<br />

»Friede« hier meinte, hatte nichts mit atomarer Bedrohung aus dem Westen zu<br />

tun. Wenn von »Wahrheit« die Rede war, stand keine wissenschaftliche Weltanschauung<br />

drohend im Raum – nur ein nebulöser Sog, tastende Worte, die<br />

magischen Charakter hatten, die wie Zauberformeln klangen: »Dreieinigkeit«,<br />

»eins und drei« und »zwei« in den »Naturen« und immer wieder das Rätselwort:<br />

»Gott«. Vondaanwar nichts mehr eindeutig. Der christliche Glaube war für mich<br />

eine Dauerirritation.<br />

Kirche – das war für mich als Jugendlichen in der DDR wie für viele andere<br />

vor allem ein anderer Sprachraum. Innerhalb der ideologisch sortierten Welt,<br />

innerhalb der Mechanik der Begriffe, des Denk- und Sagbaren gab es eine Insel,<br />

eine Vakuole, in der die Wörter eine andere Existenzform hatten. Sie bedeuteten<br />

etwas anderes, eröffnete eine andere Welt. Hier entstand ein Freiheitsraum,<br />

einfach dadurch, dass sich eineandere Möglichkeitsform der Wirklichkeit zeigte.<br />

So gesehen war die Kirche an sich in ihrem bloßen <strong>Das</strong>ein bereits ein politischer<br />

Widerstandraum, ohne dass er als solcher explizit werden musste. Noch die<br />

herkömmlichen Formen (die für mich nebenbei hoch innovativ und erstaunlich<br />

wirkten) – Vaterunser, lutherisches Sündenbekenntnis, alte Kirchenlieder –<br />

waren politisch. Allein weil sie da waren und den Geltungsanspruch der Parteiideologie<br />

relativierten. Unter den Gewölben Dresdener Kirchen erschien die<br />

Welt verwandelt, waren die zwar gleichen Fakten anders sortiert, ergaben einen<br />

anderen Sinn, damit eben auch andere Erfahrungsräume. Kirche hatte mich vor<br />

allem zum Denken erweckt, und so fielen – wie für viele andere auch – theologische<br />

und gesellschaftliche Themen merkwürdig ineinander. Die Kirche entfaltete<br />

eine Ersatzöffentlichkeit, sie war ein Container experimentierenden<br />

Denkens. Diese brodelnde und energetisch geladene, köchelnde Innenwelt der<br />

Gemeindenverdampfte dann auch sofort, als mit dem Zusammenbruch der DDR


20 Protestanten in der DDR<br />

der Druckraum wegfiel, – und übrig blieb, wenig überraschend, als caput mortuum,<br />

die Kirche als Weltzugang unter vielen anderen.<br />

Mit dem Abstand der Jahrzehnte dämmert mir heute, dass die sprachliche<br />

Widerstandskraft der Kirchen in der DDR jedoch nicht allein erklärbar ist aus<br />

ihrer Unterschiedenheit von der ideologischen Enge. Etwas im Wesen der religiösen<br />

Sprache selbst gab ihr die politische und seelische Störkraft – denn die<br />

religiöse Sprache ist eine Verstörung. Sie greift fortwährend in einer Bewegung<br />

aus ins Ungesagte, Offene, das mit dem Geheimnis Gottes gegeben ist. Sie verkümmert,<br />

wo sie selbst weltanschaulich wird. Ihr Wesen ist die Grenzüberschreitung,<br />

der Glaube haust an den Rändern der Sprache, wo sie in Metaphern<br />

und Bildernund Erzählungen über sich hinauswächst. So war mit der Kirche ein<br />

wandernder Riss, eine lebendige Lücke eingelassen indas Gefäß einer geschlossenen<br />

Gesellschaft, – und dieser Riss war so verstörend,weil er sich selbst<br />

wiederum der sprachlichen Einhegung entzog.<br />

<strong>Das</strong> ist für die Gegenwart in meinen Augen von besonderer Bedeutung: Eine<br />

der größten Gefahren für unsere Kirchen besteht heute darin, dass sie sich im<br />

Konzert divergierender Weltanschauung selbst als solche darstellen und den<br />

Eindruck erzeugen, als bestünde Glaube in der Zustimmung zu bestimmten<br />

Aussagesätzen. Die große dänische Lyrikerin Inger Christensen hat einmal gesagt:<br />

»Vielleicht kann die Poesie gar keine Wahrheiten sagen; aber sie kann wahr<br />

sein, weil die Wirklichkeit, die mit den Worten folgt, wahr ist. Diese geheimnisvolleGefolgschaftzwischen<br />

Sprache und Wirklichkeit ist die Erkenntnisweise<br />

der Poesie.« <strong>Das</strong> gilt wohl gleichermaßen für poetische und für religiöse Sprache:<br />

Wirkönnenvon Gott keine Wahrheiten sagen, aber unsere Rede kann wahr sein.<br />

Im Sprechen. Religiöse Sprache sucht und bildet im Sprechen ihren Gegenstand.<br />

Sie spricht nicht von »etwas« ihr »Vorgängigem« im Modus des Abbilds.Sondern,<br />

was sie sagt, ist ihr immer entzogen. Mühsam grenzt sie es in Bilder, Gebete,<br />

Dogmen ein, aber es bleibt in der Mitte ein Loch, ein Krater, eine Offenbarungswunde.<br />

Religiöse Sprache ist demnach ein Flirren: Sie errichtet einerseits<br />

dauernd Bilder, die eingrenzen, die verständlich und kultisch regulierbar machen<br />

wollen; ja, man kann sagen: die semantisch beherrschen wollen (je mit der<br />

Tendenz zum Verfertigen von Götzenbildern). Anderseits steht sie permanent vor<br />

den Trümmern ihrer selbst und muss feststellen, dass nichts gesagt und nichts<br />

erkannt ist. Anders könnte man sagen: <strong>Das</strong> Wesen religiöser Sprache besteht in<br />

der Bewegung, und ihre Wahrheit geschieht als Resonanz in der Bewegung.<br />

Nach meiner Entlassung als Bausoldat im Frühjahr 1989 arbeitete ich für<br />

einige Monate in einem psychiatrischen Pflegeheim in Dresden, einem großen<br />

verdreckten Betonbau, der im Volksmund »die Sieche« genannt wurde. Ich suchte<br />

als junger Mann nach den teils erschütternden Kasernenerfahrungen gerade<br />

die krankhaften Verzerrungen, um mich in die Normalität und deren Scheinbarkeit<br />

in einem zerfallenden System fügen zu können. Jeden Morgen um sechs<br />

Uhr begrüßte mich an der stahlbeschlagenen Tür zur geschlossenen Station ein


Christian Lehnert (*1969) 21<br />

kleiner rundlicher Mann mittleren Alters in einem tiefblauen Bademantel, über<br />

den er einen roten Schal geworfenhatte. Er setzte sich dann meist zu mir, wenn<br />

ich im Vorraum das Frühstück für die Patienten zubereitete, und was er mir<br />

immer wieder erzählte, klang so: »Sie sind der einzige, zu dem man hier offen sein<br />

kann. <strong>Das</strong> habe ich gleich gesehen. Ihnen kann man vertrauen. Werhat Sie geschickt?<br />

