30. Jahrgang Nummer 4/5 - 30.07.1989 - der Gruppe Arbeiterpolitik
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Richtungen in <strong>der</strong> Pürtei nur andeutungsweise rekonstru-<br />
ieren.<br />
Wir haben uns ausführlich dieser düsteren Seite <strong>der</strong> Ent-<br />
wicklung zugewandt, doch würde ein falsches Bild verblei-<br />
ben, erinnerten wir nicht daran, daß »schwarz« und »rosa«<br />
nebeneinan<strong>der</strong> standen. Medwedjew erzählt: »Man wußte:<br />
Führer von Partei und Staat werden als 'Volksfeinde' verhaf-<br />
tet, zugleich aber sah man überall neue Schulen, Fabriken,<br />
Kulturpaläste entstehen. Kommandeure wurden als Spione<br />
festgenommen, aber zugleich baute die Partei eine mo<strong>der</strong>ne,<br />
starke Armee auf. Sowjetische Wissenschaftler wurden als<br />
Schädlinge eingesperrt, aber mit Unterstützung <strong>der</strong> Partei<br />
machte die Wissenschaft große Fortschritte. Schriftsteller<br />
wurden als Trotzkisten und Konterrevolutionäre verhaftet,<br />
und doch erschienen literarische Arbeiten, die wahre Mei-<br />
sterwerke genannt werden mußten. Führer <strong>der</strong> Unionsrepu-<br />
bliken wurden als Nationalisten gebrandmarkt, doch den<br />
ehemals unterdrückten Nationalitäten ging es besser als frü-<br />
her, und die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den<br />
Völkern <strong>der</strong> Sowjetunion festigten sich. Und dieser so offen-<br />
kundige Fortschritt erfüllte die Herzen <strong>der</strong> Sowjetbürger mit<br />
Stolz, schuf Zutrauen zur Partei und dem Mann an ihrer<br />
Spitze. Stalin profitierte sogar davon, daß 1937, im Jahr <strong>der</strong><br />
schlimmsten Repressionen, die Ernte besser ausfiel als in<br />
jedem an<strong>der</strong>en Vorkrieg~jahr.~~~'<br />
Arbeitslager<br />
Fast alle Verhafteten kamen in Arbeitslager, die durchschnittliche<br />
Strafe war zehn Jahre. Die Zwangsarbeit existierte<br />
schon im Zarismus. Nach <strong>der</strong> Oktoberrevolution entstanden<br />
zugleich mit <strong>der</strong> Subotnik-Bewegung neue Formen.<br />
DerAcht-Stundeq-Tag wurde eingeführt,<strong>der</strong>Tariflohn wurde<br />
Norm (abzüglich Verwaltungskosten), Arbeit statt Haft sollte<br />
resozialisieren.<br />
Mit <strong>der</strong> Industrialisierung wurde <strong>der</strong> ökonomische Nutzen<br />
<strong>der</strong> Lagerarbeit vorrangig. Der Arbeitsdruck wächst, die<br />
Arbeit soll effektiv sein und zumindest kostendeckend. 1932<br />
wird <strong>der</strong> Belomor-Kanal (vom Weißmeer zur Ostsee) gebaut,<br />
von 100000 Häftlingen, die alle Lagerfunktionen selbst ausfüllen;<br />
nur 37 Tscheka-Bewacher gibt es. Sie haben die gleichen<br />
Rationen. »Draußen- sind die Lebensbedingungen<br />
genau so. Während <strong>der</strong> Hungersnot ziehen gar Familien aus<br />
<strong>der</strong> Ukraine zum Lager, um sich von »drinnen« miternähren<br />
zu lassen.<br />
Solschenitzyn erzählt im »Archipel Gulagu: „Der Kanal<br />
muß in kürzester Frist und mit billiqsten Mitteln errichtet<br />
werden - so lautet die ~eisung vom~enossen ~talin!' (Wer<br />
damals lebte, weiß, was das zu bedeuten hatte: eine WEI-<br />
SUNG DES GENOSSEN STALIN!) Zwanzig Monate -<br />
gewährte <strong>der</strong> Große seinen Verbrechern für Kanal und Besserung:vom<br />
September 1931 biszum April 1933. Nicht einmal<br />
zwei volle Jahre konnte er hergeben, so groß war die Eile.<br />
Zweihun<strong>der</strong>tsechsundzwanzig .Kilometer. Felsboden.<br />
Sümpfe. Übereinan<strong>der</strong> getürmte Steine. Sieben Schleusen<br />
<strong>der</strong> Powenez-Stufe, zwanzig Schleusen am Abstieg zum Weißen<br />
Meer. Und: 'Hier haben wir es nicht mit dem Dnjepr-<br />
Kraftwerk zu tun, für dessen Bau eine lange Frist undDevisen<br />
