08.01.2013 Aufrufe

30. Jahrgang Nummer 4/5 - 30.07.1989 - der Gruppe Arbeiterpolitik

30. Jahrgang Nummer 4/5 - 30.07.1989 - der Gruppe Arbeiterpolitik

30. Jahrgang Nummer 4/5 - 30.07.1989 - der Gruppe Arbeiterpolitik

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

war es, kalt, und was taten die verfluchten Seki? Verkrochen<br />

sich in diesem Blockhaus, zwischen den Balken und <strong>der</strong><br />

Turbine und zündeten dort ein Feuer an. Die Silberlötung <strong>der</strong><br />

Flügel ging ab, und die Turbine kam auf den Mist. Hat drei<br />

Millionensiebenhun<strong>der</strong>ttausend gekostet. Da bemüh' dich<br />

ums Rentabilität~prinzip!.~~<br />

Die politische Konfrontation konnte in den Lagern klarer<br />

werden als »draußen«. Die verschiedenen Richtungen und<br />

Fraktionen organisieren sich: von den antikommunistischen<br />

Sozialrevolutionären, die von Irina Ginsburg, weil linientreue<br />

Kommunistin, nicht einmal eine Zigarette annehmen, über<br />

Trotzkisten, die Hungerstreiks organisieren, bis zu Stalinan-<br />

hängern, die für die Planerfüllung des Lagers eintreten. Gins-<br />

burg erzählt von einer Freundin, die aus ihrer Einzelzelle<br />

einen Brief an Stalin richtet, <strong>der</strong> mit den Worten begann<br />

~Stalin, meine goldene Sonne! Und wenn <strong>der</strong> Tod mich<br />

erwartet, will ich wie eine Blume sterben, auf dem Weg<br />

meiner Heimat vergehen.. .« »Schwarzu und »rosa« dicht<br />

nebeneinan<strong>der</strong>.<br />

Nach verbüßter Lagerhaft hält meistens Verbannung die<br />

politischen Häftlinge von den Zentren fern (eine Strafart, die<br />

jetzt beseitigt wird). Als Solschenizyn entlassen wird und am<br />

Verbannungsort eintrifft, stellt er überrascht fest, daß sein<br />

Leben und das vieler Bauern auch nicht besser ist als das im<br />

Lager.<br />

Zum Schluß sei noch einmal Kopelew zitiert mit seinem<br />

Versuch einer Zusammenfassung seiner Erfahrungen:<br />

»I. Millionen Menschen waren überzeugt, daß unser Land<br />

eine einsame, von Todfeinden belagerte Festung sei; daher<br />

hielten sie eine maximale Zentralisierung gepaart mit eiser-<br />

ner Disziplin für notwendig und berechtigt.<br />

2. Die Folgen des industriellen und kulturellen Aufbaus<br />

zeichneten sich auf dem Hintergrund <strong>der</strong> Weltwirtschafts-<br />

krise und des erstarkenden Faschismus beson<strong>der</strong>s deutlich<br />

26 Lew Kopelew. Verbietet die Verbote!. Hamburg 1977<br />

Zum 1. Mai '89 in Berlin:<br />

ab und dienten jenen als Argument, die behaupteten, alle<br />

Nöte und Entbehrungen seien nur zufällige Mängel o<strong>der</strong> die<br />

Folge von Sabotage, alle Errungenschaften hingegen das<br />

Ergebnis <strong>der</strong> genialen Führung durch die 'Koryphäe aller<br />

Wissenschaften'.<br />

3. Das allgemeine Vertrauen zur Presse und zum Staatsappa-<br />

rat - vor allem aber auch zum Staatssicherheitsdienst, zur<br />

Staatsanwaltschaft und zu den Gerichten - war so groß, daß<br />

die meisten Menschen ihre eigene Erfahrung und ihre eige-<br />

nen Zweifel selbst dann zurückdrängten, als Helden und<br />

Führer von gestern über Nacht zu Verrätern, Spionen, Fein-<br />

den des Volkes deklariert wurden, als die Geschichte hem-<br />

mungslos umgekrempelt wurde, als Stalin Heldentaten zuge-<br />

sprochen wurden, die er niemals begangen hatte, undseinen<br />

Gegnern Verbrechen, <strong>der</strong>en sie nicht schuldig waren. Das<br />

blinde Vertrauen wurde untermauert durch die Massenver-<br />

folgungen, die in den einen Angst und Furcht hervorriefen<br />

und in den an<strong>der</strong>en den Glauben bestärkten, daß die hinter-<br />

listigen Feinde allgegenwärtig seien und folglich jedes<br />

Schwanken, je<strong>der</strong> Zweifel an <strong>der</strong> Richtigkeit Stalinscher<br />

Worte und Taten, ja sogar eine zu milde Abrechnung mit<br />

Schwankenden und Zweifelnden eine direkte Unterstützung<br />

des Feindes bedeute.<br />

4. Während des Krieges und nach dem Krieg erfuhren alle,<br />

diese objektiven und subjektiven Voraussetzungen eine -<br />

sagen wir - natürliche wie auch künstlich geschaffene<br />

Bestätigung.. .P<br />

Kopelew ist <strong>der</strong> beste Zeuge für die wirkliche Entwicklung,<br />

die er selber miterlebte, denn er steht in politischem Gegen-<br />

satz zum Kommunismus. Aber er kann den gesellschaftli-<br />

chen Prozeß nicht erklären: das Auskämpfen <strong>der</strong> Klasseri,.ri-<br />