Seien Sie ehrlich! Nein, schweigen Sie! Es ist sicherer, und ich weiß<br />

ohnehin, dass es kein Zufall ist, dass Sie hier sind. Ich werde an Siedenken. Auf<br />

jeden Fall werde ich an Sie denken,wenn das alles vorbei ist. Siemüssen wissen«,<br />

und nunkam er nah heran und flüsterte mir ins Ohr, »dass eine Aktion läuft,um<br />

mich hier zu befreien. Ein Ballon soll starten, der auf den russischen Radarschirmen<br />

nicht zu sehen ist. In Frankreich arbeitet der Geheimdienst daran.<br />

Wissen Sie, ich bin nämlich ein Baron aus sehr altem bretonischen Adel. Die<br />

Kommunisten haben mich hier eingesperrt.« Der Mann galt bei den Schwestern<br />

als unberechenbar und stand unter besonderer Beobachtung. Er schlief wie alle<br />

auf der Station in einem Viererzimmer hinter vergitterten Fenstern und wurde<br />

abends mit Beruhigungsmitteln stillgestellt, manchmal auch angeschnallt. Ich<br />

hörte seinen Geschichten gern und aufmerksam zu, wenn er ruhig und ausufernd<br />

erzählte von seinen Schlössern und Verwandten, von seiner Kindheit mit einem<br />

Prinzenerzieher und Jagden, von französischer Küche und seiner verhängnisvollen<br />

Reise in die DDR, um Deutsch zu lernen, von einer unterstellten Agententätigkeit,<br />

den Folterungen mit Bügeleisen und Kabelpeitschen durch die Stasi<br />

und einer Morddrohung durch Mielke persönlich. Ich sagte nichts dazu. Einmal<br />

sah er mich lange an und meinte plötzlich:»Sieglauben mir nicht. Woran lohnt es<br />

sich denn aber auch zu glauben?«<br />

Da war sie, dachte ich damals, die Kraft der Imagination. Da war sie, die<br />

Metapher, die sich in ihrer Übertragung nicht auf eine »uneigentliche Rede«<br />

beschränken ließ, sondern die Wahrnehmungverwandelte. Der adlige Mann war<br />

ein ganz unsicherer Zeuge, unsicher wie ich mir selbst. Er hatte ein gebrochenes<br />

Verhältnis zum dem,was wirklich war. Aber ich war doch damals ständig auf der<br />

Suche nach Ausdrucksformen, in denen ich mich freimachen könnte von der<br />

zementierten Wirklichkeit – und so hörte ich ihm zu. Ich war dabei, ein Dichter zu<br />

werden undzugleich die Religiontiefer in meinen Denkhaushalt einzulassen. <strong>Das</strong><br />

Bildersehen und -dichten, der poetische Puls des Sprachwesens Mensch, öffnet<br />

ihn für das, was nicht ist, und führt ihn hinaus. Wohin? Indie Verunsicherung,<br />

in die Illusion, in die Lücken, wie sie das Wort »Transzendenz« als lateinische<br />

Verbalform (transcendere, überschreiten) meint: abenteuerliches Hinübergehen.<br />

Wasist aus dem Mann im blauen Bademantel geworden? Wurde er entlassen<br />

nach der Wende? Oder aufgegeben in seinen wirren Innenwelten? Als ich nach<br />

dem Zusammenbruch der DDR das Heim be<strong>suchen</strong> wollte, war es weitestgehend<br />

aufgelöst und die allermeisten Patienten fort und verlegt.<br />

Damit nun bin ich beim letzten und für mich vielleicht aktuellsten Punkt:


»Welche Missverständnisse,<br />

Missdeutungen und Verleumdungen<br />

scheinen die DDR für westliche<br />

Christen zu umhüllen«<br />

Josef Hromádka (1889–1969)<br />

Peter C.A. Morée<br />

1. Einführung: die komplizierte Beziehung Josef Lukl<br />

Hromádkas zum Nachkriegsdeutschland<br />

Im Nachlass Josef Lukl Hromádkas befindet sich ein Brief von Kurt Scharf zum<br />

Anlass des 80. Geburtstags des Prager Theologen. Der ehemalige Ratsvorsitzende<br />

der EKD und Bischof der Landeskirche Berlin-Brandenburg bewertete die Arbeit<br />

und Wirkung Hromádkas u. a. im Lichte der jüngsten Geschichte der EKD.<br />

»Sie haben früher als andere das Verhältnis zur Römisch-Katholischen Kirche neu<br />

gesehen und gewertet. Sie haben den Dialog mit dem Marxismus möglich gemacht<br />

und im Dialog großartige Ergebnisse erreicht. Sie haben uns in Deutschland im<br />

Miteinander der Kirchen aus beiden Staaten hervorragende Dienste geleistet. (…)<br />

Persönlich danke ich Ihnen für väterliche Freundschaft.« 1<br />

Scharf hob gerade die Gebiete hervor, in welchen Hromádka teils schonvor dem<br />

Zweiten Weltkrieg und systematisch in der Nachkriegszeit arbeitete. Scharfs<br />

Würdigung fokussierte sich explizit auf Hromádkas Tätigkeit im Bereich ökumenischer<br />

und internationaler Beziehungen. Seit den zwanziger Jahren des<br />

20. Jahrhunderts kritisierte Hromádka die evangelische Theologie und Kirche<br />

wegen ihres Traditionalismus in der Haltung gegenüber der Römisch-Katholischen<br />

Kirche und gegenüber den Ereignissen in der neugegründeten Sowjetunion.<br />

In seiner Bewertung beider Entitäten betonte Hromádkadie Bereicherung,<br />

die sie für die protestantische und für die westliche Welt darstellen können.<br />

Scharfs dankbare Worte bedeuteten dazu eine Anerkennung der Bedeutung<br />

und des Beitrags Hromádkas für die innerdeutschen kirchlichen Beziehungen.<br />

Eine derartige Anerkennung von Seiten evangelischer Vertreter in Deutschland<br />

1<br />

Evangelisch-Theologische Fakultät der Karlsuniversität, Nachlass J. L. Hromádka, 1–3,<br />

Brief von Kurt Scharf an Josef L. Hromádka, 26. 6.1969.


