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Andreas Müller (Hrsg.): Streitkulturen in der Kirchengeschichte (Leseprobe)

Christentum ist ein plurales Phänomen. Daher hat es innerhalb desselben immer auch Auseinandersetzungen gegeben, die in unterschiedlichen Kontexten ausgetragen worden sind. Streitkulturen sind im Kontext diskursiver Identitätsbildung im Christentum von zentraler Bedeutung. Im vorliegenden Band werden solche Streitkulturen in den Handlungsfeldern Synoden, Politik und theologische Wissenschaft beleuchtet. Dabei werden Epochen der Kirchengeschichte von der Antike bis in die Neuzeit behandelt. Die Beiträge wurden auf der Fachgruppentagung Kirchengeschichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie vorgestellt, die vom 22. bis 24. April 2022 im Bonifatiushaus in Fulda stattfand.

Christentum ist ein plurales Phänomen. Daher hat es innerhalb desselben immer auch Auseinandersetzungen gegeben, die in unterschiedlichen Kontexten ausgetragen worden sind. Streitkulturen sind im Kontext diskursiver Identitätsbildung im Christentum von zentraler Bedeutung. Im vorliegenden Band werden solche Streitkulturen in den Handlungsfeldern Synoden, Politik und theologische Wissenschaft beleuchtet. Dabei werden Epochen der Kirchengeschichte von der Antike bis in die Neuzeit behandelt. Die Beiträge wurden auf der Fachgruppentagung Kirchengeschichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie vorgestellt, die vom 22. bis 24. April 2022 im Bonifatiushaus in Fulda stattfand.

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<strong>Andreas</strong> <strong>Müller</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

<strong>Streitkulturen</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Kirchengeschichte</strong><br />

Synodal – politisch – akademisch<br />

Veröffentlichungen <strong>der</strong><br />

Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie


Vorwort<br />

In <strong>der</strong> postmo<strong>der</strong>nen, pluralen Gesellschaft stellt sich zunehmend e<strong>in</strong>e zentrale<br />

Frage: Ist zivilisierter Streit möglich? Müssen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen auch um<br />

kulturelle Systeme und Ideologien immer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em nicht enden wollenden Krieg,<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er gewaltsamen Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung münden? O<strong>der</strong> gibt es Wege von<br />

<strong>Streitkulturen</strong>, die letztlich zu konstruktiven Ergebnissen, zu neuen Erkenntnissen<br />

und auch zur versöhnten Verschiedenheit führen?<br />

<strong>Streitkulturen</strong> s<strong>in</strong>d nachweislich e<strong>in</strong> Thema <strong>in</strong> <strong>der</strong> aktuellen theologischen<br />

Forschung. Konstruktive wie auch ergebnislose Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen haben<br />

nicht nur die Christentumsgeschichte geprägt. Bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Anfängenspielte<br />

<strong>der</strong> Diskurs <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er plural aufgefächerten Religion e<strong>in</strong>e zentrale Rolle. 1 Diskursive<br />

Identitätsbildung ist e<strong>in</strong> wesentliches Merkmal beim Gespräch mit an<strong>der</strong>en<br />

Religionen. Solche Gesprächehaben nichtnur <strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit<br />

»dem Fremden« gedient, son<strong>der</strong>n immer auch bei <strong>der</strong> Ausbildung <strong>der</strong> eigenen<br />

religiösen und kulturellen Identität e<strong>in</strong>en zentralen Beitrag geleistet. 2 Aber nicht<br />

nur im Bereich <strong>der</strong> <strong>Kirchengeschichte</strong> spielt die Streitkultur e<strong>in</strong>e zentrale Rolle.<br />

So hat es z. B. im Rahmen <strong>der</strong> Erasmus-Tage an <strong>der</strong> Evangelisch-Theologischen<br />

Fakultät <strong>in</strong> Wien e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>terdiszipl<strong>in</strong>ären Zugang zur gesamten Theologie als<br />

Streitkultur gegeben. 3 Selbst e<strong>in</strong>e neue Open-Acess-Zeitschrift, die seit 2023<br />

publiziert und von Theolog<strong>in</strong>nen und Theologen aus <strong>der</strong> Systematischen Theologie<br />

herausgegeben wird, trägt den Titel »Streit-Kultur. Journal für Theologie«.<br />

Die grundlegende Idee ist dabei, Tendenzen von Abschottung und »Versäulung«<br />

von Diskursen zu überw<strong>in</strong>den unddagegen e<strong>in</strong>e »echte Streit-Kultur« zu pflegen,<br />

»<strong>in</strong> <strong>der</strong> die Argumente, Inhalte und Stile unterschiedlicher Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzun-<br />

1<br />

2<br />

3<br />

Vgl. den Uta Heil, Art. Streitgespräche, <strong>in</strong> RAC 31 (2022), Sp. 241–281.<br />

Vgl. <strong>Andreas</strong> <strong>Müller</strong>, Diskursive Identitätsbildung. Frühe Begegnungen zwischen<br />

Christentum und Islam, <strong>in</strong>: Kerygma und Dogma 57 (2011), 224–242.<br />

Vgl. Uta Heil/Annette Schellenberg (Hgg.), Theologie als Streitkultur, Wiener Jahrbuch<br />

für Theologie 13/2021, Gött<strong>in</strong>gen 2021.


6 Vorwort<br />

gen geachtet, kritisch aufgenommenund weitergeführt werden.« 4 Nur auf e<strong>in</strong>em<br />

solchen Weg könne die Gegenwartsrelevanz von Christentum noch deutlich<br />

werden. Zur Profilierung aktueller Streit-Kulturen dient sicher auch <strong>der</strong> Blick<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong>en Geschichte. Konstruktive wie destruktive Vorbil<strong>der</strong> lassen sich <strong>in</strong> ihr<br />

f<strong>in</strong>den und für die gegenwärtigen Diskurse nutzen.<br />

Im vorliegenden Band werden die Beiträge <strong>der</strong> Fachgruppentagung <strong>Kirchengeschichte</strong><br />

<strong>der</strong> Wissenschaftlichen Gesellschaftfür Theologie dokumentiert,<br />

die vom 22. bis 24. April 2022 im Bonatiushaus <strong>in</strong> Fulda stattfand. Er widmet<br />

sich nicht nur <strong>der</strong> Theologischen Forschung als Ort von <strong>Streitkulturen</strong>, son<strong>der</strong>n<br />

spiegelt breiter <strong>der</strong>en verschiedene Sitze im Leben <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Geschichte des<br />

Christentums wi<strong>der</strong>. Aus unterschiedlichen Epochen s<strong>in</strong>d dementsprechend drei<br />

Bereiche beson<strong>der</strong>sfokussiert: Die Synoden, das Feld »Kirche und Staat« und die<br />

Theologie als Wissenschaft imengeren S<strong>in</strong>ne. Dabei sollte beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Frage<br />

nachgegangen werden, ob Streitkultur <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es spezifischen Umfeldes<br />

e<strong>in</strong>e eigene Ausprägung erhalten hat.<br />

Ich danke herzlich allen, die zum Entstehen des vorliegenden Bandes beigetragen<br />

haben. Uta Heil und Mart<strong>in</strong> Kessler haben geme<strong>in</strong>sam mit mir die<br />

Tagung geplant. Die Zusammenarbeit mit ihnen ist stets sehr konstruktiv und<br />

zuverlässig. Me<strong>in</strong>e Hilfswissenschaftler<strong>in</strong> Anna Martens hat bei <strong>der</strong> formalen<br />

Gestaltung <strong>der</strong> Beiträge Enormes geleistet. Letztlich dankeich <strong>der</strong> Evangelischen<br />

Verlagsanstalt für den Satz des Manuskripts und die tatkräftige Unterstützung.<br />

Kiel, den 5. Mai 2023<br />

<strong>Andreas</strong> <strong>Müller</strong><br />

4<br />

https://streit-kultur-journal.de/ojs/<strong>in</strong>dex.php/skjst/about (Stand 04.05.2023).


Inhalt<br />

Vorwort .................................................. 5<br />

Uta Heil<br />

<strong>Streitkulturen</strong> – e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>führung .............................. 9<br />

I. Synodale Streitkultur<br />

Thomas Graumann<br />

E<strong>in</strong>mu tigkeit und Konsens<br />

Beobachtungen zur »Streitkultur« <strong>der</strong> altkirchlichen Konzile .......... 25<br />

Mart<strong>in</strong> Illert<br />

Konziliare Streitkultur<br />

Beobachtungen zur Geschäftsordnung <strong>der</strong> »Heiligen und Großen Synode<br />

<strong>der</strong> orthodoxen Kirche« 2016 .................................. 59<br />

II. Universitäre Streitkultur<br />

Ingo Klitzsch<br />

»… et trophaeis bellorum conflictus praetuli disputationum«<br />

Facetten »theologischer« Streitkultur des 12. Jahrhun<strong>der</strong>ts am Beispiel<br />

Abaelards ................................................ 71<br />

Julia W<strong>in</strong>nebeck<br />

Der Apostolikumsstreit von 1892 als Beispiel akademischer Streitkultur<br />

im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t ......................................... 89<br />

III. Streitkultur im politischen Kontext<br />

Jan Mart<strong>in</strong> Lies<br />

Für Gott, Mart<strong>in</strong> Luther und die Reformation<br />

Dimensionen von Streit <strong>in</strong> den nach<strong>in</strong>terimistischen Kontroversen am<br />

Beispiel <strong>der</strong> Veröffentlichung <strong>der</strong> Leipziger Landtagsvorlage 1548/50 ... 117<br />

Autorenverzeichnis ......................................... 135


<strong>Streitkulturen</strong> –e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>führung<br />

Uta Heil<br />

Zum E<strong>in</strong>stieg sei e<strong>in</strong>e bemerkenswerte Äußerung vorangestellt:<br />