<strong>der</strong>sprüche im Innern <strong>der</strong> SU, <strong>der</strong> vom Imperialismus bela-<br />

gerten Festung. Die Säuberungen waren ein Prozeß, mit dem<br />

die auseinan<strong>der</strong>strebenden Kräfte im Innern des Landes, ja<br />

auch <strong>der</strong> Partei, mit Zwangsgewalt zusammengehalten wur-<br />

den - um dem Druck von außen standzuhalten.<br />

Fortsetzung folgt<br />

Der Kriminalisierung durch den Staat entgegentreten<br />

Wie schon die Auseinan<strong>der</strong>setzungen vor zwei Jahren,<br />

riefen die diesjährigen Straßenschlachten, die sich ein Teil<br />

<strong>der</strong> autonomen Bewegung und Kreuzberger Jugendliche mit<br />

<strong>der</strong> Polizei lieferten, ein breites Echo in den Medien und<br />

unter den Vertretern <strong>der</strong> Parteien hervor. Doch im Gegensatz<br />

zum 1. Mai 1987, wo sich in den Chor <strong>der</strong> Verurteilungen<br />

noch die Stimmen mischten, die für »Verständnis. warben<br />

und nach den Ursachen suchten, sind sich diesmal fast alle<br />

Kommentatoren in ihrer Distanzierung von <strong>der</strong> »Gewalt«<br />

einig - von den »Kriegsberichterstattern« <strong>der</strong> »BZ« bis hin<br />

zu Journalisten <strong>der</strong> .taz«. Nur über die Rolle <strong>der</strong> Senatspolitik<br />

ist ein heftiger Streit zwischen den Parteien entbrannt, mit<br />

umgekehrtem Vorzeichen.<br />

Am 2. Mai meldete die »BZ« in großer Aufmachung: »Berlin<br />

kapituliert vor dem Straßenterror!~ CDU und FDP schlugen<br />

in die gleiche Kerbe. Für sie war das rot-grüne »Chaos«,<br />

das sie während <strong>der</strong> Koalitionsverhandlungen an die Wand<br />

gemalt hatten, Realität geworden.<br />

Wie lächerlich und vor<strong>der</strong>gründig die Polemik von<br />

CDU/FDP ist, machen die Erfahrungen während ihrer - im<br />

Januar abgewählten - Koalition deutlich. Sie konnte durch<br />

Aufrüstung <strong>der</strong> Polizei und mit »Hau-drauf-Politik* ähnliche<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzungen auch nicht verhin<strong>der</strong>n. »Und zwischen<br />

22 und 2 Uhr trat in dieser Nacht das Schlimmste ein,<br />

was überhaupt passieren konnte. Die Staatsgewalt, die Polizei,<br />

meldete sich aus dem Gebiet <strong>der</strong> Barrikaden, <strong>der</strong> Brände<br />

und Plün<strong>der</strong>ungen ab. Das Gewaltmonopol und die Ord-<br />

32<br />

nungskraft des Staates waren schlichtweg nicht mehr vor- ,<br />

handen. Das Wertesystem unserer Gesellschaft brach wie ein<br />

Kartenhaus zusammen.« (Originalton Oppositionsführer<br />

Walter Momper im Mai 1987 an den damaligen CDU-Innen-<br />

Senator Kewenig).<br />

Rot/Grün und <strong>der</strong> 1. Mai<br />

Die Vertreter <strong>der</strong> neuen SPDIAL-Koalition machen vor<br />

allem die linken Gegner des rot-grünen Bündnisses für die<br />

Auseinan<strong>der</strong>setzungen verantwortlich. Innensenator Pätzold<br />

erklärte vor <strong>der</strong> Presse, die Ausschreitungen seien ein gezielter<br />

Angriff auf diesen Senat, »mehr auf grün als auf rot..<br />

Christian Ströbele (AL) in einem Interview: »lm Unterschied<br />

zu den vergangenen Jahren ist an diesem I. Mai ganz<br />

bewußt versucht worden, den Staat und die Repräsentanten<br />

des Staates, also Rot-Grün, herauszufor<strong>der</strong>n, zu zeigen, daß<br />

dieser Senat keine Perspektive hat und grundsätzlich nichts<br />

an<strong>der</strong>es ist, als <strong>der</strong> Vorherige von CDU/FDP.« (taz vom 4.5.<br />

89).<br />

Wie kurz doch das Gedächtnis eines Repräsentanten werden<br />

kann: Für viele, die vor zwei Jahren im Stadtteil SO 36<br />

auf die Straße gingen, war es ein Protest gegen die Vertreter<br />

<strong>der</strong> herrschenden Ordnung und ihre politischen Gäste (z. B.<br />

Reagan-Besuch), die sich zur Jubelfeier des Westberliner<br />

Senats versammelt hatten. Den Beweis, daß Rot-Grün grundsätzlich<br />

etwas an<strong>der</strong>es ist als CDU/FDP, den Beweis hat <strong>der</strong><br />

neue Senat noch nicht geliefert.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!