28 Protestanten in der DDR<br />

war nicht immer da. Etwa acht Jahre früher fand eine heftige Konfrontation<br />

zwischen Hromádka und Scharfs Vorgänger Otto Dibelius statt. Dibelius behauptete,<br />

dass der Prager Theologe die Lage der Evangelischen Kirche in der DDR<br />

verkompliziere und die bestehenden Spannungen zuspitze.<br />

Wenn wir in diesem Aufsatz die Beziehung Hromádkas zur DDR und zu den<br />

dortigen kirchlichen Akteuren besser ins Auge fassen wollen, stellen wir zuerst<br />

fest, dass Hromádkas Engagementunterschiedlich wahrgenommenwurde. Dazu<br />

ist es notwendig, Hromádkas Werdegang ins Auge zu fassen und sein tschechisches<br />

Umfeld in der Beziehung zu Deutschland zu analysieren. Welche Rolle<br />

spielte Hromádka im tschechischen Protestantismus vor und nach dem Krieg?<br />

Und was war seine Auffassung des Versöhnungsprozesses zwischen Tschechen<br />

und Deutschen in der Nachkriegszeit?<br />

2. Kurze Biographie Hromádkas<br />

Hromádka rief nicht nur in der DDR Kontroversen hervor. Auch in seiner eigenen<br />

Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB) war und ist die Debatte<br />

über seine Bedeutung durch Ambivalenzen belastet. In den zwanziger und<br />

dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts war das mit seiner Ablehnung der liberalen<br />

Theologie und mit seiner linken politischen Orientierung verbunden. Inden<br />

fünfziger und sechziger Jahren rief seine positiveHaltung zum kommunistischen<br />

Regime bei manchen die Frage auf, ob seine Bejahung sich nicht in eine Kollaboration<br />

verwandeln könnte. Für die Führungsschicht der EKBB war er allerdings<br />

ein Leuchtfeuer zur Navigierung in einer Zeit, als die kommunistische Diktatur<br />

den gesellschaftlichen Raum für die Kirche ernsthaft eingrenzte. <strong>Das</strong> blieb auch<br />

so in den zwei Jahrzehnten nach seinem Tod 1969, als seine Schüler an der<br />

evangelisch-theologischen Comeniusfakultät ihn als den größten tschechischen<br />

Theologen der Neuzeit auf ein Piedestal stellten. In der Folgezeit wurde Hromádka<br />

fürdie jüngereTheologengenerationnach der Wende ein Synonym für die<br />

Kompromittierung der Kirche unter der kommunistischen Herrschaft.<br />

Josef Hromádka wurde 1889 als ältester Sohn in einer Bauernfamilie im<br />

mährischen Hodslavice geboren. 2 Seine Eltern gehörten zu der lokalen lutherischen<br />

Gemeinde. Nach seiner Schulausbildung studierte er Theologie in Wien.<br />

Wie üblich für die Studenten der evangelischen Theologie in der Donaumonar-<br />

2<br />

Ausführliche biographische Daten zu Hromádka sind nachzulesen in: Dorothea Neumärker,<br />

Josef L. Hromádka, Theologie und Politik im Kontext des Zeitgeschehens,<br />

München 1974. Auf tschechisch siehe Peter C. A. Morée, JiriPiskula,»Nejpokrokov j í<br />

církevní pracovník«: protestantské církve aJosef Lukl Hromádka vletech 1945–1969<br />

[»Der fortschrittlichste Kirchenmann«: die protestantischen Kirchen und Josef Lukl<br />

Hromádka 1945–1969], Bene ov 2015.


Josef Hromádka (1889 –1969) 29<br />

chie, führten ihn seine Studienreisen auch ins Ausland. Hromádka verblieb an<br />

Fakultäten, die bei Studenten aus Böhmen besonders beliebt waren, nämlich<br />

Basel, Heidelberg und Aberdeen. Nach seinem Studium wurde er 1912 als Vikar<br />

ordiniert, was ihn während des Ersten Weltkrieges nach Prag führte. Am Ende des<br />

Krieges verbrachte er einige Monate an der Ostfront inGalizien. Inwieweit die<br />

Erfahrungen an der Front für Hromádkas Entwicklung und seine theologische<br />

Reflexionvon Bedeutung waren, ist schwer festzustellen, da er später kaum über<br />

diese Zeit sprach. Die Bilder,die er vom Krieg in seinem Fotoalbum aufbewahrte,<br />

sprechen aber eineeindeutige Sprache: Sie zeigen zerstörte Kirchen, verwundete<br />

Soldaten und bedürftige Einwohner.<br />

Schon in seiner Zeit als Vikar arbeitete Hromádka zusammen mit weiteren<br />

Vertretern der böhmischenProtestanten an Konzeptenfür eine Reorganisierung<br />

der Strukturen der Evangelischen Kirche in Böhmen, Mährenund Schlesien. Die<br />

war seit dem 19. Jahrhundert Teil der Evangelischen Kirche zweier Konfessionen<br />

in der österreichischen Monarchie. Es war die Absicht der tschechischen<br />

Protestanten, eine möglichst selbstständige Kirche für tschechischsprachige<br />

evangelische Christen zu stiften, was unmittelbar nach dem Zusammenbruch der<br />

Donaumonarchie realisiert wurde. Damit entstand kurz nach der Gründung der<br />

Tschechoslowakischen Republik die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder.<br />

In den nächsten zwei Jahren wurden dann auch polnischsprachige und<br />

deutschsprachige evangelische Kirchen gegründet.<br />

Hromádka war zu dieser Zeit schon als Pfarrer in einer lutherischen Gemeinde<br />

im Nordosten Böhmens tätig. Er wurde nach Prag berufen, um an der<br />

neugegründeten evangelisch–theologischen Fakultät Systematische Theologie<br />

zu unterrichten. Damitwurde er der jüngste Professor an der kleinen Fakultät. Er<br />

profilierte sich vor allem als Alternative zur liberalen Theologie, die von den<br />

älteren Kollegen gelehrt wurde. Hromádka wurde wegen seiner didaktischen<br />

Qualitäten bald ein beliebter Lehrer, was ihm den Wegfür seine spätere einflussreiche<br />

Position in tschechischen evangelischen Kreisen ebnete. 3<br />

In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg äußerte Hromádka öfters seine<br />

Sympathie für dieEntwicklungen in der jungen Sowjetunion. So schrieb er in der<br />

Korrespondenz mit seiner zukünftigen Frau über seinen Wunsch, das Land zu<br />

be<strong>suchen</strong>. In dieser Zeit baute er Kontakte mit linksorientierten Intellektuellen<br />

auf, die öfters auch mit der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei zusammenarbeiteten.<br />

Er engagierte sich in den 1930er Jahren in einem Komitee für<br />

die Unterstützung der demokratischen Kräfte im Spanischen Bürgerkrieg, das<br />

von Vertretern der Kommunistischen Partei dominiert wurde. DieseBeziehungen<br />

waren vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg von Bedeutung.<br />

3<br />

Ausführlicher dazu Ondrej Matejka, Ageneration? Aschool? Afraternity? Anarmy?<br />

Understanding the roots of Josef Lukl Hromádka’s influence in the Czech Protestant<br />

milieu 1920–1948, in: Communio viatorum 2012/3 (54), 25–38.