»Bei e<strong>in</strong>em Streitgespräch beg<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>ige, wenn sie merken, dass ihr Irrtum wi<strong>der</strong>legt<br />

ist, sofort damit, um e<strong>in</strong>er Ausflucht willen Unruhe zu stiften und Streit zu<br />

schüren, damit es nicht für alle offenkundig wird, dass sie überwunden s<strong>in</strong>d; und<br />

deshalb ersuche ich häufig darum, dass das Erforschen bei e<strong>in</strong>er Disputation mit aller<br />

Geduld und Ruhe durchgeführt wird, damit, falls vielleicht etwas nicht richtig ausgesprochen<br />

zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t, man es noch e<strong>in</strong>mal durchgehen und deutlicher erklären<br />

kann. Denn manchmal kann e<strong>in</strong>e Sache auf die e<strong>in</strong>e Weise gesprochen und auf e<strong>in</strong>e<br />

an<strong>der</strong>e gehört werden, während sie entwe<strong>der</strong> weniger klar vorgetragen o<strong>der</strong> nicht<br />

sorgfältig genug behandelt wird. Und aus diesem Grund wünsche ich, dass das Gespräch<br />

geduldig geführt wird, so dass we<strong>der</strong> <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e es dem an<strong>der</strong>en entreißt, noch<br />

dass e<strong>in</strong>e unpassende Rede e<strong>in</strong>es Wi<strong>der</strong>sprechenden die Rede e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en unterbricht;<br />

und dass wir nicht vom Eifer getrieben werden, zu wi<strong>der</strong>sprechen, son<strong>der</strong>n<br />

dass es uns, wie gesagt, erlaubt wird, das, was nicht deutlich genug gesagt wurde,<br />

noch e<strong>in</strong>mal durchzugehen, damit durch fairste Prüfung die Erkenntnis <strong>der</strong> Wahrheit<br />

klarer wird. Denn wir sollten wissen, dass, wenn jemand von <strong>der</strong> Wahrheit besiegt<br />

wird, nicht er besiegt wird, son<strong>der</strong>n die Unwissenheit, die <strong>in</strong> ihm steckt, die <strong>der</strong><br />

schlimmste aller Dämonen ist, so dass <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> sie vertreiben kann, den Palmenzweig<br />

des Heils erhält. Denn unser Ziel ist es, den Zuhörern Nutzen zu br<strong>in</strong>gen,<br />

nicht, dass wir schlecht siegen, son<strong>der</strong>n dass wir für die Anerkennung <strong>der</strong> Wahrheit<br />

gut besiegt werden. Denn wenn unsere Rede von dem Wunsch angetrieben wird, die<br />

Wahrheit zu suchen, so wird Gott <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er unaussprechlichen Güte, auch was wir aus<br />

menschlicher Gebrechlichkeit weniger vollkommen aussprechen werden, <strong>in</strong>sgeheim<br />

im Verständnis <strong>der</strong> Zuhörer das Fehlende ausfüllen.« 1<br />

1<br />

Ps.-Clement<strong>in</strong>us, Recognitiones 2,25 (GCS 51 66,24–67,13 Strecker): 1 nonnulli enim <strong>in</strong><br />

disputationum certam<strong>in</strong>e ubi errorem suum senser<strong>in</strong>t confutari, causa perfugii conturbare<br />

cont<strong>in</strong>uo <strong>in</strong>cipiunt et movere lites, ne palam fiat omnibus quod superantur; et propterea ego<br />

frequenter exoro, 2ut cum omni patientia et quiete <strong>in</strong>dago disputationis habeatur, ut et si<br />

forte aliquid m<strong>in</strong>us recte dictum videtur, repetere id et apertius liceat explanare. 3 solet enim<br />

<strong>in</strong>terdum aliter dici quid et aliter audiri, dum aut m<strong>in</strong>us lucide profertur aut m<strong>in</strong>us vigilanter


10 Uta Heil<br />

Es war <strong>der</strong> unbekannte Verfasser <strong>der</strong> pseudoclement<strong>in</strong>ischen Recognitiones, <strong>der</strong><br />

mit diesen Worten den Apostel Petrus auftreten lässt. Hier liegt, quasi autorisiert<br />

von dem bedeutenden Apostel, e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> wenigen reflektierenden Texte über e<strong>in</strong>e<br />

Ethik des Streitgespräches und <strong>der</strong> Streitkultur aus <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Alten Kirche<br />

vor. Der lange Text <strong>der</strong> Recognitiones bietet bekanntlich e<strong>in</strong>e romanhafte Erzählung<br />

über die Anfänge <strong>der</strong> christlichen Geme<strong>in</strong>de um Petrus, e<strong>in</strong>gebaut <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e Schil<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Reisen des Clemens,die als Rahmenerzählung für mehrere<br />

Disputationen dient. So debattierte Petrus <strong>in</strong> Cäsarea öffentlich vor e<strong>in</strong>er großen<br />

Menschenmenge drei Tage lang mit SimonMagus über die Gotteslehre, das Böse<br />

und die unsterbliche Seele (recogn. II 19–70; III 12–30; III 33–50). Noch berühmter<br />

s<strong>in</strong>d die sogenanntenLaodicaea-Disputationen: Hier debattierten Petrus<br />

und se<strong>in</strong>e Schüler Niceta, Aquila und Clemens vier Tage lang (recogn. VIII X)<br />

mit e<strong>in</strong>em alten Mann, <strong>der</strong> später als Faust<strong>in</strong>ianus, Vater des Clemens, erkannt<br />

wird, vor e<strong>in</strong>er Menschenmenge zunächst am Hafen, dann im Haus des Stadtvorstehers<br />

über Gottes Vorsehung und die Welt als Gottes Schöpfung aus dem<br />

Nichts, ferner über das Böse, Gottes Gericht und Gerechtigkeit, Astrologie und<br />

Schicksal, Mythologie und Allegorie. Da die pseudoclement<strong>in</strong>ischen Recognitiones<br />

also ohneh<strong>in</strong> mehrheitlichaus öffentlich geführten Streitgesprächen besteht,<br />

ist es nicht verwun<strong>der</strong>lich, diese Passage zu f<strong>in</strong>den.<br />

Inszeniert wird die Situation e<strong>in</strong>es öffentlichen Streitgesprächs von christlichen<br />

Gelehrten, etwa auf dem Marktplatz und vor Publikum, aus dem letztendlich<br />

e<strong>in</strong>er als Sieger hervorgehen wird. Aber im Unterschied zu den endlosen<br />

Diskussionen <strong>der</strong> Philosophen, bei denen es nur um den Streit an sich gehe,<br />

advertitur, 4 et ob hoc patienter cupio haberi sermonem, ut neque subripiat alter alteri neque<br />

sermonem dicentis <strong>in</strong>tempestivus sermo contradicentis <strong>in</strong>rumpat neque reprehendendi<br />

studium geramus, sed liceat, ut dixi, m<strong>in</strong>us plane dicta repetere, ut exam<strong>in</strong>atione iustissima<br />

clarescat veritatis agnitio. 5 scire enim debemus, quia si quis averitate v<strong>in</strong>catur, non ipse<br />

v<strong>in</strong>citur, sed ignorantia quae <strong>in</strong> ipso est, quae est daemon pessimus, quam qui potuerit<br />

effugare, salutis accipit palmam. 6 propositum namque nobis est prodesse auditoribus, non<br />

ut male v<strong>in</strong>camus, sed ut pro agnitione veritatis bene v<strong>in</strong>camur. 7 si enim veritatis <strong>in</strong>quirendae<br />

studio sermo moveatur, etiam si quid m<strong>in</strong>us plene pro humana fragilitate dicemus,<br />

deus pro <strong>in</strong>effabili sua bonitate ea quae desunt latenter auditorum sensibus adimplebit. Der<br />

verlorengegangene griech. Text ist <strong>in</strong> lat. (Ruf<strong>in</strong>us’ Übersetzung), syr. und armen. und<br />

weiteren Versionen überliefert und stammt wohl aus dem vierten Jahrhun<strong>der</strong>t, enthält<br />

aber auch Material aus dem zweiten Jahrhun<strong>der</strong>t, wenn recogn. I26–71 als Zusatz<br />

bzw. eigene ältere Quelle zu verstehen ist. E<strong>in</strong>e weitere Verarbeitung liegt <strong>in</strong> den sog.<br />

pseudoclement<strong>in</strong>ischen Homilien vor (für GCS 42 ediert von Bernhard Rehm, für 3. Aufl.<br />

bearb. von Georg Strecker), <strong>in</strong> Übersetzung durch Jürgen Wehnert, Der Klemensroman<br />

(Kle<strong>in</strong>e Bibliothek <strong>der</strong> antiken jüdischen und christlichen Literatur, Gött<strong>in</strong>gen 2015).<br />

Vgl. Pervo: Narratives about the Apostles, 82–84. Vgl. auch den ausführlichen E<strong>in</strong>trag<br />

von F. Stanley Jones <strong>in</strong> NASSCAL: https://www.nasscal.com/e-clavis-christian-apocry<br />

pha/pseudo-clement<strong>in</strong>es/ (Stand: 01.11. 2022).


