Rufmord klassisch - Leben und Werk des Dichters Gottfried August ...
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Weiber lasen sie, <strong>und</strong> lernten Stellen davon auswendig. Ich bin mehr wie einmal Zeuge<br />
gewesen, daß beim Spieltisch die Damen den Almanach aus der Tasche gekriegt, <strong>und</strong> die<br />
Leonore laut gelesen haben. Die Karten wurden bei Seite gelegt <strong>und</strong> von anderen<br />
Spieltischen stand man auf <strong>und</strong> horchte zu. Das ist so unerhöret als – als – als wenn Sie in<br />
der ersten Nacht nicht ihre Pflichten ausgeübt hätten.“ 27 Auf die weite Verbreitung der<br />
Lenore wird in Sulzers Allgemeine Theorie der schönen Künste von 1806<br />
hingewiesen: „Diese so lebendige <strong>und</strong> doch so allgemein faßliche, so poetische <strong>und</strong> doch<br />
Jedermann ansprechende Ballade begeisterte, man darf es ohne Uebertreibung sagen, halb<br />
Deutschland <strong>und</strong> ergriff Alt <strong>und</strong> Jung, Gebildete <strong>und</strong> Ungebildete, Vornehme <strong>und</strong> Gemeine<br />
mit gleicher Gewalt. Der Ruhm <strong>des</strong> <strong>Dichters</strong> war auf einmahl gegründet <strong>und</strong> das Glück der<br />
Gattung durch Lenoren gemacht.“ 28<br />
Ähnlich urteilt Friedrich Bouterwek 1819: „Als seine Ballade Lenore in dem Musenalmanache<br />
zum ersten Male gedruckt erschienen war, hatte sie das Publicum in einem<br />
Grade bezaubert, wie außer Göthe´ns Werther <strong>und</strong> Götz kein neues <strong>Werk</strong> eines deutschen<br />
<strong>Dichters</strong>. Auch die Engländer nahmen dieses Gedicht wie den Werther auf, bew<strong>und</strong>erten es<br />
<strong>und</strong> ahmten es nach. In Deutschland wurde es von so Vielen auswendig gelernt, daß es sich<br />
durch die Tradition hätte erhalten können, wenn es aus der Litteratur verschw<strong>und</strong>en wäre.“ 29<br />
Goethes Musikerfre<strong>und</strong> Carl Friedrich Zelter bestätigt in einem Brief an Goethe<br />
sogar, dass die Lenore in Berlin als Gassenhauer gesungen wurde: „ Habe ich an der<br />
Offenheit <strong>und</strong> Derbheit seiner [Bürgers] geistaufregenden Poesien mit so vielen seiner Verehrer<br />
warmen Antheil genommen, so weiß ich nicht wie es zugegangen daß mich nie eins<br />
seiner Gedichte zu freywilliger Bearbeitung animirt hat, dahingegen Schulz, Reichardt, André<br />
u.A. sich mit Beyfall daran versucht haben. [...] Die allberühmte unliebenswürdige Leonore,<br />
an die er so viel Fleiß gewendet hat, war mir jedoch ein Greuel, so wie die Composition<br />
<strong>des</strong> alten André, welche, Hop hop im Galopp durch alle Straßen Berlins ritt.“ 30<br />
Anders wertet Georg Weber 1852: „Bürger besaß alle Gaben eines Volksdichters; er erfaßte<br />
die deutsche Natur mit richtigem Takte, daher seine lyrischen Gedichte, worin niedrig<br />
Komisches mit innig Gefühlvollem verb<strong>und</strong>en erscheint, großen Anklang fanden. Am ausgezeichnetsten<br />
<strong>und</strong> bekanntesten sind seine nach schottischen Vorbildern verfaßten <strong>und</strong><br />
zum Theil deutschen Volkssagen entlehnten Balladen <strong>und</strong> Romanzen, in welchen die Einfachheit,<br />
Kraft <strong>und</strong> phantasievolle <strong>Leben</strong>digkeit mächtig ergreifen <strong>und</strong> hinreißen. Durch diese<br />
wurde er der Liebling <strong>des</strong> Volkes, so hart auch Schiller über ihn urtheilte, durch seine Lenore<br />
gewann er die ganze Nation, <strong>und</strong> sein wilder Jäger, <strong>des</strong> Pfarrers Tochter von Taubenhain,<br />
der Kaiser <strong>und</strong> der Abt, das Lied vom braven Mann, Frau Magdalis u.a. sind noch<br />
jetzt im Volke bekannter als die meisten neueren Gedichte.“ 31<br />
Instruktiv ist auch der Vergleich von Schillers <strong>und</strong> Bürgers Popularität durch <strong>August</strong><br />
Nodnagel 1845: „Sowie aber jene alten Mythen diesen Zweck fördern, so dienen ferner<br />
die deutschen Volkssagen zum Verständniß der vaterländischen Dichter, das selbst in<br />
den niedrigsten Land- <strong>und</strong> Bürgerschulen wenigstens einigermaßen beachtet werden muß,<br />
weil unsere größten Dichter, z. B. Schiller, Bürger u.s.w. durch die wohlfeilen Ausgaben<br />
auch in Häuser Eingang fanden, wo man sie sonst nicht erwartet hätte. Wie will man ohne<br />
Sagenkenntniß den Toggenburg, Alpenjäger, Gang nach dem Eisenhammer, Taucher u.a.<br />
verstehen? Oder die dem Volke noch bekanntern Dichtungen Bürgers: Lenore, der wilde Jäger,<br />
die Weiber von Weinsperg u.a.?“ 32<br />
Der Bürger durchaus kritisch gesinnte Heinrich Pröhle berichtet 1856: „Bürgers Le-<br />
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G.A. Bürger-Archiv