30 Protestanten in der DDR<br />

Auch durch seine Ehe gewann Hromádka Zugang zuElitekreisen des tschechischen<br />

Protestantismus. Sein Schwiegervater war einflussreiches Mitglied verschiedener<br />

Ausschüsse für kirchliche Öffentlichkeitsarbeit und Gemeindeaufbau<br />

in der EKBB. Auch wenn Hromádka sich in dieser Zeit gerne als Außenseiter<br />

präsentierte,wurde seinePositioninder EKBB eher bedeutsamer. <strong>Das</strong>lag an seiner<br />

Betonung dergrundsätzlichen ökumenischen undgesellschaftlichenOffenheit als<br />

Grundriss einer modernen evangelischen Identität. Organisatorisch äußerte sich<br />

dieser Ansatz in einer Jugendbewegung innerhalb des YMCA. Der sogenannte<br />

»Akademische YMCA« entwickelte sich als Plattform für Begegnungen, Sommerlagerund<br />

Konferenzenvon Jugendlichen undStudenten ausprotestantischenund<br />

aus nichtkirchlichen Kreisen. Nicht wenige junge Intellektuelle fanden über den<br />

»Akademischen YMCA« ihrenWeg in die EKBB. Auch die Zeitschrift »K es anská<br />

revue« [Christliche Revue], die Hromádka zusammen mit seinem Freund, dem<br />

Philosophen Emanuel Rádl, herausgab, trug zu einer Emanzipation der zahlenmäßig<br />

kleinen Minderheit der tschechischen Protestanten bei.<br />

Über den »Akademischen YMCA« wurde Hromádka in der überkonfessionellen<br />

internationalen ökumenischen Studentenbewegung WSCF tätig. Die<br />

Teilnahme an deren Konferenz 1928 in Mysore (Indien) war für Hromádka ein<br />

Ereignis, das ihn in seiner Theologie und seinem Kirchenbild beeinflusste. Bekanntschaften<br />

und Freundschaften mit führenden ökumenischen Persönlichkeiten<br />

wurden für Hromádkas späteren <strong>Leben</strong>slauf wichtig.<br />

Zu den freundschaftlichen Beziehungen aus dieser Zeit gehörte auch die mit<br />

Karl Barth. AmAnfang war diese sehr geprägt durch die politischen Entwicklungen<br />

in Deutschland nach 1933. Die tschechischen Evangelischen verfolgten<br />

diese in der Zeitschrift »K es anská revue« sorgfältig. Hromádka äußerte öfters<br />

seine Besorgnis über den zunehmenden Antisemitismus. Nachdem Barth gezwungen<br />

war, seinen Lehrstuhl in Bonn 1935 zu verlassen, lud ihn Hromádka<br />

nach Tschechien ein. Die tiefe FreundschaftzuBarth zeigte sich im sogenannten<br />

»Ersten Hromádka–Brief«von 1938. In diesem rief Barth in der Sudetenkrise das<br />

tschechoslowakische Volk mit theologischen Argumenten zum Widerstand gegen<br />

Hitler auf. 4 Nach der Besatzung der Tschechoslowakei und der Gründung des<br />

Protektorats Böhmen und Mähren gelang es Hromádka und seiner Familie über<br />

seine ökumenischen Kontakte zu fliehen. Bis 1947 lebte er in Princeton, wo er<br />

Systematische Theologie lehrte.<br />

Schon in seinem amerikanischen Exil veröffentlichte Hromádka kritische<br />

Aufsätze zum Misstrauen gegenüber der Sowjetunion, die seiner Meinung nach<br />

die amerikanische Öffentlichkeit beherrschte. Er behauptete, dass die Ereignisse<br />

des Jahres 1938 einen Angriff auf die liberale Welt bedeuteten und dass die<br />

4<br />

Die Korrespondenz zwischen Hromádka und Barth ist zu finden in: Martin Rohkrämer,<br />

FreundschaftimWiderspruch. Der Briefwechsel zwischen Karl Barth, Josef L. Hromádka<br />

und Josef B. Sou ek 1935–1968, Zürich 1995.


Josef Hromádka (1889 –1969) 31<br />

Sowjetunion als wichtiger Faktor für die Zerschlagung des Dritten Reiches und<br />

die Rettung Europas angesehen werden müsse. Sowohl die Dominanz der<br />

Kommunistischen Partei als auch die endgültige Festigung der kommunistischen<br />

Diktatur in der Tschechoslowakei sah er als legitime und notwendige Folgen der<br />

geschichtlichen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. Diese Linie vertraternicht<br />

nur in seiner eigenen Kirche, sondern auch in seiner ersten großen Rede für die<br />

internationale Ökumene in Amsterdam, wo 1948 der Ökumenische Rat der<br />

Kirchen gegründet wurde. Er lehnte es ab, in den kommunistischen Staaten<br />

Gegner der christlichen Zivilisation zu sehen, wie es von dem amerikanischen<br />

Vertreter John Foster Dulles getan wurde. 5<br />

Hromádka akzeptierte die Folgen der kommunistischen Herrschaft für die<br />

Kirche und Theologische Fakultät in Prag. Gleichzeitig war er sich der Schwierigkeiten,<br />

die diese neue Kirchenpolitik mit sich bringen würde, bewusst. Anders<br />

als in der DDR wurden die Kirchen in der Tschechoslowakei wirtschaftlich<br />

vollständig abhängig vom Staat und verloren ihr eigenes Einkommen. Die Einführung<br />

einer staatlichen Genehmigung für die Ausübung geistlicher Arbeit gab<br />

den Behörden ein mächtiges Instrument in die Hand, um die Loyalität der<br />

Geistlichen und der Kirchen zu erzwingen. Kirchliche und christliche Organisationen<br />

wie dieDiakonie oder der »Akademische YMCA« wurden aufgelöst. Für<br />

die Kirchen wurde es schwierig, internationale ökumenische Beziehungen aufrechtzuerhalten,<br />

weil die Beteiligung an Sitzungen und Konferenzen fast unmöglich<br />

wurde.<br />

Auch für Hromádka hatte die kommunistische Gleichschaltung Konsequenzen.<br />

Nicht nur verlor er seine Plattform im »Akademischen YMCA«, sondern<br />

längere Zeit konnte er sich kaum an der Arbeitdes Exekutiven Komitees des<br />

ÖRK, dessen Mitglied er war, beteiligen. Erengagierte sich allerdings in dem<br />

Weltfriedensrat, die in massiven Konferenzen die internationale »Friedenspolitik«<br />

der Sowjetunion verteidigte. Hromádka nahm ausdrücklich als Theologeund<br />

Vertreter des tschechischen Protestantismus, verwurzelt in der revolutionär<br />

gesinnten Böhmischen Reformation, teil. In den frühen fünfziger Jahren wurde er<br />

öfters in offizielle tschechische Delegationen zu Veranstaltungen über die<br />

»Deutsche Frage« aufgenommen. Diese Reisen führten ihn regelmäßig in die<br />

DDR, wo er Theologen wie Emil Fuchs oder Martin Niemöller kennenlernte<br />

(darüber mehr unten). Hromádka sprach sich bei diesen Gelegenheiten deutlich<br />

gegen die Eingliederung West-Deutschlands in die westlichen Sicherheits- und<br />

Wirtschaftsorganisationen aus und befürwortete den Plan der Sowjetführung zu<br />

einer Vereinigung eines neutralen Deutschlands.<br />

5<br />

Hromádkas Rede »Our Responsibility in the Post-War World«, in: The Church and The<br />

International Disorder. An ecumenical study prepared under the auspices of the World<br />

Council of Churches, London 1948, 114–142. Dort ist auch die Rede von Dulles zu finden:<br />

The Christian Citizen in aChanging World, a. a. O. 73–114.