<strong>Streitkulturen</strong> –e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>führung 11<br />

nicht um wahre o<strong>der</strong> falsche Überzeugungen, und nur die bessere Technik des<br />

Argumentierens zähle, so dass <strong>der</strong> zufällig Cleverere gew<strong>in</strong>ne, gehe es hier um<br />

Wahrheitssuche auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Schrift, auch wenn sich nicht jedes Thema<br />

dafür eigne und darauf geachtet werden solle, mit Bedacht zu disputieren, um<br />

den christlichen Glauben nicht mit Sophismata zu verunglimpfen. Disputationen<br />

sollen also geduldig und <strong>in</strong> Ruhegeführt werden, und niemand möge sich, wenn<br />

er Wi<strong>der</strong>spruch erfahre und ke<strong>in</strong>e Argumente mehr zur Hand habe, nur auf<br />

Schmähungen verlegen o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>weitig Unruhe stiften o<strong>der</strong> gar e<strong>in</strong>fach das<br />

Thema wechseln, um von se<strong>in</strong>em Unwissen abzulenken, denn es gehe um die<br />

Sache an sich: Wenn jemand wi<strong>der</strong>legt werde, beträfe es nicht se<strong>in</strong>e Person,<br />

son<strong>der</strong>n se<strong>in</strong>en Irrtum, damit er zur Wahrheit geführt werden könne.<br />

Die Passage führt direkt zum Thema dieser Tagung: christliche <strong>Streitkulturen</strong>.<br />

2 Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen gab es von Anfang an <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte des<br />

Christentums, wie es etwa die Apostelgeschichte bereits zeigt 3 ,und haben sich<br />

nicht verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n lassen. Christen haben sowohl untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> als auch mit<br />

Nicht-Christen gestritten. Manchmal blieb das ohne Folgen, manchmal war das<br />

aber auch mit gravierenden Konsequenzen wie Exkommunikationen, Exilierungen<br />

o<strong>der</strong> Verfolgungen verbunden, so etwa bei Streitgesprächen im Rahmen<br />

e<strong>in</strong>er Synodeo<strong>der</strong> vor weltlichen Instanzen. Die zitierten Ausführungen aus den<br />

Recognitiones zeigen e<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong> davon, wie schwierig es ist, e<strong>in</strong> Streitgespräch<br />

sowohl zu führen als auch gut zu beenden. Wiesehr neben dem sachlichen<br />

o<strong>der</strong> theologischen Argument auch an<strong>der</strong>e Motive und E<strong>in</strong>flüsse mitschw<strong>in</strong>gen<br />

wie Ehrgeiz, persönliche Verletzungen, Gruppendynamik und Missverständnisse,<br />

wird deutlich. Manchmal bleiben Disputationen sogar aus, wenn wegen<br />

Autoritäts- und Verfahrensfragen gar ke<strong>in</strong> Gesamt-Treffen zustandekommt, wie<br />

etwa die zerstrittene und zerbrochene Synode von Serdica im Jahr 343 n. Chr.<br />

o<strong>der</strong> auch erst jüngstdas orthodoxe Konzil auf Kreta gezeigt haben (s. den Beitrag<br />

von Illert zu den verschiedenen Deutungen des Konzils).<br />

2<br />

3<br />

Baumann/Becker/Ste<strong>in</strong>er-Weber: Streitkultur. Okzidentale Traditionen des Streitens <strong>in</strong><br />

Literatur; Cameron: Dialogu<strong>in</strong>g <strong>in</strong> Late Antiquity; Dartmann/Pietsch/Steckel: Ecclesia<br />

disputans. Die Konfliktpraxis vormo<strong>der</strong>ner Synoden zwischen Religion und Politik;<br />

Delgado/Emmenegger/Lepp<strong>in</strong>: Apologie, Polemik, Dialog; Föll<strong>in</strong>ger: Der Dialog <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Antike; Gebhard/Geisler/Schröter: StreitKulturen. Polemische und antagonistische<br />

Konstellationen <strong>in</strong> Geschichte und Gegenwart; Hempfer/Tran<strong>in</strong>ger: Der Dialog im Diskursfeld<br />

se<strong>in</strong>er Zeit. Von<strong>der</strong> Antike bis zur Aufklärung; Külzer: Disputationes Graecae<br />

contra Iudaeos; Lim: Public disputation; Repsch<strong>in</strong>ski: Die literarische Form <strong>der</strong> Streitgespräche;<br />

VanNuffelen: The End of Open Competition?;<strong>der</strong>s.: Penser la tolérance durant<br />

l’antiquité Tardive; sowie die Literatur <strong>in</strong> Anm. 4.<br />

Heftig wurde über die Modalitäten <strong>der</strong> Bekehrung <strong>der</strong> Heiden (Apg 15,3) gestritten – hier<br />

kommen die Begriffe στσις (Aufruhr, Apg 15,2) und ζτησις (Wortgefecht, Apg 15,2.7)<br />

vor.


12 Uta Heil<br />

Über christliche Streitgespräche <strong>der</strong> Spätantike gibt es reichhaltige Quellen:<br />

gelegentlich sogar stenographierte Mitschriften, öfter aber nachträgliche Berichte<br />

(meist von <strong>der</strong> »Siegerseite« veröffentlicht), Nachrichten über Disputationen,<br />

fiktive Disputationen, manchmal als re-dialogisierte Traktate o<strong>der</strong> Berichte,<br />

Thesen für Disputationen, Streit durch Austausch von Streitschriften etc.<br />

Fließend s<strong>in</strong>d auch die Grenzen zwischen Disputationen und Synoden. Das Feld<br />

ist groß!Streit provozierte Literatur wie Apologien, Klarstellungen, Berichteo<strong>der</strong><br />

Aktensammlungen bis h<strong>in</strong> zu Historiographien. Und die Übergänge von historischen<br />

Ereignissen zu literarischer Gestaltung s<strong>in</strong>d fließend. Das obige Zitat<br />

entstammt aus den legendarischen Clemens-Er<strong>in</strong>nerungen, setzt natürlich aber<br />

e<strong>in</strong> vorstellbares Szenario voraus, das dem Leser o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Hörer<strong>in</strong> plausibel<br />

ersche<strong>in</strong>en sollte. Etwa zeitgleiche historische Disputationen aus dem dritten<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t s<strong>in</strong>d dagegen von den beiden Alexandr<strong>in</strong>ern Origenes und Dionys<br />

von Alexandrienüberliefert. 4 E<strong>in</strong> großes öffentliches Ereignis aus <strong>der</strong> Spätantike<br />

war ferner die große Disputation zwischen 286 Katholiken und 285 Donatisten<br />

auf dem Konzil <strong>in</strong> Karthago an drei Tagen im Juni 411, woran auch August<strong>in</strong>us<br />

beteiligt war und wovon Akten überliefert s<strong>in</strong>d. Der Sieg <strong>der</strong> Katholiken bestätigte<br />

<strong>in</strong> diesem Fall die Rechtmäßigkeit <strong>der</strong> anti-donatistischen kirchlichen und<br />

kaiserlichen Gesetzgebung. 5 Allerd<strong>in</strong>gs lässt sich bei vielen Debatten <strong>der</strong> tatsächliche<br />

Anlass und Verlauf nur schwer erschließen, da die dom<strong>in</strong>ante Perspektive<br />

<strong>der</strong> »Sieger« den großen Konsens und die E<strong>in</strong>heit im Glauben betonte,<br />

so dass die unterlegene Seite als streitsüchtige Rebellen ersche<strong>in</strong>en, die unbelehrbar,<br />

angestachelt von Dämonen o<strong>der</strong> unter Zuhilfenahme politischer Gewalt<br />

den Frieden und die E<strong>in</strong>tracht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kirchezerstören wollten. Daher ist kritische<br />

Vorsicht geboten, wenn man h<strong>in</strong>ter die Kulissen <strong>der</strong> überlieferten Quellen<br />

schauen möchte, wie Thomas Graumann imvorliegenden Band betont.<br />

Streitgespräche gab es aber nicht nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Epoche <strong>der</strong> Spätantike, son<strong>der</strong>n<br />

aus unterschiedlichen Anlässen undunter sich verän<strong>der</strong>nden Bed<strong>in</strong>gungen auch<br />

im Mittelalter bis h<strong>in</strong> zur Gegenwart. Es ist hier nicht <strong>der</strong> Ort, e<strong>in</strong>e ausführliche<br />

Liste vorzulegen; nur exemplarische Beispiele seien genannt.<br />

E<strong>in</strong>e große Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung auf allen Ebenen mit Streitschriften, Disputationen,<br />

Verhören auf Synoden, Gutachten und Gegengutachten war die<br />

Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung um die Christologie bzw. den sogenannten spanischen<br />

Adoptianismus während <strong>der</strong> Karol<strong>in</strong>gerzeit. Hier wurde Felix von Urgell zunächst<br />

mehrfach verurteilt, und zwar auf e<strong>in</strong>er Synode<strong>in</strong>Regensburg 792;e<strong>in</strong>er<br />

4<br />

5<br />

Vgl. dazu Heil: Art. Streitgespräche; dies.: Streitende Heilige und heilsamer Streit.<br />

Die Edition <strong>der</strong> Akten liegt <strong>in</strong> Collatio Carthag<strong>in</strong>ensis anno 411 (CSEL 104; 2018) vor,<br />

besorgt von Clemens Weidmann; e<strong>in</strong>e ältere Ausgabe mit französischer Übersetzung ist<br />

SChr 194, 195, 224, 373. VonAugust<strong>in</strong>us s<strong>in</strong>d mehrere Disputationen überliefert; er hat<br />

sich für e<strong>in</strong>e entsprechende Bildung <strong>der</strong> Bischöfe e<strong>in</strong>gesetzt.


