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30. Jahrgang Nummer 4/5 - 30.07.1989 - der Gruppe Arbeiterpolitik

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anwesenden Arbeiter und Angestellten nach Frieden und<br />

einer menschenwürdigeren Welt aus. Sie sahen in dem<br />

Staatsgast aus <strong>der</strong> Sowjetunion einen Hoffnungsträger für<br />

ihre Wünsche.<br />

Der Vorschlag, Gorbatschow als Friedensnobelpreisträger<br />

1989 vorzuschlagen, war mit diplomatischen Kreisen <strong>der</strong> SU<br />

vorher abgesprochen, um eventuelle Komplikationen zu<br />

vermeiden und entsprach ebenfalls <strong>der</strong> Stimmung in <strong>der</strong><br />

Belegschaft.<br />

Dieser Stimmung karr, Gorbatschow in seiner Rede noch<br />

mehr entgegen. Er verzichtete auf ein vorbereitetes Redema-<br />

nuskript und sprach frei zu den Kollegen. Hier wesentliche<br />

Ausschnitte:<br />

»Wir sind glücklich, daß wir uns mit den Vertretern <strong>der</strong><br />

Arbeiterklasse <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland treffen.<br />

Ich übermittle Ihnen von den Arbeitern <strong>der</strong> Sowjetunion<br />

aufrichtige Grüße und auch die Gefühle <strong>der</strong> Sympathie und<br />

des Wunsches, zusammen weiterzugehen, zu einer besseren<br />

Zukunft unserer Völker, zu einer besseren Zukunft für die<br />

Völker Europas und zu einer friedlichen Zukunft für alle<br />

Völker <strong>der</strong> Welt.. .<br />

Wir werden unbeirrt diesen Weg weitergehen. Wir wissen,<br />

mit welchem Interesse die Werktätigen <strong>der</strong> Bundesrepublik<br />

Deutschland unsere Perestroika verfolgen. Wir spüren diese<br />

Solidarität. Im Namen unserer Bevölkerung, im Namen unse-<br />

rer Werktätigen danke ich Ihnen für diese Solidarität.. .<br />

Dies kommt <strong>der</strong> Erneuerung des Sozialismus in unserem<br />

Land zugute, dem was wir wollen, worauf wir verzichten und<br />

wofür wir kämpfen.<br />

Wir wollen mehr Sozialismus, mehr Demokratie, mehr<br />

Freiheit und daß <strong>der</strong> werktätige Mensch sich in unserem<br />

Lande wohlfühlt. Wir verzichten nicht auf den Sozialismus,<br />

wir wollen dem Sozialismus nur noch neue Qualitäten verlei-<br />

hen.. .<br />

Wir verzichten auf alles, was dem Sozialismus nicht ent-<br />

spricht.. .<br />

Wir wissen nicht alles über die Gesellschaft, <strong>der</strong> wir entge-<br />

gen gehen. Wir wissen aber, daß dies die Gesellschaft einer<br />

breiten Demokratie, <strong>der</strong> gesamtmenschlichen Werte sein<br />

wird, eine Gesellschaft, <strong>der</strong>en Hauptsache darin bestehen<br />

wird, den werktätigen Menschen alle Möglichkeiten zu<br />

gewähren. Es wird eine Gesellschaft <strong>der</strong> Volksmacht sein . ..<br />

Wenn wir mit unseren Aufgaben und Problemen fertig<br />

werden und die Ziele erreichen, so wird dies nicht nur für<br />

unser Volk ein Vorteil sein, son<strong>der</strong>n für alle Völker <strong>der</strong><br />

Welt.. .<br />

Wir haben eine gewaltige Sympathie gespürt. Ich würde<br />

sagen, eine Bewegung <strong>der</strong> Seele, den Wunsch, einan<strong>der</strong><br />

entgegenzukommen, noch weiter und stärker zusammenzu-<br />

arbeiten, einan<strong>der</strong> mehr zu vertrauen, zusammen für die<br />

bessere Welt zu kämpfen.. .<br />

Sie als Metallarbeiter und Hüttenwerker wissen, wie<br />

schwer es ist, Stahl zu produzieren. Welcher Meisterschaft,<br />

welcher Arbeit und welchen Schweißes das bedarf. Bessere<br />

Beziehungen aufzubauen und diese in das Gleis <strong>der</strong> besseren<br />

Zusammenarbeit zu bringen, das ist eine noch kompliziertere<br />

Sache. Aber ein Arbeiter weiß Bescheid. Er weiß, daß alles<br />

durch Arbeit geschaffen wird, daß alles auf ihr ruht.«<br />

Immer wie<strong>der</strong> wurde er in den Redepausen durch tosenden<br />

Beifall und »Gorbi«-Rufen unterbrochen. Zum Abschluß<br />

gab es minutenlange, stehende Ovationen, rhytmisches<br />

Helmeschwenken und immer wie<strong>der</strong> mGorbi~-Sprechchöre.<br />

Dann wurde vom Hoesch-Chef Rohwed<strong>der</strong> geschickt ver-<br />

hin<strong>der</strong>t, daß Gorbatschow noch einmal direkt zu den Hoesch-<br />