»Draußen vor dem Tor«<br />

Günther Jacob (1906–1993)<br />

Michael Hüttenhoff<br />

In der sowjetischen Besatzungszone und später der DDR verfolgte Günter Jacob<br />

gegenüber Vertretern des Staates und der Partei zunächst einen Konfrontationskurs.<br />

1 Seit der Mitte der 1950er Jahre schwächte sich das ab, und besonders<br />

zwischen 1960 und 1968 setzte er auf eine Kooperation, die aber unkritische<br />

Anpassung vermeiden sollte.<br />

Wie Jacob als kirchlicher Verantwortungsträger handelte, wurde durch eine<br />

Vielzahl von Faktoren bestimmt: durch den Druck des Staates und seine manipulative<br />

Differenzierungspolitik, die politische Lage, Jacobs Charakter und Ambitionen,<br />

aber auch durch seine Theologie. Von der Theologie Barths und den<br />

Erfahrungen im Kirchenkampf geprägt, legte Jacob großen Wert auf die theologische<br />

Begründung kirchlicher Praxis. Selbst wenn die Begründung nicht immer,<br />

wie es dem Ideal entsprochen hätte,der Praxis zeitlich vorausgegangen sein<br />

sollte, ist offensichtlich, dass Jacob sich um eine Kohärenz von Theologie und<br />

Praxis bemühte. Der vorliegende Aufsatz schenkt diesem Punkt besondere<br />

Aufmerksamkeit.<br />

Die Untersuchung beschränkt sich auf die Zeit von 1960 bis Anfang 1967.<br />

Bis etwa 1960 beurteilten Vertreter des Staates Jacob meist kritisch. Doch um<br />

1960 änderte sich ihre Einschätzung, und sie hätten gerne gesehen, wenn er als<br />

Nachfolger von Otto Dibelius Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg<br />

(EKBB) geworden wäre. Dazu kam es nicht, doch vom 6. Februar 1963<br />

bis zum 15. Februar 1966 war er Verwalter des Bischofsamtes für die Region Ost<br />

der EKBB und nahm dort die bischöflichen Aufgaben wahr. Am 5. Januar 1967<br />

wurde Albrecht Schönherr als sein Nachfolger in das Verwalteramt gewählt. Zwar<br />

1<br />

Einen Gesamtüberblick über das Wirken Günter Jacobs 1933–1966 habe ich vorgelegt<br />

in: Michael Hüttenhoff, Günter Jacob. Kirchliche Praxis in zwei Weltanschauungsdiktaturen,<br />

in: Lucia Scherzberg (<strong>Hrsg</strong>.), »Doppelte Vergangenheitsbewältigung« und<br />

die Singularität des Holocaust, theologie.geschichte, Beihefte 5, Saarbrücken 2012, 357–<br />

394.


46 Protestanten in der DDR<br />

blieb Jacob weiterhin ein wichtiger Ansprechpartner des Staates, trat in dieser<br />

Rolle aber hinter Schönherr zurück.<br />

1. Die Suche nach einem vertrauensvollen Verhältnis<br />

zum Staat und Konflikte mit der Kirchenleitung<br />

Vertretern des Staates gegenüber betonte Jacob wiederholt, dass er an einem<br />

guten, vertrauensvollen Verhältniszwischen Kirche und Staat interessiert sei. 2 Er<br />

legte Wert darauf, dass die Vertreter des Staates ihm vertrauen, 3 vermied ihm<br />

nicht notwendig erscheinendeKonfrontationen und zeigte in politischen Fragen<br />

ein großes Entgegenkommen. UminEinzelfragen etwas erreichen zu können,<br />

wollte er eine Totalopposition vermeiden. Doch sein Verhalten gegenüber dem<br />

Staat war nicht immer ausreichend mit den anderen Mitgliedern der Kirchenleitung<br />

abgestimmt. <strong>Das</strong> führte zwangsläufig zu Auseinandersetzungen.<br />

Bereits 1962 musste sich Jacob dafür verteidigen, dass er in einer Gruppe,<br />

die das Staatssekretariat für Kirchenfragen ohne Rücksprache mit der Kirchenleitung<br />

zusammengestellt hatte, nach Russland gereist war. 4 Während der<br />

Zeit, in der er Verwalter des Bischofsamteswar, kam es zu Auseinandersetzungen<br />

a) über die Teilnahme am Staatsempfang anlässlich des 14. Jahrestages der<br />

Gründung der DDR am 7. Oktober 1963, b) über eine Rundfunkansprache am<br />

29. Dezember 1964, in der Jacob den Plander NATO kritisierte, unter Beteiligung<br />

der Bundesrepublik eine multilaterale Atomflotte (Multilateral Force; MLF)<br />

aufzustellen, und vor allem c) über eine am 3. Mai 1965 in Cottbus anlässlich<br />

des 20-jährigen Jubiläums des Kriegsendes gehalteneStegreifrede. 5 Im Juni 1966<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

Siehe z. B. Hans Seigewasser, Vermerk über den Antrittsbesuch D. Jacobs am 6. März<br />

1963 […](7. 3.1963) (DO 42950, 1356 f.), 1: »Bischof D. Jacob erklärte […], daß er bestrebt<br />

sei, ein vertrauensvolles und gutes Verhältnis zwischen Kirche und Staat herzustellen.« –<br />

Ders., Bericht über Gespräche mit den Generalsuperintendenten Führ und Jacob anläßlich<br />

eines Zusammentreffens im Stoecker Stift Berlin-Weißensee, [am 28. 5. 1963]<br />

(29. 5.1963) (DO 4 2950, 1333–1335), 3: »Bischofsverwalter Jacob unterstrich abschließend<br />

sehr stark seine Bemühungen um ein echtes Vertrauen zwischen Kirche und<br />

Staat«.<br />

»J. betonte wiederholt, daß er größten Wert darauf lege, wenn man zu ihm Vertrauen<br />

habe, was natürlich nicht bedeute, daß man in allen Fragen einer Meinung sei« (Fritz<br />

Flint,Niederschriftüber die Aussprache des Staatssekretärs mit Generalsuperintendent<br />

Jacob, Cottbus, am 8. Dez. 1961 […] [23.1. 1962] [BArch DO 42950, 1374–1376], 2).<br />

Vgl. die Protokolle über die Sitzungen der Regionalkirchenleitung Ost [abgek.: PRKO]<br />

vom 26.4. 1962, 3. 5. 1962, 10.5. 1962 und besonders 17.5.1962 (ELAB 35/1321).<br />