<strong>Streitkulturen</strong> –e<strong>in</strong>e H<strong>in</strong>führung 13<br />

Synode<strong>in</strong>Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 794 unde<strong>in</strong>er Synode <strong>in</strong> Rom 798, 6 bis es zu e<strong>in</strong>em<br />

Streitgespräch zwischen ihm und dem britischen Gelehrten Alku<strong>in</strong>, <strong>in</strong>zwischen<br />

Bischof von Tours, auf e<strong>in</strong>er Synode<strong>in</strong>Aachen 799 kam. 7 Darüber h<strong>in</strong>aushaben<br />

sowohl Alku<strong>in</strong> und an<strong>der</strong>e Theologen Traktate gegen den Adoptianismus verfasst.<br />

8 Überliefert s<strong>in</strong>d aber auch Gegendarstellungen und Verteidigungsschriften<br />

des Felix. Dennoch wurde er nach <strong>der</strong> Disputation <strong>in</strong> Aachen bis an se<strong>in</strong><br />

Lebensende (818 n. Chr.) sozusagen unter Hausarrest gestellt; se<strong>in</strong> Wi<strong>der</strong>stand<br />

gegen se<strong>in</strong>e Verurteilung hatte aber zu e<strong>in</strong>er Wie<strong>der</strong>belebung synodaler Streitkultur<br />

geführt.<br />

Als neuer Kontext kommt im Hochmittelalter die entstehende Universität<br />

mit ihrem Disputationswesen h<strong>in</strong>zu. Die e<strong>in</strong> Jahrhun<strong>der</strong>t zuvor heftig geführte<br />

Kontroverse um Peter Abaelard bereitete den universitären Streitgesprächen den<br />

Weg, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e Abaelards Differenzen mit Bernhard von Clairvaux, die auch<br />

auf e<strong>in</strong>er Metaebene ausgefochten wurden, obüberhaupt über den Glauben<br />

Disputationen geführt werden dürften und ob im Namen <strong>der</strong> Vernunftbzw. Logik<br />

Glaubenssätze <strong>in</strong>frage gestellt und begründet werden könnten. Zwischen den<br />

beiden sollte es ursprünglich auf <strong>der</strong> Synode <strong>in</strong>Sens (wohl 1140 n. Chr.) e<strong>in</strong>e<br />

öffentliche Disputation geben, aber Bernhards benutzte e<strong>in</strong>e Sammlung von 19<br />

angeblich häretischen Sätzen Abaelards, umihn (schon vorab) <strong>der</strong> Häresie anzuklagen,<br />

so dass sich Abaelard dem Gespräch verweigerte. Abaelards Appellation<br />

an Rom trug ihm dann e<strong>in</strong>e endgültige Verurteilung e<strong>in</strong>; se<strong>in</strong>e letzten<br />

6<br />

7<br />

8<br />

Synode <strong>in</strong> Regensburg 792 – ke<strong>in</strong>e Akten überliefert; Synode <strong>in</strong> Frankfurt 794 – Beschluss<br />

gegen Elipand zu Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Akten (MGH Conc. 2,1, 165,18–25 Werm<strong>in</strong>ghoff);<br />

Synode <strong>in</strong> Rom 798 – Akten auszugsweise erhalten (MGH Conc. 2,1 202–204 Werm<strong>in</strong>ghoff).<br />

Vgl. Hartmann: Die Synoden <strong>der</strong> Karol<strong>in</strong>gerzeit; Berndt: Das Frankfurter<br />

Konzil von 794. Kristallisationspunkt Karol<strong>in</strong>gischer Kultur; Fried: Karl <strong>der</strong> Große <strong>in</strong><br />

Frankfurt am Ma<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> König bei <strong>der</strong> Arbeit, 9–18; Hartmann: Auf dem Wegzur bischöflichen<br />

Dom<strong>in</strong>anz?.<br />

Überliefert ist e<strong>in</strong> Brief des Felix an se<strong>in</strong>e Geistlichen <strong>in</strong> Urgell, <strong>in</strong> dem er vom Verlauf <strong>der</strong><br />

Synode berichtet (Epistola ad clericos Urgellitanae ecclesiae [MGH Conc. 2,1 221–226<br />

Werm<strong>in</strong>ghoff]).<br />

Im Grunde argumentiert Alku<strong>in</strong> auf <strong>der</strong> Basis von Argumenten Cyrills von Alexandrien<br />

und <strong>der</strong> Akten <strong>der</strong> Synode von Ephesus gegen Elipand von Toledo und Felix von Urgel:<br />

Libri contra haeresim Felicis (PL 101, 87–120; Studi et testi 285, hg. v. G.B. Blumensh<strong>in</strong>e);<br />

Liber contra Elipandum Toletanum (PL 101, 231–300); Adversus Felicem Urgellantum<br />

(PL 101, 119–230); epp. 23; 166; 200; 202. E<strong>in</strong>e neue theologiegeschichtliche Analyse<br />

<strong>der</strong> Schriften des Alku<strong>in</strong> wäre wünschenswert. Auch Paul<strong>in</strong>us von Aquileia engagierte<br />

sich: Contra Felicem Urgellitanum episcopum libri VII (CChr.CM 95 Norberg), sowie<br />

Agobard von Lyon, Adversus docma Felicis lib. IadLudovicum imperatorem (CChr.CM 52<br />

Van Acker).


I. Synodale Streitkultur


E<strong>in</strong>mütigkeit und Konsens<br />

Beobachtungen zur »Streitkultur« <strong>der</strong> altkirchlichen<br />

Konzile<br />

Thomas Graumann<br />

1. Leitvorstellungen: E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Wahrheit,<br />

E<strong>in</strong>mütigkeit und E<strong>in</strong>stimmigkeit im Konzil<br />

»Denn wahrhaft ist, wie die Väter überliefert haben, e<strong>in</strong>e Lehre, und wahrhaft e<strong>in</strong><br />

Kennzeichen <strong>der</strong> Lehrer dieses, wenn sie alle mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> übere<strong>in</strong>stimmen (λλήλοις<br />

ολογεν), und nicht entwe<strong>der</strong> an e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zweifeln und untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> streiten,<br />

o<strong>der</strong> zwischen sich und ihren Vätern h<strong>in</strong> und her gerissen s<strong>in</strong>d (φισβητεν). […]<br />

Daher haben die Heiden, welche unter sich nicht übere<strong>in</strong>stimmen (οχ ολογοντες<br />

τ ατά), son<strong>der</strong>n untere<strong>in</strong>an<strong>der</strong> une<strong>in</strong>s s<strong>in</strong>d (φισβητοντες), die wahre Lehre<br />

nicht. Die Heiligen aber, und die wirklichen Herolde <strong>der</strong> Wahrheit stimmen unter sich<br />

übere<strong>in</strong>, und s<strong>in</strong>d unter sich nicht une<strong>in</strong>s (λλήλοις τε συφωνοσι κα ο<br />

διαφέρονται).« 1<br />

Die zitierte Charakterisierung <strong>der</strong> Merkmale wahrer Lehrer und authentischer<br />

Lehre, ihre E<strong>in</strong>igkeit, Übere<strong>in</strong>stimmung (ολογεν) und ihr Reden <strong>in</strong> harmo-<br />

1<br />

Ath., decr. 4, 3–4(AW II.1, 4,2–8Opitz): στι γάρ, ςο πατέρες παραδεδώκασιν, ντως<br />

διδασκαλία κα διδασκάλων ληθντοτο τεκήριον τ τ ατλλήλοις ολογενκα<br />

φισβητεν ήτε πρς αυτος ήτε πρς τος αυτν πατέρας. ο γρ τοτον<br />

διακείενοι τν τρόπον οχθηρο λλον κα οκ ληθες ν καλοντο διδάσκαλοι.<br />

λληνες γονοχ ολογοντες τ ατά, λλ κα πρς λλήλους φισβητοντες, οκ<br />

ληθ τνδιδασκαλίαν χουσιν· ο δγιοι κα τντι τς ληθείας κήρυκες λλήλοις τε<br />

συφωνοσι κα ο διαφέρονται πρς αυτούς. ImFolgesatz heißt es dann noch e<strong>in</strong>mal,<br />

dass sie συφώνως das Evangelium verkündigen (AW II.1, 4,8–10 Opitz): ε γρ κα<br />

διαφόροις χρόνοις γεγόνασιν, λλ’ ες τατν λλήλοις ρσιν νς ντες το θεο<br />

προφται κα τν ατν συφώνως εαγγελιζόενοι λόγον. Deutsche Übersetzung:<br />

Sämmtliche Werke des heiligen Athanasius 1(Sämmtliche Werke <strong>der</strong> Kirchen-Väter 14),<br />

hg. und übers. v. Ottmar Strüber und Rudolf Heumann, Kempten 1836, 192; modifiziert,<br />

me<strong>in</strong>e Hv. (Die Rechtschreibung wurde zugleich stillschweigend <strong>der</strong> Gegenwart angepasst).


26 Thomas Graumann<br />

nischem Zusammenklang (συφωνοσι), f<strong>in</strong>det sich bei Athanasius von Alexandrien<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em ungefähr 30 Jahre nach dem Konzil geschriebenen Traktat<br />

De Decretis Nicaenae Synodi. 2 Se<strong>in</strong>e Bemerkungen werfen e<strong>in</strong> Schlaglicht auf die<br />

Beschlüsse des Nizänischen Konzils, welche diese Merkmale für sich beanspruchen<br />

können, und stellt diese gegen die Kritiker des Konzils und des von<br />

ihm verabschiedeten Bekenntnisses <strong>in</strong>s helle Licht. Denn bei den Kritikern muss<br />

im Kontrast eben jenes φισβητεν diagnostiziert werden, wie man es auch bei<br />

den Heiden antrifft, und das den Kennzeichen <strong>der</strong> Wahrheit entgegensteht. 3<br />

Damit greiftAthanasius e<strong>in</strong>en Topos<strong>der</strong> Apologetik auf, <strong>der</strong> die Vielstimmigkeit<br />

und Konkurrenz <strong>der</strong> philosophischen Schulen zum Erweis nutzte, dass bei ihnen<br />

Wahrheit nicht anzutreffen sei, und solchem Dissens die – angebliche – christliche<br />

E<strong>in</strong>stimmigkeit gegenüberstellte. Tatsächlich waren aber auch für das<br />

christliche Denken die zubeobachtenden Me<strong>in</strong>ungsvielfalt und Konflikte e<strong>in</strong><br />

potentiell verheeren<strong>der</strong> Kritikpunkt, dem es sich zu stellen galt, und auf den<br />

antihäretische Diskurse vielfältig antworteten. Der hier von Athanasius aufgerufene<br />

apologetische Topos vom Me<strong>in</strong>ungsstreit <strong>der</strong> griechischen Philosophenschulen<br />

zeigt die Alternative auch für die Entscheidungsf<strong>in</strong>dung und die Glaubensäußerungen<br />

auf e<strong>in</strong>er Synode an: Wahrheit ist nicht pluriform o<strong>der</strong> gar<br />

kontrovers. Me<strong>in</strong>ungsstreit disqualifiziert.<br />

Athanasius entfaltet den Gedanken von Harmonie undÜbere<strong>in</strong>stimmung<strong>der</strong><br />

wahren Lehrer und <strong>der</strong> wahren Lehren <strong>in</strong> den auf den zitierten Passus folgenden<br />