bewilligt wurden. Der Bau des Weißmeerkanals ist <strong>der</strong> OGPU<br />
übertragen, und an Devisen gibt es keine Kopeke!. . .<br />
Was Wun<strong>der</strong>, daß man sich an den Schädlingsingenieuren<br />
austobt. Die lngenieure sagen: Es müssen Betonbauten her.<br />
Die Tschekisten antworten: Die Zeit ist zu knapp. Die Inge-<br />
nieure sagen: Wir brauchen viel Eisen! Die Tschekisten ant-<br />
worten: Nehmt Holz! Die Ingenieure sagen: Wir brauchen<br />
Traktoren, Kräne, Baumaschinen! Die Tschekisten: Darauf<br />
wartet ihr umsonst, keine Devisen, keine Maschinen, nehmt<br />
Arbeiterhände! . . .<br />
wir haben's so eilig, daß schon Viehwagen um Viehwagen<br />
mit den Häftlingen an <strong>der</strong> Trasse ankommt, aber die Ba-<br />
2' Roy Medwedew. C. 41 1<br />
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racken, die sind noch nicht fertig, aber die Lebensmittel, die<br />
Geräte, <strong>der</strong> genaue Plan, die lassen auf sich warten. (Es fehlt<br />
an Baracken, aber nicht an frühen Herbstfrösten da oben im<br />
Norden. Es mangelt an Werkzeug, aber <strong>der</strong> erste Monat von<br />
den zwanzig, er läßt nicht auf sich warten). Wir haben's so<br />
eilig, daß die endlich eintreffenden Ingenieure we<strong>der</strong> Zei-<br />
chenpapier noch Lineale o<strong>der</strong> Reißnägel (I) bekommen, ja<br />
nicht mal Licht in <strong>der</strong> Arbeitsbaracke haben. Sie arbeiten<br />
unter <strong>der</strong> Olfunzel. Unsere Autoren berauschen sich daran:<br />
'Wie im Bürgerkrieg!'. . . Geniale Ingenieure sind das! Muß-<br />
ten aus dem zwanzigsten Jahrhun<strong>der</strong>t in die Steinzeit zurück-<br />
steigen - und schafften es dennoch!<br />
Die verbreitetste Transportart des Kanalbaus? Die Gra-<br />
barka, belehren uns die Verfasser, <strong>der</strong> Ziehwagen also.<br />
Daneben gibt es freilich die Weißmeer-Fords! Wie die aus-<br />
sehen? Na so: schwere Holzplatten werden auf vier runde<br />
Holzklötze (Rollen) montiert, zwei Gäule ziehen den Ford und<br />
schaffen die Steine weg. Der Schubkarren indes wird von<br />
zwei Menschen bedient, und wenn's bergauf geht, greift ein<br />
dritter zu: <strong>der</strong> Lasthakenmann. Wie aber die Bäume fällen,<br />
wenn es we<strong>der</strong> Sägen noch Äxte gibt? Ein technisches Pro-<br />
blem? Eine Lappalie für uns: Man binde zwei Stricke um den<br />
Baum und lasse abwechselnd zwei Brigaden daran ziehen,<br />
mal hin, mal her, um die Wurzel zu lockern! Ach, gegen uns<br />
kommt niemand an.. .<br />
Darin liegt ja die Größe dieses Vorhabens, daß es ohne<br />
mo<strong>der</strong>ne Technik und ohne jegliche Belieferung durchs<br />
übrige Land bewerkstelligt wird! 'Nicht das Tempo des ver-<br />
fallenden europäisch-amerikanischen Kapitalismus wird<br />
hier vorgelegt, son<strong>der</strong>n ein echt sozialistisches Tempo!' ver-<br />
künden stolz die Autoren. (In den sechziger Jahren erfuhren<br />
wir dann, daß solches in China als großer Sprung bezeichnet<br />
wird.) Gerade die Rückständigkeit <strong>der</strong> Technik hat es ihnen<br />
angetan. Die Rückständigkeit und die Handwerkerei. Es gibt<br />
keine Kräne? Wir schaffen uns eigene! Und sie bauen sich<br />
Derricks aus Holz, bloß die Abnützungsteile werden aus<br />
Metall, und zwar in einer ebenfalls selbstgebastelten Werk-<br />
statt, gegossen. 'Eine eigene Kanalindustrie!' frohlocken die<br />
Verfasser. Und auch die Schubkarrenrä<strong>der</strong> kommen aus dem<br />
eigenen Kupolofen! Wir haben's so eilig mit unserem Kanal,<br />
daß nicht genug Schubkarrenrä<strong>der</strong> aufzutreiben sind!<br />
Versucht euch mal als lngenieure unter solchen Bedin-<br />
gungen! Alle Dämme sind aus Erde aufgeschüttet, alle<br />
Stachanow-Arbeiter zusammen mit den ersten Fahrgästen<br />
<strong>der</strong> Moskauer Metro, 1935.