In einem Gespräch, das Jacob am 4. 3. 1966 nach seinem Verzicht auf die Verwaltung des<br />

Bischofsamtes mit Günter Wirth führte, hat er laut Wirth diese drei Auseinanderset-


Günther Jacob (1906 –1993) 47<br />

mussten sich Jacob und Schönherr für die Teilnahme an einem Empfang rechtfertigen,<br />

zu dem Hans Seigewasser, der Staatssekretär für Kirchenfragen, am<br />

7. Juni die Mitglieder der gerade in der DDR tagenden Jugendkommission der<br />

Christlichen Friedenskonferenz eingeladen hatte. Auch zu dem Grußwort, das er<br />

auf diesem Empfang gesprochen hatte und in dem er unter Berufung auf Karl<br />

Barth für die Anerkennung der 1945gezogenen Grenzen eingetreten war und vor<br />

der atomarenAufrüstung der Bundeswehr gewarnthatte,musste Jacob Stellung<br />

nehmen. 6 Die Auseinandersetzungen über diese Ereignisse wurden dadurch<br />

angeheizt, dass die DDR-Presse, besonders die Neue Zeit,das Organder CDU-Ost,<br />

über die Ereignisse berichtete. 7 Exemplarisch sollen zwei dieser Konflikte genauer<br />

betrachtet werden.<br />

1.1 Die Rundfunkansprache am 29. Dezember 1964<br />

Der MLF-Plan 8 sah vor, neben den bereits vorhandenen fünf Atom-U-Booten<br />

der USA, die mit nuklearen Mittelstreckenraketen des Typs Polaris bestückt<br />

6<br />

7<br />

8<br />

zungen als »Höhepunkte« (Günter Wirth, Aktenvermerk [über ein Gespräch mit Jacob<br />

am 4. 3. 1966] [5. 3. 1966]; BArch DO 4433,1055–1060, 3) des gegen ihn gerichteten<br />

Verhaltens im Konsistorium und in der Kirchenleitung bezeichnet.<br />

Vgl. PRKO vom 9. 6.1966 (ELAB 40/15). – Jacob bezieht sich auf ein Interview von<br />

Manfred Linz mit Karl Barth, das am Vorabend von Barths Geburtstag im Norddeutschen<br />

Rundfunk gesendet wurde. Später wurde das Interview in Zeichen der Zeit veröffentlicht:<br />

Karl Barth/Manfred Linz, Kirche und Theologie heute. Ein Gespräch mit Professor<br />

Karl Barth, in: ZdZ 20 (1966), 285–289, hier: 288.<br />

Jacob verweist darauf auch in: Günter Jacob, Zur deutschen Frage – eine Bücherumschau,<br />

in: ZdZ 20 (1966), 442–447, hier: 442 f.<br />

Zur Russlandreise siehe: Geistliche nach Moskau. Teilnahme am Osterfest der Russischen<br />

Orthodoxen Kirche, in: Neue Zeit (28. 4. 1962), 1(mit Bild); Reise festigte brüderliche<br />

Bindungen. DDR-Theologen aus der UdSSR zurück. Unvergeßliche Erlebnisse<br />

und wertvolle Erfahrungen, in: Neue Zeit (12.5. 1962), 1.<br />

Zum Staatsempfang siehe: Walter Ulbricht: Es geht gut voran in der Republik. Festlicher<br />

Empfang zum 14. Jahrestag der DDR, in: Neue Zeit (9.10. 1963), 1(mit Bild).<br />

Die Rundfunkansprache vom 29.12. 1964 wurde abgedruckt: Günter Jacob, Nicht<br />

schweigen!, in: Neue Zeit (30.12. 1964), 1f.<br />

Zur Stegreifrede siehe: Notwendige Konsequenzen. Bischofsverwalter D. Jacob in einer<br />

bedeutsamen Rede zum 20. Jahrestag der Befreiung, in: Neue Zeit (5. 5.1965), 1f.<br />

Zum Empfang am 7. 6.1966 siehe: E. K., Ruf an die Christen in Westdeutschland. CFK-<br />

Jugendkommission tagt in der DDR – Gespräch mit Hans Seigewasser – Bedeutsame<br />

Ansprache D. Jacobs, in: Neue Zeit (9.6. 1966), 2.<br />

Vgl. zum Folgenden: Matthias Schulz, Integration durch eine europäische Atomstreitmacht?<br />

Nuklearambitionen und die deutsche Europa-Initiative vom Herbst 1964,


48 Protestanten in der DDR<br />

waren, ungefähr 25 Schiffe, deren Besatzung Mitglieder verschiedener NATO-<br />

Nationen umfassen sollte, mit Raketen des Typs Polaris A 3 (Reichweite<br />

ca. 4.500 km) auszurüsten. Über den Einsatz sollte kooperativ entschieden<br />

werden. Der Plan reichte zurück bis in das Jahr 1957 und wurde seit 1962 intensiver<br />

diskutiert. Aber er wurde nicht umgesetzt, weil ihn nurdie BRD, die an<br />

einer nuklearen Teilhabe interessiert war, und die USA entschlossen verfolgten,<br />

während Frankreich und Großbritannien ihn ablehnten. Bereits 1964 zeichnete<br />

sich ab, dass er scheitern würde, und Ende 1965 war er tot.<br />

In derDDR wurde derMLF-Plan attackiert und propagandistisch ausgenutzt. 9<br />

<strong>Das</strong> Staatssekretariat für Kirchenfragen griff in einem Gespräch mit Jacob am<br />

22. Oktober 1964 das Thema auf. Es sei notwendig, »daß alle verantwortungsbewußten<br />

und progressiven Männer der Kirche […] in der Öffentlichkeit ihre<br />

Stimme« 10 erhöben. »Fragen der atomaren und der allgemeinen Abrüstung einerseits<br />

und der atomaren Aufrüstung, besonders der multilateralen Bewaffnung<br />

Westdeutschlands andererseits, machen dieses dringend notwendig.« Jacob informierte<br />

das Staatssekretariat, dass er mehrfach mit Helmut Gollwitzer ȟber ein<br />

gemeinsames Vorgehen« gesprochen habe und beabsichtige, mit ihm eine Erklärung<br />

zur Friedens- und Verständigungspolitik auszuarbeiten. Nach Auffassung<br />

des Staatssekretariats sollten Jacob und Gollwitzer ver<strong>suchen</strong>, eine »repräsentative<br />

Gruppe von Kirchenmännern und Theologen aus beiden deutschen<br />

Staaten und Westberlin für die Unterschrift« 11 unter dieErklärung zu gewinnen.<br />