Abschnitten von De Decretis zuerst im H<strong>in</strong>blick auf die diachrone Übere<strong>in</strong>stimmung<br />

<strong>der</strong> biblischen Zeugen (<strong>der</strong> »Heiligen« 4 ); aber natürlich ist dieser bruch-<br />

2<br />

3<br />

4<br />

Vgl. zum Traktat und den unterschiedlichen Datierungsvorschlägen, Uta Heil, De decretis<br />

Nicaenae synodi, <strong>in</strong>: Athanasius Handbuch, hg.v. Peter Geme<strong>in</strong>hardt, Tüb<strong>in</strong>gen<br />

2011, 210–14: 211.Von <strong>der</strong> E<strong>in</strong>stimmigkeit ihrer Beschlüsse gegen Arius berichtet auch<br />

das Synodalschreiben <strong>der</strong> Synode an die Ägypter, Urkunde 23,3 (= Dokument 25; AW<br />

III.1/1, 48,1 Opitz): παψηφ δοξεν [sc. die Synode]. Die Verurteilung nur zweier namentlich<br />

genannter Gegner (Urk. 23,5; AW III.1/1, 48,8–10 Opitz) im direkten Anschluss<br />

konterkariert diesen E<strong>in</strong>druck nicht; die Genannten bilden ke<strong>in</strong>e M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Synode, son<strong>der</strong>n s<strong>in</strong>d aufgrund ihrer Heterodoxie von ihr ausgeschlossen; s.u.<br />

Das hier den falschen Lehrern zugeschriebene φισβητεν bezeichnet allgeme<strong>in</strong> das<br />

Disputieren und den streitigen Me<strong>in</strong>ungsaustauch zwischen zwei Personen o<strong>der</strong> Parteien<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Debatte, aber nicht zuletzt auch vor Gericht; s. Diccionario Griego-Español<br />

en línea, s. v. φισβητω.Vgl. spezifisch für den philosophischen Zweifel ferner Stefan<br />

Lorenz/Redaktion, Art. Zweifel, <strong>in</strong>: Historisches Wörterbuch <strong>der</strong> Philosophie 12 (2004),<br />

1520–27.<br />

Dass Athanasius mit den Heiligen hier die biblischen Autoren me<strong>in</strong>t, ist evident. Vgl. zur<br />

Interpretation dieser Stelle und ihrem (hier zu vernachlässigenden) möglichen Traditionsh<strong>in</strong>tergrund<br />

Mart<strong>in</strong> Tetz, Zur Theologie des Markell von Ankyra II. Markells Lehre<br />

von <strong>der</strong> Adamssohnschaft Christi und e<strong>in</strong>e pseudoklement<strong>in</strong>ische Tradition über die<br />

wahren Lehrer und Propheten, <strong>in</strong>: ZKG 79 (1968), 3–42: hier 5–15.


E<strong>in</strong>mütigkeit und Konsens 27<br />

lose Zusammenhang <strong>der</strong> Symphonie von Generation zu Generation auch kennzeichnend<br />

für das nizänische Konzilund die Autoren se<strong>in</strong>es Bekenntnisses. 5 E<strong>in</strong>e<br />

Art von Traditionsbeweis mit Zitaten früherer Verwendungen spezifisch des<br />

Term<strong>in</strong>us homoousios,<strong>der</strong> dies dokumentiert, schließt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em späteren Kapitel<br />

an. 6 Dass <strong>der</strong> sachlichen Übere<strong>in</strong>stimmung<strong>der</strong> nizänischen Theologen mit ihren<br />

Vorgängergenerationen und – das ist das Entscheidende – mit <strong>der</strong> Heiligen<br />

Schrift auch e<strong>in</strong>e dem Konzil selbst eignende E<strong>in</strong>mütigkeit entspricht, unterstreicht<br />

Athanasius im Kontext; wir kommen darauf zurück. Nur so können die<br />

im Konzilversammelten Lehrer – im Unterschied zu heidnisch-philosophischen<br />

Me<strong>in</strong>ungsverschiedenheiten – jeneE<strong>in</strong>heit beanspruchen, die ihren Beschlüssen<br />

(<strong>der</strong> im Nizänum formulierten Theologie) Glaubwürdigkeit und den Anspruch<br />

von Wahrheit zuwachsen lässt.<br />

In <strong>der</strong> späteren Kirchengeschichtsschreibung s<strong>in</strong>d ganz entsprechend das <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Zwischenzeit längst ikonisch gewordene Konzil und se<strong>in</strong> Bekenntnis emphatisch<br />

durch E<strong>in</strong>mütigkeit gekennzeichnet. Schon die <strong>Kirchengeschichte</strong> Ruf<strong>in</strong>s<br />

(ca. 402/3) spitzt diese E<strong>in</strong>mütigkeit auch ganz konkret auf den Vorgang<br />

<strong>der</strong> Entscheidungsf<strong>in</strong>dung und Beschlussfassung <strong>der</strong> Synode zu. Diese fällt ihre<br />

Entscheidung e<strong>in</strong>es S<strong>in</strong>nes (cor) und wie aus e<strong>in</strong>em Mund (os): »Nach langwieriger<br />

und ausgiebiger Behandlung beschlossen alle, und wurde gleichsam mit<br />

e<strong>in</strong>em Munde und e<strong>in</strong>em Herzen aller entschieden, man müsse ›homoousios‹<br />

schreiben … und dies wurde als die allerfesteste Entscheidung aller promulgiert.«<br />

7 Dabei authentifiziert und autorisiert <strong>in</strong>teressanterweise die langwierige<br />

und ernsthafte thematische Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung auf dem Wege zu e<strong>in</strong>er<br />

Entscheidung die erreichte E<strong>in</strong>mütigkeit und den abschließenden Entscheid;<br />

mehrere Tage habe man hart gerungen, weiß Ruf<strong>in</strong> im Kontext zu berichten. 8<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

Vgl. zur Harmonie <strong>der</strong> Nizänischen Bekenntnisformulierungen mit dem Schriftzeugnis<br />

Ath., decr. 28,3 (AW II.1, 25,2–4Opitz): γ νγρτνατίαν κα τνδιάνοιαν, καθ’<br />

ν σύνοδος τκτςοσίας κα τοούσιον συφώνως τος κτνγραφνπερ το<br />

σωτρος ερηένοις κα σοι πρ ατν ξέθεντο πατέρες κα γραψαν, διηγησάην·(me<strong>in</strong>e<br />

Hv.).<br />

Ath., decr. 25–27.<br />

Ruf<strong>in</strong>us, h.e. X,5 (GCS N.F. 6/2, 964,25–965,3 Mommsen/W<strong>in</strong>kelmann): Verum post<br />

diut<strong>in</strong>um multumque tractatum placet omnibus ac velut uno cunctorum ore et corde<br />

decernitur ›homousion‹ scribi debere… idque firmissima omnium sententia pronuntiatur.<br />

Vgl. ferner den abschließenden Appell <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ansprache des Kaisers Konstant<strong>in</strong> an die<br />

Bischöfe (Ruf<strong>in</strong>us, h.e. X,2; GCS N.F. 6/2, 961,17–19 Mommsen/W<strong>in</strong>kelmann): et ideo<br />

his omissis [sc. persönliche und diszipl<strong>in</strong>arische Anschuldigungen] illa, quae ad fidem<br />

dei pert<strong>in</strong>ent, absque ulla animorum contentione disc<strong>in</strong>gite (me<strong>in</strong>e Hv.).<br />

Ruf<strong>in</strong> unterschlägt e<strong>in</strong>e beachtliche Gruppe von Teilnehmern mit gegenteiliger Me<strong>in</strong>ung<br />

(nämlich »arianischen« Präferenzen) und ihr kräftiges E<strong>in</strong>treten für diese Auffassung


28 Thomas Graumann<br />

Ernsthafte Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung stellt also synodale E<strong>in</strong>heit und E<strong>in</strong>stimmigkeit<br />

gerade nicht <strong>in</strong>Frage, son<strong>der</strong>n unterstreicht ihren Wert als abschließendes Ergebnis.<br />

Autoren <strong>der</strong> gleichen Epoche wie beispielsweise Severian von Gabala (vor<br />

380 – nach 408) heben die vollkommene Übere<strong>in</strong>stimmungimKonzil von Nizäa<br />

auch <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Textsorten und mit Hilfe an<strong>der</strong>er Vorstellungen hervor. Bei<br />

Severian dom<strong>in</strong>iert dieser Gedanke so sehr, dass es für ihn nicht e<strong>in</strong>mal mehr<br />

möglich ist, die Urheber <strong>der</strong> entscheidenden Formulierungen <strong>in</strong>dividuell zu<br />

identifizieren. Alle 318 Väter artikulieren sich bei ihm vielmehr gleichsam im<br />

Chor: »Und wenn du sie nun fragst: ›wer hat zuerst homoousios gesagt?‹, dann<br />

können sie nicht sagen: ›dieser o<strong>der</strong> jener‹, son<strong>der</strong>n die 318 Väter haben e<strong>in</strong>stimmig<br />

das Wort des Bekenntnisses artikuliert (σύφωνον ήξαντες φωνν<br />

ολογίας) und übere<strong>in</strong>gestimmt (συνεφώνησαν) zur Frömmigkeit (d. h. Orthodoxie).«<br />

9 H<strong>in</strong>ter die vollständige E<strong>in</strong>stimmigkeit <strong>der</strong> Konzilspromulgation führt<br />

auch imag<strong>in</strong>är ke<strong>in</strong> Wegzurück. 10 In <strong>der</strong> folgenden Generation werden dann das<br />

