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i n n o v a t i v e A n s t o ß 4 Das kleine Wörtchen „noch“ Kritisch und etwas skeptisch steht sie vor dem Spiegel. Meine Freundin hat gerade einen knallroten Blazer anprobiert. Wir Freundinnen schauen ihr aufmunternd dabei zu. Ja oder Nein? Das ist hier die Frage. Da kommt die Verkäuferin hinzu und gibt ihr Votum: „Das können Sie noch gut tragen!“ Der Stachel sitzt: „Noch!“ Meine Freundin ist 51 Jahre alt. Also noch kann sie rot tragen. Aber vielleicht bald nicht mehr? Dann nur noch dunkelblau oder grau? Später sitzen die Freundinnen in einem Cafe und denken über das kleine Wörtchen „noch“ nach. Nicht nur in modischen Fragen taucht es auf. Überall im Alltag macht es sich breit. Im Persönlichen, aber auch im Globalen. Da ist die eigene Gesundheit, aber genauso sind da die Fragen der Erderwärmung und des Klimawandels. Dass etwas „noch“ geht, heißt zugleich, dass es irgendwann „nicht mehr“ geht. Und dieser Schritt vom „Noch“ ins „Nicht mehr“ kann leicht zu einem Schritt von Stolz und Selbstbewusstsein zu Angst und Niedergeschlagenheit werden. Etwas „nicht mehr“ zu können, markiert dann ein Versagen. Das andauernd schwingende Pendel der Gedanken zwischen „früher“ und „später“ zwingt geradezu zum Vergleichen. Das kleine Wörtchen „noch“ zeigt Grenzen auf. Es beschreibt ein Jetzt, das sich nicht unbegrenzt fortschreiben lässt. Dieses Wissen kann Angst auslösen: Was wird, wenn ich „nicht mehr“ das bin, was ich „noch“ bin? Dieses Wissen kann auch Hoffnung auslösen: „Ich muss nicht immer das sein, was ich jetzt bin.“ Und unter Umständen löst es noch etwas ganz anderes aus: Einen neuen und staunenden Blick auf das Selbstverständliche. Vielleicht auch alles zusammen. Oder von allem etwas. So lese ich es in einem Gedicht von Rose Ausländer: Noch bist du da Wirf deine Angst in die Luft Bald ist deine Zeit um Bald wächst der Himmel unter dem Gras fallen deine Träume ins Nirgends Noch duftet die Nelke singt die Drossel noch darfst du lieben Worte verschenken noch bist du da Sei was du bist Gib was du hast. In ihrem letzten Fernsehinterview – sie ist zu diesem Zeitpunkt schon sechs Jahre bettlägerig - wird Rose Ausländer gefragt: „Was erwarten Sie noch vom Leben?“ Sie antwortet: „Ich erwarte nichts. Aber ich lebe gern.“ In ihrem Gedicht ist es, als würde der erste Teil die Frage des Interviewers aufnehmen: Bald ist deine Zeit um – was gibt es noch zu erwarten? Im zweiten Teil des Gedichts, der mit „Noch“ beginnt, wird eine Verbindung geknüpft von außen nach innen, von der Welt hin zu sich selbst: Die Nelke duftet. Die Drossel singt. Es ist das Wesen einer Blume zu duften. Das Wesen eines Vogels zu singen. Beide geben also ihrem Wesen Ausdruck. Und so auch das lyrische Ich: Noch darfst du lieben / Worte verschenken / noch bist du da. Und dann kommt, knapp und prägnant, der Schluss: Sei was du bist / Gib was du hast. In diesen beiden letzten Sätzen ist kein Noch, kein Bald und kein nicht mehr. Sie sind ganz Gegenwart. Sei, was du bist. / Gib was du hast. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist entlastend zu spüren: Ich muss nicht mehr sein, als ich bin. Ich muss nicht mehr geben, als ich habe. Die Nelke schenkt ihren Duft. Die Drossel ihren Gesang. Nicht mehr. Nicht weniger. Sie sind sie selbst und denken nicht darüber nach, dass sie sich verschenken. Wir können sicher nicht alles nachahmen, was uns die Blumen und die Vögel unter dem Himmel vormachen. Wir reflektieren unser Sein und unser Tun. Es macht uns ja zu Menschen, dass wir denken und Beziehungen zwischen gestern und morgen aufbauen. Dass wir an ein „Noch“ und ein „nicht mehr“ denken – das gehört dazu. Und manchmal ist es so, dass mitten im Alltag, vor einem Spiegel im Modegeschäft, etwas aufbricht von der Frage nach dem Sinn. Von Angst und Freude und Hoffnung. Die Freundinnen sitzen noch lange Zeit im Cafe und reden. Die Frage nach der Farbe des Blazers ist unwichtig geworden. „Und manchmal ist es so, dass mitten im Alltag, vor einem Spiegel im Modegeschäft, etwas aufbricht von der Frage nach dem Sinn. Von Angst und Freude und Hoffnung.“ Gundula Döring G u n d u l a D ö r i n g
5 i n n o v a t i v e P r o j e k t e ı A k t i o n e n Neu: Lebendige Poster und Postkartenreihe Ein leuchtendes Poster und farbig animierende Postkarten zum Jahresthema 2010/2011 der Frauenarbeit in Nordelbien: „Es geht auch anders – umkehren zum Leben“ Die Postkartenserie (4 Stück) kostet einen Euro. Die Postkarten eignen sich gut, um über das Jahresthema ins Gespräch zu kommen, für Gruppenarbeit – oder einfach zum Verschicken. Die Poster gibt es kostenlos. Zu beziehen ist alles in den Ev. <strong>Frauenwerk</strong>en vor Ort (wir nennen Ihnen gern Ihr nächstes <strong>Frauenwerk</strong>) und bei uns (Fon 0431 – 55 779 107, uschroder@ne-fw.de). Schauen Sie diese vierfarbigen Produkte doch schon einmal an: www.ne-fw.de. A n n e t t e P a w e l i t z k i
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