In einem Gespräch am10. Dezember kam Fritz Flint, der Stellvertreter Seigewassers,<br />

auf das Thema zurück. Anscheinend hatte man Jacob inzwischen<br />

vorgeschlagen, er solle allein oder mit einigen DDR-Bischöfen in einem Weihnachtsgruß<br />

an die evangelischen Würdenträger in Westdeutschland zur MLF<br />

Stellung nehmen. Doch Jacob wies diesen Vorschlag zurück. Ein derartiges Vorgehen<br />

wäre »ein völliges Novum«. Außerdem würde ihm, wenn ereinen solchen<br />

9<br />

10<br />

11<br />

in: VZG 53 (2005), 275–313; J. W. Boulton, NATO and the MLF, in: Journal of Contemporary<br />

History 7(1972), 275–294; Wilfried L. Kohl, Nuclear Sharing in NATO and<br />

the Multilateral Force, in: Political Science Quarterly 80 (1965), 88–109.<br />

Exemplarisch sei auf einige Artikel in der Neuen Zeit im Dezember 1964 hingewiesen:<br />

Kampf gegen MLF dient der Entspannung. Leonid Breshnew warnt Imperialisten vor<br />

dem Spiel mit dem Feuer – Freundschaftskundgebung in Moskau, in: Neue Zeit (4.12.<br />

1964), 1; Gemeinsam gegen MLF. UdSSR und CSSR für deutsche Friedensregelung, in:<br />

Neue Zeit (6. 12.1964), 2; Kampf gegen die MLF. Interview von Radio DDR mit Kirchenpräsident<br />

D. Niemöller, in: Neue Zeit (8. 12.1964), 1; Die Völker stehen an unserer<br />

Seite. Internationale Kundgebung gegen Bonner Atommachtpläne, in: Neue Zeit (11.12.<br />

1964), 1usw.<br />

Hans Seigewasser, Information über ein Gespräch mit Bischof Jacob am 22.10. 1964<br />

(23. 10.1964) (BAarch DO 4433, 1243–1246), 2.<br />

A.a. O., 3.


Günther Jacob (1906 –1993) 49<br />

Brief schriebe, von den Bischöfen inWestdeutschland und der westdeutschen<br />

Öffentlichkeit »unterstellt werden […], daß erinunmittelbarem oder mittelbarem<br />

staatlichen Auftrag handele«. 12 Für ausgeschlossen hielt Jacob, dass alle DDR-Bischöfe<br />

einenderartigenBrief unterschrieben. 13 Wenn einkirchlicher Vertreterals<br />

Einzelperson zu einem solchen Schritt legitimiert sei, dann Bischof Friedrich-<br />

Wilhelm Krummacher, der Vorsitzende der Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen.<br />

Aber auch dieser wäre zu Weihnachtennicht bereit dazu. 14 Doch die<br />

Vertreterdes Staatssekretariats versicherten,dasssie vorerstnicht beabsichtigten,<br />

mit anderen Kirchenvertretern über eine Stellungnahme gegen die MLF zu sprechen,<br />

auch nicht mit Krummacher.<br />

Als Alternative zu dem Weihnachtsgruß schlug Jacob vor, er könne in einer<br />

kurzen Rundfunkansprache zum neuen Jahr auf das Thema eingehen. 15 <strong>Das</strong><br />

Staatssekretariat stimmte diesem Vorschlag zu. Laut Gesprächsprotokoll erklärte<br />

Jacob »ungefragt seine Bereitschaft, selbstverständlich die Konzeption noch<br />

einmal abzusprechen und dann seinen kurzen Vortrag in der Endfassung« dem<br />

Staatssekretariat »vorzulegen«. 16<br />

In seiner Anspracheam29. Dezemberwies Jacobeinleitend darauf hin, dass<br />

sich ein »Mann der Kirche« bei politischen Stellungnahmen »Zurückhaltung<br />

auferlegen« müsse. Es gebe »aber elementare Nöte und Bedrohungen, angesichts<br />

derer alle verantwortungsbewußten und informierten Menschen zu einem gemeinsamen<br />

Urteil kommen werden«. 17 Zu diesen rechnete er auch den MLF-<br />

Plan. 18 Den Konsens der verantwortungsbewussten und informierten Menschen<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

[Fritz Flint,] Vermerk über das Gespräch mit Bischof D. Jacob am 10. 12.1964 […]<br />

(BArch DO 4433, 1248–1250), 1.<br />

Vgl. a. a. O., 2.<br />

Vgl. a. a. O., 1.<br />

Vgl. a. a. O., 2.<br />

Ebd.<br />

Jacob, Nicht schweigen! (Anm. 7), 1.<br />

Jacob erwähnt auch kurz »den soeben bekannt gewordenen Plan zur Anlegung eines<br />

atomaren Todesgürtels an den innerdeutschen Grenzen« (Jacob, Nicht schweigen!<br />

[Anm. 7], 1), geht darauf aber nicht weiter ein. Ausgelöst wurde die Debatte über den<br />

›atomaren Todesgürtel‹ durch einen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:<br />

A[delbert] W[einstein], Atom-Minen entlang der Zonengrenze? Ein neuer deutscher<br />

Vorschlag für die Vorwärtsstrategie. Zustimmung bei den Amerikanern, in: FAZ (16.12.<br />

1964), S-Ausgabe, 1u.4. Neues Deutschland berichtete darüber erstmals am 17.12.: Nazi-<br />

Trettner fordert: Atomwaffen an die Grenze zur DDR. MLF soll Entspannung blockieren,<br />

in: Neues Deutschland (17.12.1964), 1. Die Neue Zeit griff das Thema am 19. 12.1964 auf:<br />

Atomminen bereits gelagert. Einsatzpläne vorhanden – Bischof protestiert, in: Neue Zeit<br />

(19. 12.1964), 1f. – Die Rede vom ›Trettner-Plan‹ führte diese Idee fälschlich auf den<br />

Generalinspekteur der Bundeswehr, Heinrich Trettner, zurück. Der vermeintliche Plan<br />

sorgte auch in der Bundesrepublik für großes Aufregung. Doch der FAZ-Artikel Wein-


50 Protestanten in der DDR<br />

illustrierte Jacob, indem er auf die Wissenschaftler-Erklärung der 13. Tagung der<br />

Pugwash-Konferenz (September 1964) 19 ,die Stellungnahme des Exekutivausschusses<br />

des Ökumenischen Rates in Odessa (Februar 1964) 20 und die II. Allchristliche<br />

FriedensversammlunginPrag (Sommer 1964) 21 verwies. SeineKritik<br />

an dem MLF-Projekt richtete sich vor allem dagegen, dass »Politiker und Generäle<br />

der Bundesrepublik ein Mitspracherecht beim Einsatz solcher Atomwaffen« beanspruchten.<br />

Angesichts des Leids, das Deutsche in zwei Weltkriegen über andere<br />

Völker gebracht hatten, sei das inakzeptabel. Außerdem befürchtete er, die<br />

Verwirklichung des Plans werde die »innerdeutschen Nöte verschärfen«. 22 Er<br />

wies auf erste Schrittehin, welche die Nöte, die durch die Trennung Deutschlands<br />

entstanden seien, gelindert hätten, und äußerte die Hoffnung auf weitere Verbesserungen.<br />

