Rufmord klassisch - Leben und Werk des Dichters Gottfried August ...
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hört der Höhenschwung der Seele: bei keinem Deutschen Dichter finden wir eine stärkere<br />
Beflügelung <strong>des</strong> überirdischen Empfindens als bei Schiller. [...] Schillers Persönlichkeit hat<br />
der Deutschen Seele einen erhöhten Adel verliehen, <strong>und</strong> jede Beschäftigung mit ihm wirkt<br />
als tiefbildende Erziehung. Geist vom Geiste Schillers lebt seit seinem Wirken in allen<br />
wahrhaften Großtaten Deutschlands. Käme je ein Tag, an dem sich das Deutsche Volk von<br />
Schiller abkehrte, so würde sich die Menschheit vom Deutschen Volk abkehren.“ 5 Bürger<br />
betraf das insofern, als Schiller 1791 ihn in der ALZ 6 moralisch hinrichtete, ihm den<br />
Titel eines Volksdichters abgesprochen <strong>und</strong> die Lenore als kindisch bezeichnet hatte,<br />
die nur der Beifall <strong>des</strong> großen Haufens durchgebracht habe. Dieser Meinung konnten<br />
sich dann Autoren von Literaturgeschichten ohne eigenes Nachdenken anschließen.<br />
Aber auch das in Marmor bzw. Stein geprägte Andenken an den Dichter hat kein<br />
besseres Schicksal erfahren. Die Marmorstatue der Lenore (Die Verzweiflung) von<br />
Rudolf Pohle, 1900 in der Schloßstrasse in Charlottenburg aufgestellt, dann in den<br />
Lietzenseepark verbracht, hat wohl den 2. Weltkrieg überstanden, kann aber nicht<br />
aufgef<strong>und</strong>en werden. Die Interesselosigkeit an unserm Dichter zeigt sich wohl am<br />
besten an seinem Geburtshaus, dem ehemaligen Pfarrhaus in Molmerswende -<br />
dem einzigen Museum in Deutschland für einen seiner bedeutendsten Dichter.<br />
Lichtblick ist eine Bürger-Biographie aus dem Jahre 1995 von Helmut Scherer<br />
(Berlin) 7 . Hier erhält man einen ungeschminkten <strong>und</strong> vor allem auf penibel<br />
recherchierten Fakten beruhenden Einblick in das wenig glückliche <strong>Leben</strong> <strong>des</strong><br />
<strong>Dichters</strong>. Die letzte, von Gunter E. Grimm herausgegebene Gedichtausgabe aus dem<br />
Jahre 1997 8 ist nur aus zwei Gründen erwähnenswert: wegen der ungewöhnlichen<br />
Zahl von sachlichen Fehlern 9 <strong>und</strong> durch einen moralischen Standpunkt, über den sich<br />
schon Bürgers Fre<strong>und</strong> Heinrich Christian Boie lustig gemacht hatte. Problematisch ist<br />
auch die aktuelle <strong>Werk</strong>ausgabe Bürgers 10 . Schon die Kenntnis von <strong>August</strong> Wilhelm<br />
Schlegels Über Bürgers <strong>Werk</strong>e von 1801 11 <strong>und</strong> beliebiger Literaturgeschichten aus der<br />
1. Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zeigen, dass die dort vertretene Einschätzung falsch ist:<br />
„Daß Bürger die unteren sozialen Schichten weder direkt als Leser ansprach noch erreichte,<br />
versteht sich schon aus den sozialgeschichtlichen Verhältnissen <strong>des</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>erts: Die<br />
geringe Lesefähigkeit der Bevölkerung, die Höhe der Buchpreise, die Bucherwerb <strong>und</strong><br />
-besitz erschwerte, die mangelnde Gelegenheit der Angehörigen der unteren sozialen<br />
Schichten, überhaupt mit Büchern in Berührung zu kommen, machten einen solchen<br />
direkten Kontakt zwischen Autor <strong>und</strong> Rezipienten unmöglich.“ 12 Bürger hat sogar selbst<br />
die Berufsgruppen genannt, für die er (auch) schreibt.<br />
Bei jeder Beschäftigung mit Bürger ist zu berücksichtigen, dass in den Literaturgeschichten<br />
mit wenigen Ausnahmen die Bedürfnisse <strong>des</strong> Lesepublikums keine Rolle<br />
spielen, es handelt sich vorwiegend um Literatur für Literaten oder Wissenschaftler;<br />
zudem werden die Literaturgeschichten bis weit in die zweite Hälfte <strong>des</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
einseitig von Schiller <strong>und</strong> Goethe dominiert, Informationen über Bürger, sein<br />
Wirken <strong>und</strong> sein Publikum wird man dort nur schwer, oder aber mit Schillerscher<br />
Tendenz, finden. Um die Entwicklung der Bürger-Rezeption verstehen zu können, ist<br />
ein kurzer Ausflug in die deutsche Klassik unverzichtbar, nur dadurch kann nachvollzogen<br />
werden, wie ein in allen Bevölkerungskreisen einmal hochgeschätzter Autor<br />
auf ein einziges <strong>Werk</strong> reduziert werden konnte.<br />
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G.A. Bürger-Archiv