INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN - Carl Bechstein Gymnasium
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30 Sonderausgabe · Inernationale Beziehungen · Frankreich<br />
„Échange franco-allemand“ – Schüleraustausch 2003/2004<br />
Deutsche und französische Gymnasiasten vom CBG und vom Lycée Giraux-Sannier<br />
in Boulogne-sur-Mer mit Frau Annette Jannsen (links) und Frau Svea Oehring (rechts).<br />
Thomas Jefferson, 3. Präsident der USA,<br />
formulierte einst provokant: „Jeder<br />
Mensch von Kultur hat zwei Vaterländer:<br />
das seine - und Frankreich.“<br />
Herbst 2003, Schüleraustausch nach Boulogne-sur-Mer.<br />
Meine Austauschschülerin<br />
wohnt in einem abgelegenen Dorf, circa<br />
eine halbe Stunde rasante Autofahrt von der<br />
Schule entfernt. Wir kennen uns schon<br />
durch erste zaghafte Briefkontakte. Ihre<br />
Mutter, eine pensionierte Lehrerin, hat<br />
durch die beiden älteren Schwestern meiner<br />
„corres“ bereits reichlich Austausch-Erfahrungen<br />
sammeln können und ich werde<br />
herzlich aufgenommen. Sprachlich gibt es<br />
keine Probleme und auch sonst wird die<br />
Zeit konfliktfrei verlaufen.<br />
Vor uns liegt eine spannende Woche mit<br />
abwechslungsreichem Programm – Stadtbesichtigungen,<br />
Strandsegeln, eine Exkursion<br />
nach Paris und Besuche im französischen<br />
Unterricht stehen auf dem Plan. Das Lycée<br />
ist, wie alle Schulen in Frankreich, eine<br />
Ganztagsschule. Mit seinen „nur“ 1200<br />
Schülern zählt es noch zu den kleineren<br />
Schulen. Dennoch ist das moderne, helle<br />
Gebäude bestens ausgestattet, selbst Psychologen<br />
und Ärzte, die den Schülerinnen<br />
die Pille verschreiben, gehören zum Mikrokosmos<br />
Schule. Das ist aber auch nötig, da<br />
die Schüler neben Unterricht, Fahrzeit zur<br />
Schule und abends noch Hausaufgaben<br />
wenig Zeit für weitere Aktivitäten haben.<br />
Nur der Mittwochnachmittag ist frei und<br />
für Hobbies reserviert.<br />
Wendepunkt im Tagesablauf ist die mindestens<br />
einstündige Mittagspause mit wunderbarem<br />
Mittagessen – 3 Gänge sind selbst in<br />
der Schulkantine üblich. Allgemein spielen<br />
meiner Erfahrung nach die Mahlzeiten in<br />
Frankreich eine viel größere Rolle als in<br />
Deutschland. Die Mittagspause als Ruhepol<br />
im Tagesgeschäft (in Südfrankreich besonders<br />
im Sommer mit nachfolgender Siesta)<br />
und dem Abendessen als Treffpunkt für die<br />
gesamte Familie. Auch in meiner Gastfamilie<br />
wurde die abendliche Mahlzeit geradezu<br />
„zelebriert“, mit dem schon sprichwörtlichen<br />
französischen Käse (oder Joghurt) als<br />
Abschluss. Das Sprichwort „Essen wie Gott<br />
in Frankreich“ und das „savoir vivre“ sind<br />
nicht unberechtigt.<br />
Was das Schulsystem angeht, habe ich die<br />
Erfahrung gemacht, dass in Frankreich<br />
mehr Wert auf die schulischen Leistungen<br />
der Schüler (und auch der Studenten) gelegt<br />
wird als in Deutschland. So werden beispielsweise<br />
die Prüfungsergebnisse der classes<br />
préparatoires, die über den Zugang zur<br />
Universität entscheiden, in den großen<br />
Tageszeitungen veröffentlicht. Schon in der<br />
Schule wird ein eher universitär anmutender<br />
Lernansatz verfolgt, in dem der französische<br />
Lehrer (der nicht umsonst „professeur“<br />
heißt) vorträgt und die Schüler wörtlich<br />
mitschreiben und dann auswendig lernen.<br />
Mitarbeitsnoten gibt es keine, so dass die<br />
französischen Schüler auch um einiges<br />
zurückhaltender als die Deutschen sind. In<br />
Deutschland geht man eher von dem<br />
Ansatz „learning by doing“ aus, die Franzosen<br />
müssen Stoff auswendig lernen, bevor<br />
sie ihre Meinung äußern (also der Ansatz<br />
„Können durch Wissen“).<br />
Interessanterweise wenden die Franzosen<br />
diese „Auswendig-Lern-Taktik“ auch auf<br />
das Lernen von Fremdsprachen an, so dass<br />
Textanalysen über der Fähigkeit zur Konversation<br />
stehen (wer mal einen Blick in die<br />
Vokabelhefte der Franzosen geworfen hat,<br />
weiß, wovon ich rede). Trotzdem gibt es –<br />
entgegen dem Cliché – viele Franzosen, die<br />
auch gut Englisch können. Dass andere<br />
Sprachen nicht so gut beherrscht werden,<br />
liegt schon allein daran, dass der Unterricht<br />
nicht so früh wie in Deutschland einsetzt<br />
und mit weniger Wochenstunden unterrichtet<br />
wird.<br />
Während in Deutschland alle Leistungskurse<br />
zum gleichen Abitur führen, wird in<br />
Frankreich zwischen naturwissenschaftlichem,<br />
sprachlichem und wirtschaftlichsozialwissenschaftlichem<br />
Profil unterschieden,<br />
die Zugang zu unterschiedlichen Studiengängen<br />
erlauben. Die sciences werden<br />
als das schwerste betrachtet, dementsprechend<br />
kann man mit einem solchen Abitur<br />
alles studieren (auch Sprachen!), mit einem<br />
Sprachen-Abi sind technisch-naturwissenschaftliche<br />
Studiengänge schon nicht mehr<br />
möglich. So kam es auch, dass meine corres,<br />
obwohl sie nach eigener Aussage viel mehr<br />
Interesse an Sprachen hatte, zwecks besserer<br />
Berufschancen das bac scientifique belegt<br />
hatte.<br />
Leider habe ich heute keinen Kontakt mehr<br />
zu meiner Austauschpartnerin. Dennoch<br />
war der échange franco-allemand eine wunderbare<br />
Erfahrung, die ich nicht missen<br />
möchte. Kaum zu glauben, dass vor sechzig<br />
Jahren der Begriff der „deutsch-französischen<br />
Erbfeindschaft“ noch weit verbreitet<br />
war, während heute durch das Deutsch-<br />
Französische Jugendwerk, die Deutsch-<br />
Französische Hochschule, Schüleraustausche<br />
usw. die „Deutsch-Französische<br />
Freundschaft“ dominiert.<br />
Der Aufenthalt in Boulogne blieb nicht<br />
mein letzter Besuch in Frankreich, nach<br />
dem Abitur war ich in Südfrankreich, ein<br />
Jahr später im Elsass. Schließlich ist Frankreich<br />
in jeder Region unterschiedlich und<br />
überall gibt es Neues zu entdecken.<br />
Annegret Brandt<br />
Annegret, Abiturjahrgang 2006, studiert<br />
Lebensmittelchemie im 3. Semester in<br />
Dresden.