Die Beteiligung der Bundesrepublik an der MLF würde die Erfüllung<br />

dieser Hoffnungen gefährden.<br />

Der Ephorenkonvent, der Konvent der Superintendenten, reagierte kritisch<br />

auf die Ansprache. Am 7. Januar 1965 griff die Kirchenleitung das Thema auf<br />

und diskutierte es »in geschlossener Sitzung. Ein Beschluß wird nicht gefaßt«. 23<br />

Anscheinend kam es außerdem auf dem Ephorenkonvent am 15. Januar zu<br />

heftigen Auseinandersetzungen. 24 Protokolle der geschlossenen Sitzung und des<br />

Konvents sind mir bisher nicht bekannt. Am 22. April schilderte Jacob laut<br />

Seigewasser, »wie explosiv die Stimmung in der Kirchenleitung gegen ihn gewesen«<br />

sei. Ein Misstrauensvotum und sein Amtsverzicht hätte er nur durchden<br />

Hinweis verhindern können, dass »durch eine solche Haltung der Mehrheit der<br />

Kirchenleitung ein Scherbenhaufen angerichtet werde«. Denn die »staatlichen<br />

Organe« nähmen einen derartigen politischen Angriff der Kirchenleitung nicht<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

steins vermittelte falsche Vorstellungen von dem Plan und der Rolle Trettners. Vgl. dazu<br />

Reiner Pommerin, General Trettner und die Atom-Minen. Zur Geschichte nuklearer<br />

Waffen in Deutschland, in: VZG 39 (1991), 637–654, bes. 643 f.<br />

Vgl. Pugwash: MLF-Pläne aufgeben. Anerkennung und Garantie bestehender deutscher<br />

Grenzen gefordert, in: Neues Deutschland (21.9.1964), 2. – Zu den Pugwash-Konferenzen<br />

vgl. z.B. Klaus Gottstein,Die Pugwash-Konferenzen, in: Naturwissenschaftliche<br />

Rundschau 39 (1986), 253–255.<br />

Vgl. II. Allchristliche Friedensversammlung, Botschaft andie Kirchen und Christen, in:<br />

ZdZ 18 (1964), 385–388, hier: 387.<br />

Vgl. Erklärung des Exekutiv-Ausschusses des Ökumenischen Rates der Kirchen auf<br />

seiner Tagung in Odessa, UdSSR (10.–14.2.), Abrüstung heute – Probleme und Gelegenheiten,<br />

in: JK 25 (1964), 180–182; LM 3(1964), 131 f. Der MLF-Plan wird in der<br />

Erklärung nicht ausdrücklich erwähnt.<br />

Jacob, Nicht schweigen! (Anm. 7), 2.<br />

PRKO 7. 1. 1965 (ELAB 040/16).<br />

Vgl. [Werner] Hagemeyer,Vermerk [zur geschlossenen Sitzung der Kirchenleitung am<br />

6. 5. 1965] (handschriftlich) (ELAB 35/1324), 1.


Günther Jacob (1906 –1993) 51<br />

»tatenlos« 25 hin. Auch wenn die Kirchenleitung am 7. Januar lautProtokoll keinen<br />

Beschluss fasste,scheint sie Jacob angewiesen zu haben, »auf keinen Fall gegen<br />

den ausgesprochenen Willen der Kirchenleitung einen neuen Schritt zu unternehmen,<br />

der auf einer ähnlichen Linie läge«. 26 Aber bereits im Mai kam es zu<br />

einer vergleichbaren Aktion.<br />

1.2 Die Stegreifrede am 3. Mai 1965<br />

Die schärfste Auseinandersetzung mit der Kirchenleitung ergab sich im Anschluss<br />

an eine etwa 45 Minuten lange Stegreifrede, die Jacob am 3. Mai 1965<br />

auf einem Empfang des BezirksCottbus für kirchliche Amtsträger anlässlich des<br />

›Tags der Befreiung‹ am 8. Mai gehalten hatte.<br />

Frühzeitig diskutierten die Kirchenleitungen in der DDR, wie der 20. Jahrestag<br />

des Kriegsendeszubegehen sei und wie man mit staatlichenEinladungen<br />

umgehen solle. Die Regionalkirchenleitung Ost der EKBB beschloss, einen<br />

ökumenischen Gottesdienstdurchzuführen, in dem auch ein polnischer und ein<br />

norwegischer Geistlicher sprechen sollten. 27 Die Konferenz der Kirchenleitungen<br />

einigte sich darauf, dass die Bischöfe Einladungen zu Gedenkfeiern in Konzentrationslagern<br />

annehmen würden. Doch an »Feiern zum ›Tag der Befreiung‹«<br />

sollten »Männer der Kircheaus seelsorgerlichen Gründen nicht teilnehmen«. 28 So<br />

vereinbarte auch die Regionalkirchenleitung Ost der EKBB am 22. April, dass<br />

Jacob an dem offiziellen Staatsakt in Berlin nicht teilnehmen werde. 29<br />

Noch am gleichen Tag bat Jacob den Staatssekretär für Kirchenfragen, Bischof<br />

Krummacher und ihn nicht zu den offiziellen Feierlichkeiten einzuladen.<br />

Die Kirchenleitung habe »mit Mehrheitbeschlossen, daß eineTeilnahme an<br />

offiziellen Veranstaltungen und Empfängen nicht stattfinden« solle. Die Nichtteilnahme<br />

rechtfertigte Jacob damit, »daß viele Glieder der kirchlichen Gemeinden,<br />

besonders Frauen, mit schweren persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen<br />

belastet« seien, »wenn sie an die April-Mai-Tage 1945« dächten. Als<br />

Seelsorger müsse er »auch auf solche Gefühle Rücksicht nehmen«. 30 Zwanzig<br />

Jahre nach Kriegsende war die Erinnerung an die letzten Kriegswochen noch sehr<br />

lebendig. »Plünderungen, Zerstörungen, Morde und vor allem Vergewaltigun-<br />

25<br />

26<br />

27<br />

28<br />

29<br />

30<br />

Hans Seigewasser, Bericht über ein Gespräch mit Bischof D. Jacob [am 22. 4. 1965]<br />

(24. 4.1965) (BArch DO 4433, 1211–1213), 2.<br />

A.a. O., 2.<br />

Vgl. PRKO vom 11.2.1965 (ELAB 40/16).<br />

PRKO vom 4. 3. 1965 (ELAB 40/16), 1.<br />

PRKO vom 22.4. 1965 (ELAB 40/16), 1.<br />

Seigewasser, Bericht 22. 4.1965 (Anm. 25), 1.


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des Bistums Erfurt<br />

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Cover: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Coverbild: Einführung Bischof Noths in Meißen, Landeskirchliches Archiv Dresden,<br />

Bestand 20 »Fotosammlung«, Nummer 40<br />

Satz: 3w+p, Rimpar<br />

Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza<br />

ISBN 978-3-374-07413-6 // eISBN (PDF) 978-3-374-07414-3<br />

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