Kollegen gehen konnte. Er präsentierte ein Geschenk, eine<br />

Miniaturausgabe eines Abstimmungscomputers für den<br />

Obersten Sowjet, den Hoesch demnächst liefern soll.<br />

Dadurch war das Protokoll gänzlich durcheinan<strong>der</strong>. Gorbat-<br />

schow hatte mit seiner Rede ohnehin schon überzogen.<br />

Damit wurde auch <strong>der</strong> Auftritt des Hoesch-Vertrauensleute-<br />

Chors, <strong>der</strong> eigentlich zum Abschluß Arbeiterlie<strong>der</strong> singen<br />

sollte, gestrichen.<br />

Im Grunde war es aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> herrschenden Politiker<br />

und Unternehmer nun auch zuviel des Guten und das Eingreifen<br />

von Rohwed<strong>der</strong> deshalb nur konsequent. Ersteinmal,<br />

weil es hier eine Belegschaft geschafft hatte, den obersten<br />

Repräsentanten des »Vaterlandes aller Werktätigen. (Westf.<br />

Rundschau) durch jahrelange Eigeninitiative für einen<br />

Besuch vor Arbeitern und Angestellten von Hoesch zu<br />

gewinnen. Das war bislang einmalig bei den Besuchen von<br />

Gorbatschow im Westen. Die Bundesregierung mußte hier<br />

zähneknirschend zustimmen.<br />

Die Betriebsräte standen zum Leidvon Rohwed<strong>der</strong> bei <strong>der</strong><br />

Organiation des Besuches eindeutig im Vor<strong>der</strong>grund.<br />

Damit wurde zugleich den Herrschenden des Westens<br />

deutlich gemacht, daß <strong>der</strong> »Diplomatie von unten« ein<br />

ähnlicher Stellenwert von <strong>der</strong> Sowjetunion eingeräumt<br />

wurde, wie <strong>der</strong> »großen« Politik. Nicht ohne Grund wurde <strong>der</strong><br />

Hoesch-Besuch auch direkt vom sowjetischen Fernsehen für<br />

die sowjetische Bevölkerung übertragen.<br />

Wenn Arbeiter konsequent und zielbewußt in die Politik<br />

eingreifen, können sie die Politik in ihrem Sinne mitbeeinflussen.<br />

Und das wurde von den Sowjets honoriert. Das hat<br />

aber auch die Herrschenden zum Nachdenken gebracht. ~ aoi)<br />

drückten auch die ersten Stellungnahmen im westlichen<br />

Ausland aus. So sahen französische Journalisten in <strong>der</strong> breiten<br />

Zustimmung aus <strong>der</strong> bundesdeutschen Bevölkerung für<br />

Gorbatschow eine Unzufriedenheit mit dem bestehenden<br />

System und eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Und die<br />

Amerikaner stellten sich die Frage, was mit <strong>der</strong> Bevölkerung<br />

<strong>der</strong> BRD los sei, wenn sie laut Umfrage 90 % Zustimmung für<br />

Gorbatschow ausdrückt, er selbst aber im eigenen Land<br />

nicht eine annährend hohe Zustimmung genießt.<br />

Zum an<strong>der</strong>en hatte Gorbatschow in seiner Rede einige<br />

klare Aussagen zur Weiterentwicklung des Sozialismus und<br />

zur Rolle <strong>der</strong> Arbeiterschaft eemacht. " Dabei war in den<br />

Gesichtern <strong>der</strong> anwesenden Prominenz Unwohlsein und<br />

Mißbilligung zu sehen. Lambsdorff (FDP) und Biedenkopf<br />

(CDU) waren ohnehin bereits bei <strong>der</strong> Begrüßung mit Pfiffen<br />

von <strong>der</strong> Belegschaft bedacht worden.<br />

Diese Angst bei den Politikern, daß sich einige Aussagen<br />

Gorbatschows in den Köpfen <strong>der</strong> Arbeiter festsetzen könnten,<br />

wurde beson<strong>der</strong>s an <strong>der</strong> Stelle deutlich, als er sagte:<br />

»Gleichgültig, welche Meinung die Politiker o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Repräsentanten <strong>der</strong> Gesellschaft von sich haben: Letzten 3<br />

Endes ist <strong>der</strong> Grundstein je<strong>der</strong> Gesellschaft <strong>der</strong> arbeitende<br />

Mensch«.<br />

Haben doch die anwesenden sozialdemokratischen Politiker<br />

diese Position schon längst verdrängt. Auch <strong>der</strong> Sozialismus<br />

wurde doch von ihnen bereits zu den Akten gelegt.<br />

Ihre Aufgabe war es doch, die Arbeiter von diesem Weg<br />

abzubringen und an die .Freiheit und Demokratie« des<br />

Kapitalismus zu binden. Und nun kommt ein Staatspräsident<br />

her und bringt das wie<strong>der</strong> in die Köpfe <strong>der</strong> Arbeiter.<br />

Sie mußten von dieser Brisanz etwas geahnt haben, hatte<br />

sich die Staatskanzlei NRW doch die Rede vom Gesamtbetriebsratsvorsitzenden<br />

vorher zur Einsicht vorlegen lassen.<br />

Ob sich deshalb auch <strong>der</strong> IG Metall-Vorstand nicht zu<br />

Hoesch traute und trotz Einladung nur einen Vertreter des<br />

Düsseldorfer Zweigbüros schickte? Denn bereits Anfang<br />

1988 hatte Steinkühler deutlich gemacht, daß er von dem<br />

eigenständigen Vorgehen <strong>der</strong> Stahlbetriebsräte nichts halte<br />

(vergl. auch ARPO Nr. 3/88).<br />

Nun besteht durch den Gorbatschow-Besuch für die Herrschenden<br />

nicht unmittelbar die Gefahr, daß die Hoesch-Belegschaft<br />

mit »fliegenden Fahnen« zum Sozialismus überläuft.<br />

Die überwiegend noch sozialdemokratisch denkende<br />

Belegschaft drückte das beson<strong>der</strong>s an den Punkten aus, als<br />

Gorbatschow als Väter <strong>der</strong> neuen Entspannungspolitik Willy<br />

Brandt und Helmut Schmidt benannte. Ebenso als Minister-

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