Nizänum und die Er<strong>in</strong>nerung an das Nizänische Konzil fürdie Kontroversen um<br />

9<br />

10<br />

nicht (er zählt ursprünglich 17 Dissidenten von denen schließlich 11 doch noch unterschreiben,<br />

h.e. X,5; GCS N.F. 6/2, 965,3–11 Mommsen/W<strong>in</strong>kelmann); e<strong>in</strong>e Mehrheit<br />

jedoch habe diese verworfen; Ruf<strong>in</strong>us, h.e. X,2, (GCS N.F. 6/2, 961,20–23 Mommsen/<br />

W<strong>in</strong>kelmann): verum cum per dies multos <strong>in</strong> episcoporum concilio de fide quaestio<br />

verteretur et nonnulli diversa sentirent ac vehementer coeptis Arrii faverent, plures<br />

tamen erant, qui impium execrarentur <strong>in</strong>ceptum.<br />

Severian von Gabala, Homilia <strong>in</strong> <strong>in</strong>carnationem Dom<strong>in</strong>i (282, Zeile 697–699 Regtuit):<br />

ν ον ρωτήσς ατούς· »Κα τίς πρτος επε τ οούσιον;« οκ χουσιν επεν· »<br />

δενα κα δενα«, λλ τριακόσιοι δέκα κα κτ πατέρες σύφωνον ήξαντες φωνν<br />

ολογίας συνεφώνησαν ες εσέβειαν. Vgl. für die Zuschreibung an Severian, a. a. O.,<br />

214–228; und zur Person Severians Karl-He<strong>in</strong>z Uthemann, Severian von Gabala, <strong>in</strong>:<br />

BBKL 9(1995), 1487–1504. Severian kontrastiert diese E<strong>in</strong>stimmigkeit <strong>der</strong> Nizänischen<br />

Väter mit <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen, jeweils namentlich benennbaren Urheberschaft <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen<br />

Häretiker (a. a. O., 282,687–93), auf die sich die zahlreichen Gruppen zurückführen<br />

lassen müssen. Severian nimmt im direkten Kontext diese Vielstimmigkeit <strong>der</strong><br />

Häretiker, d.h. ihre Me<strong>in</strong>ungsdifferenzen und ihre Verwendung unterschiedlicher<br />

dogmatischer Kernbegriffe bzw. Slogans, zum Beleg ihrer Trennung von <strong>der</strong> Wahrheit; er<br />

bedient sich dabei <strong>der</strong> gleichen Denkfigur, die Athanasius und die apologetische Tradition<br />

vor ihm gegen die heidnische Philosophie <strong>in</strong> Anschlag gebracht hatten. Zu ihrer<br />

Zerrissenheit (Severian zitiert Ps. 34,15) steht das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Stück gewobene, e<strong>in</strong>heitliche<br />

Gewand (Joh. 19,23) <strong>der</strong> Kirche <strong>in</strong> Antithese.<br />

Severians emphatischer Ausgestaltung des univoken synodalen »Sprechens« korrespondieren<br />

ebenso nachdrückliche Abweisungen jeglicher Möglichkeit von Ablehnung<br />

o<strong>der</strong> auch nur von Dissens, wie etwa bei Johannes Cassian, De <strong>in</strong>c. I,6 (CSEL 17, 245<br />

Petschenig/Kreuz); angeführt bei Hermann J. Sieben, Die Konzilsidee <strong>der</strong> alten Kirche,<br />

Pa<strong>der</strong>born 1979, 228, vgl. weitere Zeugnisse a. a. O., 223–30.


E<strong>in</strong>mütigkeit und Konsens 29<br />

die Christologie im ersten Drittel des fünften Jahrhun<strong>der</strong>ts fundamental und zum<br />

unverrückbaren Maßstab für die jeweilige theologische Bes<strong>in</strong>nung und Bewertung.<br />

11 Dies gilt bei Nestorius nicht weniger als bei Kyrill, und beim Ephes<strong>in</strong>ischen<br />

Gegenkonzil <strong>der</strong> Antiochener nicht weniger als bei den um Kyrill <strong>in</strong><br />

Ephesus Versammelten. Die damit etablierte Monopolstellung von Konzil und<br />

Bekenntnis imtheologischen Diskurs schließt die Möglichkeit von Une<strong>in</strong>igkeit<br />

und Streit kategorisch aus. 12<br />

Die Vorstellung von Harmonie und E<strong>in</strong>mütigkeit synodaler Entscheidungen<br />

ist für Nizäa nicht nur bei e<strong>in</strong>em Befürworter von Konzil und Bekenntnis wie<br />

Athanasius beschreibbar und wird <strong>in</strong> den folgenden Generationen, die sich auf<br />

»nizänische Orthodoxie« gründen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> gezeigten Weise unterstrichen, son<strong>der</strong>n<br />

wird auch von jenem Euseb von Caesarea e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich ausgemalt, dessen Anhänger<br />

und Nachfolger – zusammen mit denen se<strong>in</strong>es Namensvetters aus Nikomedien<br />

– Athanasius <strong>in</strong> De Decretis gerade kritisiert hatte, den er aber auch<br />

zugleich als Gewährsmann für dieumfassende Billigung <strong>der</strong> Beschlüsse und die<br />

Zustimmung <strong>der</strong> »an<strong>der</strong>en Seite« <strong>in</strong> Nizäa beansprucht. 13<br />

In <strong>der</strong> Vita Constant<strong>in</strong>i (entstanden zwischen 337–339) gibt Euseb e<strong>in</strong>en<br />

Bericht vom nizänischen Konzil, <strong>der</strong> ebenfalls die Elemente von Harmonie und<br />

Übere<strong>in</strong>stimmung aller hervorhebt. Dieses Moment ist erzählerisch ausgestaltet<br />

und gibt <strong>der</strong> Thematik e<strong>in</strong>en an<strong>der</strong>en Akzent. Eusebs Darstellung ist ganz vom<br />

Interesse am Kaiser bestimmt. Zudem s<strong>in</strong>d die biographisch-historiographischen<br />

Elemente von enkomiastischen Zügen überformt. Unter diesem Vorzeichen ersche<strong>in</strong>t<br />

das Nizänische Konzil als e<strong>in</strong> Unternehmens Konstant<strong>in</strong>s, mit dem er <strong>in</strong><br />

Analogie zu se<strong>in</strong>en militärischen Siegen nun abermals e<strong>in</strong>en Sieg davonträgt und<br />

im Innern <strong>der</strong> Kirche Frieden stiftet. Eusebs Beschreibung des Auftretens Konstant<strong>in</strong>s<br />

gipfelt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ansprache des Kaisers, <strong>in</strong> <strong>der</strong> dieser se<strong>in</strong>er Freude über<br />

die wahrnehmbare »allen geme<strong>in</strong>same e<strong>in</strong>e Anschauung« Ausdruck gibt (hier<br />

ist sicher das Bekenntnis zur christlichen Religion, ke<strong>in</strong>e spezifische theologische<br />

Auffassung geme<strong>in</strong>t), 14 und se<strong>in</strong>e Erwartung auf das Erreichen <strong>der</strong> »e<strong>in</strong>en,<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

Vgl. Mark S. Smith, The Idea of Nicaea <strong>in</strong> the Early Church Councils, AD 431–451, Oxford<br />

2018.<br />

Sieben, Konzilsidee, 223, versteht diese Wahrnehmungen als »Ansätze zu e<strong>in</strong>er konziliaren<br />

Theorie«. Ich möchte sie hier für die Frage nach Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzungen und Streit<br />

<strong>in</strong> Konzil eher als zunehmend sich festigenden Erwartung verstehen, welche Eigenschaften<br />

und welche Leistungsfähigkeit <strong>der</strong> Synode im Idealfall zukommen, durch die<br />

Streit gerade ausgeschlossen ersche<strong>in</strong>t.<br />

So weist Athanasius auf dessen Unterschrifth<strong>in</strong>, decr. 3,3 (AW II.1, 3,13 f. Opitz). Hierzu<br />

gehört auch <strong>der</strong> zum Beleg angehängte Brief des Euseb von Casesarea an se<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>de<br />

(CPG 3502), decr. 33 (AW II.1, 28–31 Opitz =AWIII.1, Dok. 24 =Urk. 22).<br />

Eus., V.C. III,12,1 (FC 83, 324,10–12 Schnei<strong>der</strong>; FC reproduziert den griechischen Text<br />

von GCS Eus. 1/1 W<strong>in</strong>kelmann).


Konziliare Streitkultur<br />

Beobachtungen zur Geschäftsordnung <strong>der</strong> »Heiligen<br />

und Großen Synode <strong>der</strong> orthodoxen Kirche« 2016<br />

Mart<strong>in</strong> Illert<br />

Das Selbstbild <strong>der</strong> Synode<br />

Der vorliegende Beitrag setzt das Thema »<strong>Streitkulturen</strong>« <strong>in</strong> Beziehung zur<br />

Synode <strong>der</strong> autokephalen (selbständigen) orthodoxen Kirchen, die zu Pf<strong>in</strong>gsten<br />

2016 auf Kreta zusammentrat. Im Anschluss an die über e<strong>in</strong> Jahrhun<strong>der</strong>t zurückliegende<br />

Idee <strong>der</strong> E<strong>in</strong>berufung e<strong>in</strong>es panorthodoxen Konzils und die seit<br />

den 1960er Jahren kont<strong>in</strong>uierlich fortgesetzten <strong>in</strong>haltlichen Vorbereitungen<br />

hatte e<strong>in</strong>e Versammlung <strong>der</strong> Vorsteher <strong>der</strong> orthodoxen Kirchen im Januar 2016<br />

die E<strong>in</strong>berufung <strong>der</strong> Synode und ihre Agenda bestätigt. Welche Grundkonflikte<br />

prägten diese Synode? ImFolgenden nehmen wir unterschiedliche Narrative <strong>in</strong><br />

den Blick, die diese Frage behandeln.<br />

Folgt man dem Selbstzeugnis <strong>der</strong> Heiligen und GroßenSynode, so verlief das<br />

