Tanz der Dissidenz „Schwanensee“und politischer Widerstand: Anna Jermolaewa und Oksana Serheieva zeigen im österreichischen Pavillon auf der Venedig-Biennale, wie dieszusammenpasst. Text: Daniel Kalt Fotos: Christine Pichler VERBUNDEN. Oksana Serheieva floh 2022 aus der Ukraine nach Wien und lernte hier Anna Jermolaewa (r.) kennen. 10 Schaufenster
CROISÉ. Jermolaewa und Serheieva gestaltetendas Video „Rehearsal for Swan Lake“für die Kunstbiennale in Venedig. Für die einen ist esdas schönste und dank publikumswirksamer Verfilmungen wohl auch bekannteste Ballett aller Zeiten, für andere wieder ist Tschaikowskys „Schwanensee“ ein Mittel, stillen Widerstand zu üben und sich ohne Worte gegen das in Russland herrschende Regime aufzulehnen. Die ins Ausland geflohene russische Anthropologin Alexandra Arkhipova erwähnte in einem Interview mit dem US Radiosender NPR 2022 visuelle Verweise auf „Schwanensee“ inForm von den in russischen Städten auftauchenden BallerinaGraffiti als Mittel des semiotischen Widerstands gegen den Angriffskrieg auf die Ukraine. Die Künstlerinnengruppe Pussy Riot wieder veröffentlichte imHerbst 2023 ein dreiminütiges Video mit dem Titel „Swan Lake“: Auch hier handelt es sich um einen Ausdruck des Widerstandes gegen Putins Regime und den Krieg gegen die Ukraine. Anna Jermolaewa, die 1989 aus der UdSSR wegen ihrer Tätigkeit als politische Oppositionelle fliehen musste, von dort nach Österreich kam und hier seitdem als Künstlerin arbeitet, hat sich für ihre Gestaltung des ÖsterreichPavillons auf der Kunstbiennale in Venedig nun ebenfalls ausgiebig mit „Schwanensee“ befasst. „Das Ballett hatte für Menschen in der UdSSR eine besondere Bedeutung, eslief zum Beispiel als Loop einen Tag lang im Staatsfernsehen, nachdem Breschnew 1982 gestorben war.“ 1984 und 1985, nach dem Tod von Seit Sowjetzeiten ist „Schwanensee“ Zeichen für einen Regimewechsel. Breschnews Nachfolgern Andropow und Tschernenko war es dasselbe, und Anfang der 1990erJahre kam es dann zu einem Fernsehprogramm, das wohl für die hartnäckigsten Ballettliebhaber ein bisschen zu viel des Guten gewesen sein dürfte: „Nach dem misslungenen Staatsstreich gegen Gorbatschow 1991 waren esganze drei Tage ,Schwanensee‘ im Loop“, erinnert sich Jermolaewa, die Russland damals bereits verlassen hatte. „Das hat dazu geführt, dass Menschen in Russland in jener Zeit automatisch aufhorchten und wussten, dass etwas politisch Bedeutsames passiert war, wenn unvermittelt ,Schwanensee‘ im Fernsehen gespielt wurde –eswar ein Code für den Machtwechsel.“ Warten auf Odette. Drei Jahrzehnte später hat „Schwanensee“ nun erneut den Charakter einer Chiffre angenommen. Als Menschen gegen den UkraineKrieg und Wladimir Putins Regime protestieren wollten, mussten sie Wege finden, dies auf für andere klar erkennbare, durch die Polizei aber nicht ahnbare Weise zu tun. Ein Bild hochzuhalten und zu sagen, man warte seit 20 Jahren auf eine Inszenierung von „Schwanensee“, falle in diese Kategorie, meinte Anthropologin Arkhipova. Anna Jermolaewa wiederum erzählt, essei keineswegs unüblich, sich zu Silvester zu wünschen, dass im kommenden Jahr hoffentlich das Ballett im Fernsehen ausgestrahlt werde. „Das Ballett steht für Regimewechsel, für Widerstand – aber auch für Macht“, sagt Oksana Serheieva. „Es gehört ja auch dazu, dass ein hoher Staatsbesuch in Moskau ins Theater geführt wird, um eine Darbietung von ,Schwanensee‘ zusehen.“ Oksana Serheieva und Anna Jermolaewa kennen einander, seit Serheieva, ehemalige Tänzerin und Ballettlehrerin, nach Kriegsausbruch 2022 fliehen musste und in Wien landete. Jemand hatte ihr auf dem Weg die Telefonnummer Jermolaewas gegeben, da diese selbst zuvor Menschen mit einem eigenen Bus von der polnischukrainischen Grenze abgeholt hatte und in Wien für ihre Unterbringung sorgen konnte. Die ganze Situation habe sie an Schaufenster 11 →