Rufmord klassisch - Leben und Werk des Dichters Gottfried August ...
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Bürgers Liebeslyrik<br />
Die wohl gravierendste Folge der Übernahme <strong>des</strong> Schillerschen Standpunktes durch<br />
die deutsche Germanistik ist die Verdrängung <strong>des</strong> Lyrikers Bürger. Im 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert wurde seine Lyrik mit den Balladen auf gleicher Ebene betrachtet,<br />
Bürger als bedeutendster Lyriker nach Goethe genannt. Schiller hat sich jedoch<br />
durchgesetzt, wenn man Walter Müller-Seidels Ausführungen folgt: „Es gibt in<br />
Bürgers Lyrik sehr viel Unvollkommenes <strong>und</strong> Unfertiges, <strong>und</strong> es fällt nicht einmal leicht,<br />
die vollkommenen Gedichte zu bezeichnen, die man ohne Vorbehalt in unsere beliebten<br />
Blütenlesen aufnehmen darf - in jene, die bemüht sind, jeweils das Beste vom Besten zu<br />
bringen. Das trifft in erster Linie für die reine Lyrik zu, aber mit der Ballade verhält es sich<br />
nicht wesentlich anders. In einer Auswahl aus neuerer Zeit ist einzig die Lenore vertreten,<br />
<strong>und</strong> wer eine derart bescheidene Auswahl ungerecht findet, muß begründen, warum er<br />
anderes vermißt. Die guten Gedichte Bürgers sind nicht so zahlreich, wie diejenigen<br />
vorgeben, die den großen Dichter manchmal mit allzu bewegten Worten vor dem abstrakten<br />
Theoretiker in Schutz nehmen - als sei Theorie eine Sünde wider den Geist der Poesie.“ 54<br />
Was Müller-Seidel Bürger insbesondere vorwirft, ist die zu enge Bindung an das<br />
tatsächliche <strong>Leben</strong> – für Schiller war das die fehlende Idealisierung: „Die Annäherung<br />
an das <strong>Leben</strong> wird wie im Falle Bürgers sichtbar als künstlerischer Verlust. Sie wird sichtbar<br />
als ein nicht mehr Geformtes; denn man kann gerade aus diesem Gr<strong>und</strong> unmöglich alles das<br />
als Lyrik gelten lassen, was Bürger mit dieser Sammlung seinen Zeitgenossen übergab. Man<br />
kann nicht so unbesehen hinnehmen, was Schiller an einem Gedicht wie der Elegie, als<br />
Molly sich losreißen wollte getadelt hat.“ 55 Allerdings hat dem Lesepublikum <strong>des</strong> 18.<br />
<strong>und</strong> <strong>des</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts diese Idealisierung keineswegs gefehlt, wenn auch Julius<br />
Tittmann, der 1869 Bürgers Gedichte herausgab, die zu scharf hervortretende<br />
Individualität bemängelte: „Den Vorwurf Schiller´s, daß in Bürger´s lyrischen Gedichten<br />
die von ihren Schlacken nicht befreite Individualität <strong>des</strong> Verfassers hervortrete, haben wir<br />
noch zu erweitern: die volksthümliche Dichtung soll das subjektive Wesen überall nicht<br />
verrathen, der Dichter eines ´Volkslie<strong>des</strong>´ tritt so sehr zurück, daß nicht einmal sein Name<br />
aufbewahrt bleibt. Die ´Popularität´ der bessern lyrischen Gedichte Bürger´s liegt eben im<br />
demjenigen, was Schiller vermißte, im Mangel idealisirter Empfindungen; in ihnen spricht<br />
das rein Menschliche derselben mit seinen Fehlern, Schwächen <strong>und</strong> Verirrungen, dem<br />
Erbtheil aller Sterblichen, allgemein an, da es an eigene innere Erlebnisse anklingt. Die<br />
Erhebung, welche nur durch die reine Darstellung <strong>des</strong> Schönen erreicht wird, werden sie<br />
nimmermehr weder dem Geiste noch dem Herzen bringen. Bürger´s <strong>Leben</strong> entbehrt aller<br />
wirklich poetischen Conflicte, sein Geschick war nicht tragisch, sondern beklagenswerth.<br />
Auch in der Liebe zu Molly liegt kein tragisches Moment; die subjective Willkür hatte über<br />
den geregelten Gang <strong>des</strong> bürgerlichen <strong>Leben</strong>s gesiegt, Bürger genoß ohne Kampf, <strong>und</strong> nur<br />
das allgemeine Menschengeschick raubte ihm diesen Genuß.“ 56 Gerade das Menschliche<br />
interessierte jedoch das Publikum! Johann Leonhard Hoffmann empfindet 1849<br />
gerade das als Vorzug: „Insbesondere gelingen ihm diejenigen Lieder, wie kaum einem<br />
andern Dichter, in welchen die Tändeleien der Liebe sich aussprechen; hier ist so<br />
unmittelbare Wahrheit der Empfindung, so ungekünsteltes Gefühl, so natürlicher Ausdruck,<br />
daß sie Jeder mitempfindet <strong>und</strong> meint er, würde sich in gleicher Lage ungefähr eben so<br />
aussprechen. Diese Lieder, sieht man, sind der Wirklichkeit nach gedichtet, sind keine<br />
18<br />
G.A. Bürger-Archiv