Treffen ohne Streit. 1 Pf<strong>in</strong>gstliche E<strong>in</strong>igkeit beschwört das Logo <strong>der</strong> Versammlung<br />

<strong>der</strong> vierzehn autokephalen orthodoxen Kirchen, das die Taube des Heiligen<br />

Geistes auf dem Richterstuhl <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>kunft Christi mit dem Pf<strong>in</strong>gstbild <strong>der</strong><br />

Apostel zusammenblendet. 2 E<strong>in</strong>heit proklamiert auch das Motto »He called all to<br />

unity« 3 und die den Diptychen des Ökumenischen Patriarchats von Konstant<strong>in</strong>opel<br />

entsprechende Sitzordnung im Versammlungsraum. 4 Diese E<strong>in</strong>igkeit unterstrichen<br />

auch die konziliaren Dokumente und die Pressebrief<strong>in</strong>gs, die den<br />

Fortgang <strong>der</strong> Sitzungen und die Verabschiedung <strong>der</strong> konziliaren Dokumente<br />

durch die Versammlung begleiteten. 5<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

Die Dokumente <strong>der</strong> Synode zitieren wir nach: Bartholomaios, Synodos, 1–104 (Deutsch),<br />

105–191 (Griechisch); e<strong>in</strong>e erste deutsche Übersetzung erstellte Hallensleben, E<strong>in</strong>heit.<br />

Vgl. die Internetseite »Holy Council«.<br />

Vgl. ebd.<br />

Vgl. die »Enzyklika« des Konzils <strong>in</strong>: Bartholomaios, Synodos, 20 (Deutsch), 108 (Griechisch).<br />

Vgl. die »Botschaft des Konzils« ebd., 42–43 (Deutsch): »Das wichtigste Anliegen des<br />

Konzils war es, die E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> Orthodoxen Kirche zu verkünden« (Griechisch: 130–131).


60 Mart<strong>in</strong> Illert<br />

In ihrer Selbstsicht war die Synode e<strong>in</strong> gottesdienstliches Ereignis. 6 Wenn<br />

auch vier Kirchen ke<strong>in</strong>e Teilnehmer entsandt hatten, wurden die Namen ihrer<br />

Vorsteher doch <strong>in</strong> <strong>der</strong> geme<strong>in</strong>samen Liturgie zum E<strong>in</strong>gang <strong>der</strong> Synode kommemoriert.<br />

7 Die Erklärungen <strong>der</strong> Synode verstanden sich als geistgeleitete E<strong>in</strong>heitsbekundungen<br />

und trugen doxologischen Charakter. 8 Die »Helden« des<br />

Narrativs »Der Geist führt zur E<strong>in</strong>heit« waren die vierzehn autokephalen orthodoxen<br />

Kirchen von Konstant<strong>in</strong>opel, Alexandria, Antiochia, Jerusalem, Moskau,<br />

Belgrad,Bukarest, Sofia, die Kirchen von Georgien, Zypern, Griechenland,Polen,<br />

Albanien und<strong>der</strong> tschechischen und slowakischen Län<strong>der</strong> – »Antihelden« waren<br />

<strong>in</strong> diesem Narrativ nicht vorgesehen, denn selbst <strong>der</strong> daheim gebliebene Moskauer<br />

Patriarch verharrte nach eigenem Bekunden im Gebet für se<strong>in</strong>e auf Kreta<br />

versammelten Brü<strong>der</strong>. 9<br />

Ke<strong>in</strong> Herrscher saß <strong>der</strong> Synode vor, wie ihn die orthodoxe Ikonographie <strong>in</strong><br />

ihren kanonischen Konzilsdarstellungen abbildet. 10 Nicht das traditionelle Modell<br />

<strong>der</strong> Symphonie, son<strong>der</strong>n die <strong>in</strong> <strong>der</strong> orthodoxen Diaspora im Dialog mit <strong>der</strong><br />

Ökumenischen Bewegung entwickelte eucharistische Ekklesiologie, wie sie <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Vergangenheit <strong>der</strong> Theologe Nikolai Afanasiev (1893–1966) entworfen und<br />

<strong>der</strong> selbst auf Kreta beteiligte Johannes Zizioulas (1937–2023) fortgeschrieben<br />

hatten, prägte das Selbstverständnis. 11 Die Feier <strong>der</strong> Eucharistie durch die angereistenVorsteher<br />

brachte die Geme<strong>in</strong>schaft<strong>der</strong> zusammengetretenen Kirchen<br />

zum Ausdruck. Dass sich die Ekklesiologie aus <strong>der</strong> Eucharistie speist, hielt auch<br />

die Geschäftsordnung <strong>der</strong> Heiligen und Großen Synode fest: »Die Arbeit des<br />

Konzils soll beg<strong>in</strong>nen und enden mit <strong>der</strong> Feier e<strong>in</strong>er panorthodoxen göttlichen<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

So beg<strong>in</strong>nt die Enzyklika des Konzils mit e<strong>in</strong>er tr<strong>in</strong>itarischen Doxologie vgl. Bartholomaios,<br />

Synodos 20.<br />

Vgl. den Ostkirchenkundler Re<strong>in</strong>hard Thöle <strong>in</strong>: Evangelischer Pressedienst, Bedeutung,<br />

37:»Die Absage e<strong>in</strong>iger Kirchen, am Konzil teilzunehmen, ist mitnichten Ausdruck e<strong>in</strong>er<br />

Kirchenspaltung, da die teilnehmenden Kirchen für die Abwesenden gebetet haben und<br />

das Moskauer Patriarchat ausdrücklich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schreiben an die Synode betonte, dass<br />

es se<strong>in</strong>erseits für die Synode betet.«.<br />

Vgl. Bartholomaios, Synodos 20: »Mit e<strong>in</strong>em Hymnus des Dankes preisen wir den <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Dreiheit verehrten Gott, <strong>der</strong> uns befähigt hat, … durch die E<strong>in</strong>gebung des Heiligen Geistes<br />

die Sitzungen dieses Heiligen und Großen Konzils unserer Orthodoxen Kirche zu vollenden«<br />

(Griechisch: 108).<br />

Vgl. Anm. 7.<br />

Vgl. die Abbildung des Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Synode<br />

vorsitzt, vor e<strong>in</strong>er Ikone des Ersten Ökumenischen Konzils von 325 im Tagungsraum des<br />

Konzils <strong>in</strong>: Bartholomaios, Synodos, 198.<br />

Vgl. a. a. O., 204 sowie die »Botschaft« a. a.O., 42 (Deutsch): »Unsere Kirche lebt aus dem<br />

Sakrament, aus <strong>der</strong> ›göttlichen Oikonomia‹ <strong>in</strong> ihrem sakramentalen Leben, mit <strong>der</strong><br />

heiligen Eucharistie <strong>in</strong> ihrer Mitte« (Griechisch a. a. O. ,131); zur eucharistischen<br />

Theologie vgl. Louth, Th<strong>in</strong>kers, 214–229; Afanasiev, Hirtenamt; Zizioulas, Communion.


Konziliare Streitkultur 61<br />

Liturgie, <strong>der</strong> <strong>der</strong> Ökumenische Patriarch vorsitzt und an <strong>der</strong> alle Vorsteher <strong>der</strong><br />

autokephalen orthodoxen Kirchen o<strong>der</strong> ihre Vertreter <strong>in</strong> Entsprechung zuden<br />

Diptychen des Ökumenischen Patriarchats teilnehmen«. 12<br />

Das weltpolitische Narrativ<br />

Bereits vor dem Zusammentreten <strong>der</strong> Synode wurde das eben nachgezeichnete<br />

orthodoxe Selbstbild<strong>in</strong>frage gestellt. NochimJanuar 2016 verweigerte die Kirche<br />

von Antiochia <strong>der</strong> Geschäftsordnung ihre Unterschrift. 13 Streitigkeiten mit Jerusalem<br />

um den rechtlichen Status Qatars führten zur Aufkündigung <strong>der</strong> eucharistischen<br />

Geme<strong>in</strong>schaft zwischen den beiden Patriarchaten. 14 Nicht zufrieden<br />

mit <strong>der</strong> Vorbereitung war auch die Kirche von Georgien. Sie bemängelte den<br />

Entwurf zu den Ehen zwischen Orthodoxen und Nichtorthodoxen. 15 »Am Ende<br />

<strong>der</strong> Vorbereitungssitzung«, berichtet <strong>der</strong> serbische Bischof Andrej ⇥ilerd⇤i⌅<br />

(geb. 1961) über das Vortreffen im Januar 2016, »fragte <strong>der</strong> Patriarch von Konstant<strong>in</strong>opel,<br />

ob alle e<strong>in</strong>verstanden seien, im Juni das Konzil abzuhalten. Alle<br />

waren e<strong>in</strong>verstanden, nur zwei benahmen sich seltsam: das Patriarchat von<br />

Antiochien … und die Georgier.« 16<br />

»Die Russen mit ihrer Delegation«, sagt ⇥ilerd⇤i⌅,»waren die Fleißigsten auf<br />

dieser Sitzung.« 17 Auf den Konflikt, <strong>der</strong> die an<strong>der</strong>en Spannungen bald medial <strong>in</strong><br />

den Schatten stellen sollte, deutete zunächst noch nichts h<strong>in</strong>, doch dann kam es<br />

zu e<strong>in</strong>er Kaskade von Absagen: »Die Patriarchate von Antiochien und Georgien<br />

sagten im Mai, dass sie nicht kommen würden. Dann sagte das Patriarchat von<br />

Bulgarien: Wenn zwei nicht kommen, kommen wir auch nicht.« 18 Der serbische<br />

Patriarch schlug vor, das Konzil zu verschieben, Konstant<strong>in</strong>opel lehnte das ab<br />

und das Moskauer Patriarchat erklärte angesichts <strong>der</strong> Nichtberücksichtigung<br />

<strong>der</strong> Klagen <strong>der</strong> absagenden Kirchen se<strong>in</strong>erseits die Nichtteilnahme. 19 E<strong>in</strong> neues<br />

Narrativ war <strong>in</strong> den Schlagzeilen. »Jetzt zanken sich die Bischöfe« titelte die<br />

»Welt«. 20<br />

Nach <strong>der</strong> Deutung <strong>der</strong> politischen Kommentatoren betrafen theologische<br />

Inhalte <strong>in</strong> diesem Streit »nur Detailfragen«. Tatsächlich, soschrieb die damalige<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

Synaxis, Organization and Work<strong>in</strong>g Procedure, Article 8.1.<br />

Vgl. Silvan, Antioch.<br />

Vgl. Pravoslavie, Council.<br />

Vgl. Crisan, Marriage, 373–387.<br />

Baier, Riss.<br />

Ebd.<br />

Ebd.<br />

Ebd.<br />

Vgl. Smirnova, Eiszeit.


62 Mart<strong>in</strong> Illert<br />

Moskau-Korrespondent<strong>in</strong> <strong>der</strong> »Welt«, Julia Smirnova (geb. 1983), gehe es »um<br />

Macht und E<strong>in</strong>fluss« 21 zwischen Konstant<strong>in</strong>opel und Moskau. Die weltpolitischen<br />

Kontexte<strong>der</strong> kirchenpolitischen Querelen schienen überdeutlich. Das Moskauer<br />

Patriarchat agiere, so Smirnova, als »enger Verbündeter des russischen Staates«<br />

22 .Konstant<strong>in</strong>opel stehe »an <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> USA« 23 .Das Geschehen wird als<br />

Fortführung des Kalten Krieges im Bereich <strong>der</strong> Kirchebeschrieben. 24 An<strong>der</strong>s als<br />

im E<strong>in</strong>heitsnarrativ lassen sich <strong>in</strong> diesem politischen Narrativ e<strong>in</strong> Held und e<strong>in</strong><br />

Antiheld identifizieren. Held ist das prowestliche Konstant<strong>in</strong>opel, Antiheld das<br />

reaktionäre Moskau.<br />

Tatsächlich setzt auch die Geschäftsordnung <strong>der</strong> Synode Akzente, die e<strong>in</strong>e<br />

Konzentration auf Moskau und Konstant<strong>in</strong>opel nahelegen. So hat <strong>der</strong> Ökumenische<br />

Patriarch den Vorsitz und die Versammlungsleitung des Gremiums <strong>in</strong>ne,<br />

während das Russische als die wichtigste Konzilssprache nach dem Griechischen<br />

genannt wird. Auch legt die Abstimmungnach Kirchen und nicht nach den<br />

Mehrheiten <strong>der</strong> Delegierten den Schwerpunkt auf die Gegensätze <strong>der</strong> Patriarchate<br />

und nicht <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Me<strong>in</strong>ungen, wie die Geschäftsordnung bestimmt:<br />

»Die Stimmensollen von je<strong>der</strong> autokephalen Kirche abgegebenwerden,<br />

nicht von den e<strong>in</strong>zelnen Mitglie<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Delegationen. Die Gegenstimme e<strong>in</strong>er<br />

Kirche, nicht die e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>zelperson, kann als M<strong>in</strong><strong>der</strong>me<strong>in</strong>ung <strong>in</strong> die weitere<br />

Diskussion e<strong>in</strong>gebracht werden«. 25<br />

Das Mo<strong>der</strong>ne-Narrativ<br />

Während die politische Deutung des Geschehens die Übertragung des weltpolitischen<br />

Deutungsmusters »West versus Ost« auf die Kirchen beför<strong>der</strong>te, rückten<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

25<br />

Ebd.<br />

Ebd.<br />

Ebd.<br />

Ähnlich Makrides, Konzil und die mo<strong>der</strong>ne Welt, 2: »Das Konzil war ke<strong>in</strong>e ausschließlich<br />

kirchliche und theologische Angelegenheit: es hatte e<strong>in</strong>e Reihe an<strong>der</strong>er wichtiger Dimensionen.<br />

Die Orthodoxen Kirchen, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die historischen Kirchen <strong>in</strong> Ost- und<br />

Südosteuropa, s<strong>in</strong>d bedeutende geopolitische Akteure <strong>in</strong> <strong>der</strong> heutigen globalen Welt. Sie<br />

werden deshalb oftmals von den politischen Regimes <strong>in</strong>strumentalisiert, nicht zuletzt<br />

aufgrund ihrer engen Beziehungen zum Staat und zur Politik. Paradebeispiele s<strong>in</strong>d das<br />

postsowjetische Russland und das enge Verhältnis von Vladimir Put<strong>in</strong> und Patriarch<br />

Kirill. Berücksichtigt man zudem die erhebliche Unterstützung des Ökumenischen Patriarchats<br />

von Konstant<strong>in</strong>opel durch die USA, erklären sich die andauernde Spannung<br />

und das R<strong>in</strong>gen <strong>der</strong> beiden Kirchenstühle um die Vorherrschaft<strong>in</strong><strong>der</strong> gesamtorthodoxen<br />

Welt«.<br />

Synaxis, Organization, Article 12.1.


Konziliare Streitkultur 63<br />

mit dem Zusammentreten <strong>der</strong> Synodeund <strong>der</strong> Arbeit an den vorbereiteten Texten<br />

die <strong>in</strong>haltlichen Fragen <strong>der</strong> Theologie wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> den Mittelpunkt. Neben <strong>der</strong><br />

Enzyklika und <strong>der</strong> Botschaftdes Konzils waren dies die Texte über die Bedeutung<br />

des Fastens und se<strong>in</strong>e heutige Beachtung, das Dokument über die Beziehungen<br />

<strong>der</strong> orthodoxen Kirche mit <strong>der</strong> übrigen christlichen Welt, sowie die Texte zur<br />

Autonomie und<strong>der</strong> Art und Weise ihrer Erklärung, zur orthodoxen Diaspora,zum<br />

Sakrament <strong>der</strong> Ehe und zur Sendung <strong>der</strong> orthodoxen Kirche <strong>in</strong><strong>der</strong> Welt.<br />

Zu diesen Texten, <strong>der</strong>en Vorarbeiten bis <strong>in</strong> präkonziliare Konferenzen <strong>der</strong><br />

Orthodoxie <strong>in</strong> den 1960er Jahre reichten und die nun nur noch diskutiert und<br />

ergänzt und dann verabschiedet werden sollten,meldetenvor, während und nach<br />

<strong>der</strong> Synode vor allem die akademischen Theologen orthodoxer, katholischerund<br />

protestantischer Konfession zu Wort. 26 Sie arbeiteten die <strong>in</strong>neren Spannungen<br />

<strong>der</strong> Orthodoxie heraus, die sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er jeden ihrer Kirchen und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e<br />

auch zwischen vielfach progressiver Diasporaexistenz Westeuropas und Nordamerikas<br />

und mehrheitlich noch konservativen Heimatkirchen <strong>der</strong> Län<strong>der</strong> Ostund<br />

Südosteuropas ergeben konnten. 27 Die Rivalitäten zwischen e<strong>in</strong>zelnen Kirchen,<br />

die das politische Narrativ betonte, traten <strong>in</strong> diesen Analysen h<strong>in</strong>ter den<br />

<strong>in</strong>neren Spannungen <strong>der</strong> jeweiligen orthodoxen Kirchen zurück.<br />

Die Orthodoxie, so führte etwa <strong>der</strong> Münsteraner katholische Ostkirchenkundler<br />

Thomas Bremer (geb. 1957) unter <strong>der</strong> – freilich redaktionellen –<br />

Überschrift »Patriarchen mögen’snicht mo<strong>der</strong>n«gegenüber<strong>der</strong> DeutschenWelle<br />

aus »droht den Anschluss zu verlieren an die Mo<strong>der</strong>ne und an die Menschen, die<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne leben«. 28 Diskussionen gebe es etwa, so führte Bremer aus, <strong>in</strong><br />

den USA unter den orthodoxenTheolog<strong>in</strong>nen und Theologen: »Sie sagen. Dasist<br />

nicht das, was wir heute brauchen. Wir brauchen an<strong>der</strong>e Antworten.« 29 Auch<br />

erschwere die Une<strong>in</strong>igkeit <strong>der</strong> Orthodoxie e<strong>in</strong>e Positionierung im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er<br />

Akzeptanz <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>in</strong> <strong>der</strong> Orthodoxen Kirche. 30<br />

Diese Analyse legt ihren Schwerpunkt auf die Konflikte <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> konziliaren<br />

Texte selbst, die sich im Spannungsfeld von Tradition und Mo<strong>der</strong>ne<br />

bewegen. Stärker als diepolitische Deutung nimmt sie die Arbeit des Konzils an<br />

den Texten selbst ernst. Mit ihrer diachronen Perspektive kann sie die Genese <strong>der</strong><br />

theologischen Leitgedanken seit den ersten präkonziliaren Konferenzen <strong>der</strong> or-<br />

26<br />

27<br />

28<br />

29<br />

30<br />

Vgl. z. B. Makrides, Konzil; Oeldemann, Konzil; Illert, Perspektiven.<br />

Vgl. Makrides, Konzil 12: »Säkularität, Individualität, Selbstverwirklichung und kontextuelle<br />

Hermeneutik – bleiben den Orthodoxen fremd und werden oft attackiert und<br />

verworfen. Es gab und gibt vere<strong>in</strong>zelte Versuche, e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Verhältnis zur Mo<strong>der</strong>ne zu<br />

entwerfen, zum Beispiel durch die russische religiöse Philosophie im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

und auch später im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t«.<br />

Bremer, DW-Interview.<br />

Ebd.<br />

Ebd.


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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig<br />

Satz: 3w+p, Rimpar<br />

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ISBN 978-3-374-07494-5 // eISBN (PDF) 978-3-374-07495-2<br />

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